Seit Beginn des Genozids in Gaza lebt die Welt in Bildern des Grauens. Rauch über zerbombten Häusern, Leichen unter Trümmern, Schreie, die im Staub verstummen. Mehr als 67.000 Palästinenser wurden durch israelische Bomben ermordet, über 100.000 verletzt. Ganze Stadtviertel sind ausgelöscht.
Hinter jeder Zahl steht ein Mensch, ein Gesicht, ein Name, eine Geschichte, die nie wieder erzählt werden kann. Auch hier, in Deutschland, tragen wir diese Verluste mit uns. Wir verlieren Angehörige, Freunde, Nachbarn und wir verlieren sie im Schweigen. Wer trauert, riskiert Verdacht. Wer Wut zeigt, gilt als gefährlich. Wer spricht, steht unter Beobachtung. Zwischen diesen Extremen wächst eine Generation auf: mit dem Gefühl, dass sie ihre eigene Identität nicht vollständig leben darf, dass ihre Geschichte nur als Problem gesehen wird, nicht als Menschlichkeit.
Erinnerungskultur – Nur für manche
Deutschland nennt sich gern das Land der Erinnerung. Doch das Gedenken, das hier so feierlich verteidigt wird, hat Grenzen. Es endet dort, wo palästinensisches Leid beginnt. Während in Gaza Familien ausgelöscht werden, erleben Palästinenser in Deutschland, wie ihr Schmerz ignoriert, ihre Perspektive ausgeblendet, ihre Existenz politisiert wird. Das Land, das sich moralisch der Menschlichkeit verschrieben hat, versagt genau dort, wo sie gefordert wäre. Statt Mitgefühl gibt es Misstrauen. Statt Anteilnahme Kontrolle.
In Schulen taucht die Nakba, die gewaltsame Vertreibung Hunderttausender Palästinenser und die Ermordung tausender durch israelische Milizen im Jahr 1948, im besten Fall als Randnotiz auf. Im Geschichtsunterricht wird der „Nahostkonflikt“ oft nur verkürzt und einseitig dargestellt. Die Vertreibung, Enteignung und die langfristigen Folgen für die palästinensische Bevölkerung bleiben meist unthematisiert. In den Medien erscheint sie, wenn überhaupt, als Randnotiz. Unsere Geschichte bleibt unsichtbar. Wer sie erwähnt, riskiert Stigmatisierung. So wird Erinnerung selektiv: Sie dient nicht der Wahrheit, sondern der politischen Loyalität. Palästinensisches Leid passt nicht in die deutsche Erzählung von Verantwortung und wird deshalb verschwiegen.
Trauer – Nur für die richtigen Toten
Die deutsche Haltung gegenüber Jüdinnen und Juden ist geprägt von Schuld an dem schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Verantwortung für die eigenen Verbrechen zu übernehmen ist richtig und notwendig, die daraus gezogenen Konsequenzen sind es nicht. Statt sich für universelle Menschenrechte immer und überall starkzumachen, hat man sich der bedingungslosen Treue verpflichtet. Das Ergebnis ist ein moralisches Versagen: Ein Staat, der sich auf universelle Menschenrechte beruft, rechtfertigt Schweigen, wenn Palästinenser ermordet werden. Ein Land, das Erinnerung als Mahnung versteht, kriminalisiert Trauer, wenn sie die falschen Toten betrifft. Demonstrationen werden verboten, Stimmen zensiert, Symbole verboten. Palästinenser in Deutschland erleben, dass ihr Schmerz geprüft wird, bevor er gehört wird. Dass sie sich erklären müssen, um trauern zu dürfen. Dass ihre Menschlichkeit an Bedingungen geknüpft ist.
Schweigen und Empathielosigkeit
Viele Eltern der ersten Generation haben aus Angst geschwiegen. Sie wollten ihre Kinder schützen vor Diskriminierung, vor Misstrauen, vor dem Gefühl, immer im falschen Land zu leben. Doch Schweigen schützt nicht. Es entfremdet. Ich kenne Jugendliche, die in der Schule lieber schweigen, wenn es um Politik oder den Nahostkonflikt geht. Eine Freundin erzählt mir, wie sie ihre Herkunft vor Lehrern verheimlicht, um nicht als „pro-palästinensisch“ abgestempelt zu werden. Ein Bekannter erzählt, dass er seine Wut über den Krieg in Gaza nur nachts mit seinen Geschwistern teilt, weil er Angst hat, dass andere sie missverstehen. Auch im Freundeskreis oder auf sozialen Medien entsteht Selbstzensur. Wer öffentlich trauert oder seine Meinung äußert, wird sofort bewertet. Die ständige Sorge, die falschen Worte zu sagen, trennt uns von Gleichaltrigen. Wir fühlen uns unverstanden, isoliert, fremd, selbst in einem Land, in dem wir aufgewachsen sind. Wenn Kinder in Gaza ermordet werden, wenn ganze Familien ausgelöscht werden, schweigt die deutsche Politik oder spricht von „Selbstverteidigung“.
Kein Wort über jahrzehntelange israelische Besatzung, Blockade, Enteignung. Kein Raum für Empathie für jene, deren Leben nichts mehr wert zu sein scheint. Deutschland verwechselt Solidarität mit Parteinahme. Es hat aus seiner Schuld eine politische Doktrin gemacht. Doch wer Schuld instrumentalisiert, um Unrecht zu rechtfertigen, verliert die moralische Autorität, die er zu bewahren glaubt. Eine Erinnerungskultur, die nur bestimmten Opfern Raum gibt, ist keine Erinnerung, sie ist Verdrängung in neuem Gewand.
Junge Generation, die spricht
Trotz allem wächst in Deutschland eine Generation junger Palästinenser, die sich nicht länger zum Schweigen bringen lässt. Sie schreiben, filmen, sprechen, organisieren sich. Sie erzählen von Verlust und Liebe, von Zerstörung und Hoffnung, von einer Sehnsucht nach Gerechtigkeit, die größer ist als die Angst. Doch wer sichtbar wird, riskiert Ausgrenzung. Wer das Falsche sagt, wird beobachtet. Trotzdem sprechen sie, weil Schweigen keine Zukunft hat. Sie fordern das, was selbstverständlich sein sollte: das Recht auf Erinnerung, das Recht auf Trauer, das Recht, als Mensch gesehen zu werden. Sie verlangen, dass Deutschland Verantwortung neu denkt, nicht als Loyalität zu einem Staat, sondern als Verpflichtung zur Menschlichkeit. Hinter jeder Statistik stehen Gesichter. Kinder, deren Namen nie mehr gerufen werden. Familien, die aus Ruinen zurückkehren, um ihre Toten zu suchen. Jugendliche, die in Deutschland aufwachsen und ihre Herkunft verschweigen müssen, um nicht missverstanden zu werden. Ich sehe ihre Angst. Ich sehe ihre Stärke. Sie wollen nicht Mitleid, sondern Anerkennung. Nicht Schweigen, sondern Gerechtigkeit. Unsere Geschichte gehört erzählt. Nicht später. Nicht irgendwann. Jetzt.
Die Autorin Iman Abu El Qomsan, Ingenieurin und Studentin der Wirtschaftschemie, hat im Gazastreifen mehr als 80 Familienmitglieder durch israelische Bomben verloren.



