Nakba – das kollektive Trauma der Palästinenser

Heute jährt sich zum 76 mal die Nakba, die große Tragödie des palästinensischen Volkes. Die Nakba, bei der mehr als 700.000 Palästinenser durch israelische Milizen vertrieben und zehntausende Palästinenser getötet und verletzt wurden, stellt bis heute das kollektive Trauma der Palästinenser dar.

„Glaubst du, wir hätten verstanden, wie uns geschah? Die Flieger bombardierten uns um 5 Uhr. Viele Menschen starben im Bombenhagel. Ich habe vieles gesehen. Als wir Tarshiha verließen, hatten die Männer Angst. Sie fürchteten, getötet zu werden. Ich betrat eines der Häuser. Ich sah Leichen am Boden, Hunde nagten an ihnen. Ich sah die Leiche eines Babys, die Hunde fraßen es. Meine Tante folgte mir: Musst du dir das anschauen? Raus mit dir! Der Anblick kehrt in meinen Albträumen wieder.“ Mit diesen Worten beschreibt die Palästinenserin Rusta Dakwar Rarzouzi ihre Flucht 1948 aus Tarshiha. Das Dorf wird am Abend des 28. Oktober 1948 von drei israelischen Flugzeugen bombardiert.

„Nakba“: Die Katastrophe

Rarzouzis Schicksal ist kein Einzelfall: Vor 76 Jahren wurden 750.000 Palästinenserinnen und Palästinenser aus ihrer Heimat vertrieben. Zionistische Milizen verübten Massaker, es kam zu Plünderungen und Vergewaltigungen. Palästinensische Besitztümer wurden enteignet, 531 Dörfer und elf Städteteile zwangsgeräumt und zum großen Teil zerstört. Die Ereignisse hinterließen eine entwurzelte, in ihren Grundfesten erschütterte palästinensische Gesellschaft.

Die Palästinenserinnen und Palästinenser nennen es „an-Nakba“ – die Katastrophe. Das Trauma begleitet Überlebende wie Rusta Dakwar Rarzouzi ein Leben lang. Anders als viele ehemalige Bewohnerinnen und Bewohner aus ihrem Dorf Tarshiha, das heute Ma’alot-Tarshiha heißt, konnte sie zurückkehren. Andere, die versuchten zurückzukehren, wurden vom israelischen Militär ausgeraubt und zwangsumgesiedelt. Auch wenn die israelische Armee ihren Plan aus dem Jahr 1949, Tarshiha und andere Gemeinden zur vollständig „araberfreien Zone“ zu machen, nicht in die Tat umsetzte, bleibt Millionen palästinensischen Geflüchteten bis heute das Rückkehrrecht verwehrt.

Was geschah vor der Nakba?

Mit der Nakba erreichte das den Palästinenserinnen und Palästinensern angetane Unrecht neue Dimensionen, aber es begann schon früher. Dennoch sind Darstellungen, die den Konflikt zwischen Juden und Palästinensern im Nahen Osten als unüberbrückbar und „ewig während“ beschreiben, falsch. Zwar gab es im Verlauf eines über 1300-jährigen Zusammenlebens Spannungen in den Beziehungen zwischen Arabern und Juden, doch die Verfolgung der europäischen Juden im Namen des Christentums seit dem Spätmittelalter hat kein vergleichbares Gegenstück in der arabischen Welt. Vor den zionistischen Einwanderungswellen, den sogenannten Alijas, waren die Jüdinnen und Juden Palästinas eng mit der Restbevölkerung verbunden.

Erst mit Beginn der zionistischen Besiedlung Ende des 19. Jahrhunderts gab es scharfe Konflikte mit der ansässigen arabischen Bevölkerung. Denn das zionistische Siedlungsprojekt schloss von vornherein ein integriertes Zusammenleben von jüdischen Siedlern und Palästinensern aus. Stattdessen zielte es auf die Verdrängung der arabischstämmigen Bevölkerung, um einen jüdischen Nationalstaat zu etablieren.

Ein Land ohne Volk?

Dem zionistischen Mythos nach ging es darum, „ein Land ohne Volk einem Volk ohne Land“ zu übergeben. In Wirklichkeit war Palästina aber eine der am dichtesten besiedelten Regionen der gesamten Mittelmeerregion. Die palästinensischen Araberinnen und Araber lebten dort seit Jahrtausenden. Die Orangenhaine um Jaffa wurden schon seit Generationen von Palästinensern bewirtschaftet. Schon 1880 wurden jährlich über 30 Millionen Orangen von Palästina nach Europa exportiert.

Um das Ziel der zionistischen Bewegung, einen ausschließlich jüdischen Staat in ganz Palästina aufzubauen, zu verwirklichen, mussten die Palästinenserinnen und Palästinenser dazu gebracht werden, das Land zu verlassen. Der jüdische Sozialist John Rose schreibt in seinem Buch „Mythen des Zionismus“: „Der Zionismus begriff schon in seinen Anfangstagen, dass sein Erfolg ganz und gar von der Förderung durch Großmächte abhing.“

Eine gewaltsame Kolonisierung

Die britische Regierung gab 1917 mit der Balfour Deklaration“ ihre Unterstützung für die „Schaffung eines nationalen Heimes für die jüdische Bevölkerung in Palästina“ bekannt. Dies war ein wichtiger Wendepunkt, von dem an die Rechte der Palästinenserinnen und Palästinenser systematisch ignoriert wurden. In den 1920er Jahren waren die Folgen der zionistischen Einwanderung  für die palästinensische  Bevölkerung nicht mehr zu übersehen. So wuchs beispielsweise das direkt neben der arabischen Hafenstadt Jaffa neu gegründete jüdische Tel Aviv von 3600 Menschen im Jahr 1921 auf 40.000 im Jahr 1925.

Die Besiedlung Palästinas nahm die Form einer gewaltsamen Kolonisierung an. Organisationen des Zionismus kauften arabischen und osmanischen Großgrundbesitzern so viel Land wie möglich ab und zwangen die darauf lebenden kleinen Pächter, Bauern, Arbeiterinnen und Nomaden dazu, es zu verlassen. Durch den Landkauf an die zionistischen Organisationen verloren Tausende von palästinensischen Familien, die das Land bis dahin bewirtschaftet hatten, ihren Lebensunterhalt. Als besonderes Organ der Enteignung diente der Jüdische Nationalfonds (JNF). In den frühen 1920er Jahren gelang es der Organisation beispielsweise, die fruchtbare Jesreel-Ebene zwischen den Bergen Galiläa und Samarias für fast eine Million ägyptischer Pfund zu erstehen. Die Bedingung des JNF war die Entfernung der 8000 arabischen Pächterinnen und Pächter, die in 21 umliegenden Dörfern wohnten und deren Vorfahren das Ackerland seit Jahrhunderten bearbeiteten. Wegen des Widerstands der Menschen, die ihre Lehmhütten verbarrikadierten und sich vor Traktoren warfen, rief die zionistische Bewegung die britische Kolonialmacht zur Hilfe. Mit deren Hilfe  gelang es ihr, die Bäuerinnen und Bauern aus ihrer Heimat zu vertreiben.

Die Teilung Palästinas und die Nakba

Großbritannien – das Palästina seit Ende des Ersten Weltkriegs besetzt hielt – unterstützte die Zionistinnen und Zionisten, die dabei halfen, die Palästinenser unter Kontrolle zu halten. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann das britische Empire zusammenzubrechen. Die Kolonialmacht sah sich nicht mehr in der Lage, die militanten Kräfte, denen es dabei geholfen hatte, in dem Land Wurzeln zu fassen, in Zaum zu halten, und begann mit dem Abzug.

Im Jahr 1947 beschlossen die Vereinten Nationen die Teilung Palästinas in einen arabischen und einen jüdischen Teil. 56 Prozent der Fläche wurden dem zukünftigen Israel zugesprochen, obwohl Jüdinnen und Juden nur knapp ein Drittel der Bevölkerung ausmachten und nicht mehr als zehn Prozent des Landes bewohnten. Am 14. Mai 1948 rief David Ben Gurion den Staat Israel aus und verkündete dessen Unabhängigkeit.

Die Nakba und die ethnischen Säuberungen

Der Sieg der zionistischen Kolonialbewegung war kein unerwarteter Triumph. Schon seit Jahren traf sich die zionistische Führung in „Transferkomitees“, um die ethnische Säuberung zu planen, die sie für einen jüdischen Staat auf größtenteils nichtjüdisch besiedeltem Gebiet durchführen wollte. Dafür baute sie Milizen auf, die schließlich mit Sprengungen, Beschuss und systematischem Terror palästinensischen Nachbarn vertrieben. Auch Massaker an der Zivilbevölkerung halfen der zionistischen Bewegung, die palästinensischen Gemeinden zur Flucht zu zwingen – das Massaker von Deir Yassin ist zum Symbol dafür geworden. In Israel werden die Ereignisse um 1948, die mit der Ausrufung des israelischen Staates verbunden waren, gefeiert. Den überwiegenden Teil der Palästinenserinnen und Palästinenser haben diese Ereignisse dagegen zu einem Volk von Flüchtlingen gemacht.

Die Verdrängung geht weiter

Trotz ihrer Lage hält die palästinensische Bevölkerung weiter an ihren Rechten fest. Angesichts des weiter voranschreitenden Landraubs wird sie nicht müde, verschiedenste Konzepte der Gegenwehr zu entwickeln. Seitdem Israel während seines Angriffskrieges im Jahr 1967 auch das Westjordanland und den Gazastreifen erobert und unter seine Kontrolle gebracht hat, schreitet die palästinensische Katastrophe zusehends voran. Der israelische Staat bleibt der vorstaatlichen Linie von Enteignung und Verdrängung treu.

Dabei bedient er sich in der Westbank einer Siedlungspolitik, die er durch ein perfides Checkpointsystem und die Kollaboration mit einer lokalen „Autonomiebehörde“ aufrechterhält. Das Gebiet durchzieht eine Mauer, die um ein vielfaches höher und länger ist, als es die Berliner Mauer je war. Obwohl Israel sie zu 88 Prozent auf dem als palästinensischen Staat angedachten Territorium erbaut hat, spricht die rechte Netanjahu-Regierung  von „Sicherheitsvorkehrungen“ .

Der Text erschien zuerst bei marx21

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