Genozid im Livestream: Die kollektive Schuld des Schweigens

Kind in Gaza - Bild: Hosny Salah

Die Bilder aus Gaza lassen niemanden kalt: ausgebombte Krankenhäuser, ausgehungerte Kinder, Menschen, die zwischen Trümmern nach ihren Angehörigen suchen. In dieser Situation muss Klartext gesprochen werden – auch wenn es unbequem ist.

Als Vertreterin von Amnesty International kann und will ich nicht schweigen angesichts dessen, was vor den Augen der Weltöffentlichkeit geschieht. Es ist Zeit, die Situation und die sich daraus ergebenden rechtlichen Konsequenzen ohne Beschönigung zu benennen.

Eine unbequeme Wahrheit: Die Genozid-Frage

Nennen wir die Dinge beim Namen: Was in Gaza passiert, erfüllt mehrere Kriterien der UN-Völkermordkonvention. Diese spricht von Handlungen, „die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.“

Konkret bedeutet das: Die flächendeckende Zerstörung von Wasserversorgung, Kliniken und Stromleitungen schafft Lebensbedingungen, die auf die physische Zerstörung der palästinensischen Bevölkerung abzielen. Über 15.000 getötete Kinder sprechen eine deutliche Sprache. Die monatelange Blockade von Hilfslieferungen stellt eine vorsätzliche Herbeiführung lebensbedrohlicher Zustände dar. Die Zerstörung von mehr als 60 Prozent aller Wohngebäude macht eine Rückkehr für große Teile der Bevölkerung unmöglich.

Das ist keine politische Wertung, sondern die nüchterne Anwendung internationalen Rechts. Der Internationale Gerichtshof hat nicht ohne Grund im Januar 2024 einstweilige Maßnahmen angeordnet und die Gefahr eines Genozids als „plausibel“ eingestuft. Besonders brisant: Die Äußerungen hochrangiger israelischer Regierungsmitglieder zeigen jenen Vorsatz, der für den Genozid-Tatbestand erforderlich ist. Dass Israel die Anordnungen des Gerichtshofs konsequent missachtet, ist ein eigener, schwerwiegender Rechtsbruch.

Lassen Sie mich eines klarstellen: Die Angriffe der Hamas vom 7. Oktober 2023 waren abscheuliche Kriegsverbrechen. Die Tötung von über 1.100 israelischen Zivilist*innen und die Geiselnahmen sind schwerwiegende Verstöße gegen fundamentale Normen des humanitären Völkerrechts. Amnesty International verurteilt diese Verbrechen ohne jede Einschränkung.

Gleichzeitig hat das Recht auf Selbstverteidigung, auf das sich Israel beruft, klare Grenzen. Selbst in extremen Situationen müssen die Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und der Unterscheidung zwischen Zivilbevölkerung und Kämpfern eingehalten werden. Die mehr als 50.000 palästinensischen Todesopfer – überwiegend Frauen und Kinder – lassen keinen anderen Schluss zu: Diese „Selbstverteidigung“ hat jede rechtliche Legitimität verloren.

Eine Geschichte der Rechtsbrüche

Der aktuelle Krieg fällt nicht vom Himmel. Er ist die Eskalation einer seit 1967 andauernden, völkerrechtswidrigen Besatzung. Der Internationale Gerichtshof hat 2004 in seinem „Mauer-Gutachten“ klargestellt: Diese Besatzung verstößt gegen grundlegende Normen des humanitären Völkerrechts.

Die seit 2007 verhängte Blockade des Gazastreifens ist nichts anderes als eine kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung – ausdrücklich verboten nach der Vierten Genfer Konvention. Der systematische Siedlungsbau in besetzten Gebieten ist ebenso eindeutig illegal. Der UN-Sicherheitsrat hat dies 2016 als „flagrante Verletzung des Völkerrechts“ bezeichnet.

Dass der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs im Mai 2024 Haftbefehle gegen Netanjahu und Verteidigungsminister Gallant beantragt hat, ist kein politischer Akt, sondern das Ergebnis einer akribischen juristischen Prüfung umfangreicher Beweise.

Wenn Menschen zu „Tieren“ werden

Haben Sie bemerkt, wie palästinensische Opfer in der Berichterstattung oft nur Zahlen sind? Ohne Namen, ohne Gesichter, ohne Geschichten? Während israelische Opfer – völlig zu Recht – als Individuen mit persönlichen Schicksalen gezeigt werden?

Die Entmenschlichung beginnt mit der Sprache. Wenn Israels Verteidigungsminister Gallant von „menschlichen Tieren“ spricht oder wenn Politiker*innen alle Palästinenser*innen pauschal als „Terroristen“ bezeichnen, ist das nicht nur moralisch verwerflich. Es ist der notwendige rhetorische Schritt, der einen Genozid erst möglich macht. Die Völkermordforschung zeigt: Erst wenn eine Gruppe entmenschlicht ist, sinkt die Hemmschwelle für ihre Vernichtung.

Besonders erschreckend: Diese Entmenschlichung wird auch in westlichen Medien oft unreflektiert übernommen.

Zweierlei Maß: Die Bankrotterklärung des Völkerrechts

Bei anderen Konflikten werden schnell Sanktionen verhängt, Tribunale eingerichtet und Täter isoliert. Warum nicht hier? Dieses zweierlei Maß ist die Bankrotterklärung des Völkerrechts.

Die Rechtslage ist eindeutig: Alle Vertragsstaaten der Genfer Konventionen sind verpflichtet, deren Einhaltung „unter allen Umständen zu achten und durchzusetzen“. Die Völkermordkonvention verpflichtet alle Unterzeichner, Genozid zu verhindern – und zwar proaktiv, sobald eine ernsthafte Gefahr besteht. Das hat der Internationale Gerichtshof 2007 im Fall Bosnien gegen Serbien unmissverständlich festgestellt.

Wer also weiterhin Waffen liefert, diplomatische Deckung gibt oder finanzielle Unterstützung leistet, macht sich der Beihilfe zu schweren Verstößen gegen das Völkerrecht schuldig. Es ist Zeit, diese unbequeme Wahrheit auszusprechen.

Was jetzt getan werden muss

Die internationale Gemeinschaft muss handeln – nicht mit wohlfeilen Appellen, sondern mit konkreten Schritten: Die vom Internationalen Gerichtshof angeordneten vorläufigen Maßnahmen müssen sofort umgesetzt werden, einschließlich der Beendigung der leider wieder aufgenommenen Militäroffensive. Eine internationale, unabhängige Untersuchungskommission muss alle Völkerrechtsverstöße aller Konfliktparteien untersuchen – ohne Ansehen der Person oder geopolitischer Interessen.

Wir brauchen ein striktes Waffenembargo gegen alle Konfliktparteien, die schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht begangen haben. Alle Staaten müssen vollumfänglich mit dem Internationalen Strafgerichtshof kooperieren – einschließlich der unverzüglichen Festnahme und Überstellung aller Personen, gegen die Haftbefehle erlassen wurden.

Die illegale Besatzung der palästinensischen Gebiete muss beendet werden – sie ist die Wurzel des Konflikts und macht jeden dauerhaften Frieden unmöglich. Schließlich muss das palästinensische Selbstbestimmungsrecht uneingeschränkt anerkannt und durchgesetzt werden – ein grundlegendes Menschenrecht, verankert in den zentralen UN-Menschenrechtspakten.

Entweder Menschenrechte für alle – oder für niemanden

Die selektive Anwendung des Völkerrechts höhlt dessen Legitimität aus. Wenn wir bei einigen Konflikten wegschauen, während wir bei anderen genauestens hinschauen, verliert das Recht als Ganzes seine Glaubwürdigkeit.

Menschenrechte kennen keine Nationalität und keine Religion. Sie gelten für alle Menschen gleichermaßen. Das systematische Wegsehen bei Völkerrechtsverstößen in diesem Konflikt hat zu einer gefährlichen Erosion des gesamten Rechtssystems geführt.

Amnesty International dokumentiert weiterhin akribisch alle Kriegsverbrechen – egal, wer sie begeht. Unsere Analyse basiert auf Fakten und geltendem Recht, nicht auf politischen Erwägungen.

Die Geschichte lehrt uns: Schweigen macht uns zu Komplizen. Die gegenwärtige Katastrophe in Gaza ist nicht nur eine humanitäre Tragödie, sondern eine fundamentale Bewährungsprobe für die gesamte regelbasierte internationale Ordnung.

Das Recht muss für alle gelten, oder es gilt für niemanden.

Ein Beitrag von Shoura Zehetner-Hashemi, Juristin und Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich

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