Aktivistin vor Gericht: Zweieinhalb Jahre Haft für Bahar S. wegen palästinasolidarischer Aktionen

© Justizwatch

Nach insgesamt fünf Verhandlungstagen endete am 31. Januar der Prozess gegen Bahar S. vor dem Berliner Landgericht. Die Kammer verurteilte die palästinasolidarische Aktivistin zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Zugleich hob das Gericht den Haftbefehl gegen Bahar S. auf. Nach vier Monaten in Untersuchungshaft kommt sie zunächst frei, bis das Urteil rechtskräftig wird.

Alle Hintergründe in Teil 1 und Teil 2 zum Prozess gegen Bahar S.

Das Gericht sah neun Taten als erwiesen an, darunter versuchte Brandstiftung an zwei Einsatzfahrzeugen der Polizei sowie Widerstand gegen und tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte in mehreren Fällen. Der Darstellung der Verteidigung, es habe sich bei den versuchten Brandstiftungen um symbolische Aktionen gehandelt, mit denen auf den Völkermord in Gaza aufmerksam gemacht werden sollte, folgte das Gericht nicht. Es habe die reale Möglichkeit bestanden, dass die Brände übergreifen, so der Vorsitzende Richter. Auch andere Taten würden zeigen, dass es Bahar S. darum ging, Polizeifahrzeuge „mutwillig zu zerstören“.

Politisierung in Iran

Die Staatsanwaltschaft hatte am 30. Januar eine Haftstrafe von drei Jahren und fünf Monaten gefordert, die Verteidigung hatte eine Bewährungsstrafe beantragt. Zuvor hatte Bahar S. eine weitere starke Erklärung abgegeben. Darin berichtete sie von ihrer Kindheit im Norden Irans, von Anfeindungen und Übergriffen in einer reinen Jungenschule, die sie als Transfrau besuchen musste, und von ihrer Politisierung während der „Grünen Bewegung“ 2009. In dieser Zeit habe sie extreme staatliche Repressionen erlebt. Die Medien hätten diffamierende Lügen über die Proteste verbreitet und staatliche Gewalt vertuscht. Zensur, Verfolgung und Gewalt hätten ein unerträgliches Ausmaß erreicht.

Nach ihrer Flucht nach Berlin sei Bahar S. Teil der Geflüchtetenbewegung gewesen, die ab 2012 den Kreuzberger Oranienplatz besetzte, um gegen die menschenverachtenden Praktiken im deutschen Asylsystem zu protestieren. Sie habe es sehr geschätzt, ihre Meinung frei äußern und ohne Angst vor staatlicher Gewalt demonstrieren zu können. Später habe sie angefangen, als Pflegeassistentin zu arbeiten. Ab 2021 habe sie eine Person mit schweren Behinderungen begleitet, die ihr eine gute Freundin geworden sei. Mit ihr habe sie sich über Literatur ausgetauscht und viel über den deutschen Faschismus, den Holocaust sowie die Verantwortung gesprochen, dafür zu sorgen, dass solche Verbrechen nie wieder geschehen. Im April 2024 sei diese Person zu ihrem großen Bedauern verstorben.

Repressives Klima nach dem 7. Oktober  

Nach dem 7. Oktober 2023 und dem Beginn des Genozids an den Palästinenser*innen seien all ihre Träume zerplatzt. Das „Nie wieder“ passiere seitdem wieder. Zugleich sei das Recht, sich frei zu äußern und zu demonstrieren, über Monate massiv eingeschränkt worden – besonders in Berlin-Neukölln, der Heimat der größten palästinensischen Exil-Community in Europa. Als Südafrika beim Internationalen Gerichtshof Klage gegen Israel erhob, hätten die deutschen Medien und die deutsche Politik den Gerichtshof delegitimiert und als antisemitisch diffamiert. Dieses politische und gesellschaftliche Klima, verbunden mit brutaler Polizeigewalt auf den Straßen, habe sie retraumatisiert und in ihre Zeit im Iran zurückversetzt.

Der Vorsitzende Richter nahm in seiner Urteilsbegründung auf die Erklärung Bezug, gab sich aber zugleich große Mühe, alle politischen Zusammenhänge für irrelevant zu erklären. Es sei positiv, dass die Verteidigung nicht versucht habe, ein Urteil der Kammer über ein „kriegerisches Vorgehen woanders“ zu erzwingen, denn darum gehe es in diesem Verfahren nicht. Es gehe um die hier begangenen Taten, und für die könnten das Geschehen in Gaza kein Entschuldigungsgrund sein, auch wenn die Mitglieder der Kammer „politisch denkende Menschen“ und „der Empathie fähig“ seien. Wenn Bahar S. das Ziel gehabt habe, auf „gewisse Missstände in der Welt“, die sie belasteten, aufmerksam zu machen, sei das im Übrigen an anderen Orten als an Polizeifahrzeugen möglich gewesen. Zudem behauptete der Richter, Bahar S. habe ihre Meinung jederzeit auf Demonstrationen frei äußern können. Es gehe allerdings nicht an, diese Möglichkeit zu missbrauchen, um Straftaten zu begehen. Abschließend zeigte er sich beeindruckt von Bahar S.‘ Lebensweg und lobte ihre Deutschkenntnisse – das spreche dafür, dass sie eine „intelligente Frau“ sei. Die Kammer hoffe, dass sie ihre Fähigkeiten künftig „gewinnbringend“ in Deutschland einsetzen werde.

Protest im Gerichtssaal

Diese anmaßenden Worte blieben nicht unwidersprochen. Während der Vorsitzende Richter dazu ansetzte, sich bei den Prozessbeobachter*innen für ihr Interesse und ihr diszipliniertes Benehmen zu bedanken, fingen diese an, laut „Jin, Jiyan, Azadî“ sowie „Freiheit für alle politischen Gefangenen“ zu rufen – und wurden schließlich hektisch von den anwesenden Justizbeamt*innen aus dem Saal geworfen. Auch solidarische Unterstützer*innen, die sich vor dem Gerichtsgebäude versammelt hatten, erlebten erneut Repression. Die Polizei kesselte 14 Personen über eine Stunde ein, weil eine angeblich volksverhetzende Parole gerufen worden sei.

Bahar S. wurde noch am selben Nachmittag aus der Haft entlassen und von Genoss*innen in Empfang genommen. Der Verteidiger kündigte bereits an, gegen das Urteil Revision einzulegen.h

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