Tödliche Polizeischüsse in Deutschland: Rekordjahr 2024

Foto von Erka P, Pexels (cropped).

Seit 1976 dokumentiert die Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei/CILIP tödliche Polizeischüsse in Deutschland. 2024 wurden so viele Menschen von der Polizei erschossen wie noch nie zuvor. Was steckt hinter diesen Zahlen? Welche Faktoren spielen für den Anstieg eine Rolle? Warum bleibt die strafrechtliche Verfolgung von Polizisten eine absolute Seltenheit? Und wie ist es in Deutschland um die abolitionistische Bewegung bestellt? Ein Gespräch mit Matthias Monroy.

etos.media: Die Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei/CILIP zählt in der Statistik „Polizeiliche Todesschüsse“ die jedes Jahr von der Polizei im Dienst erschossenen Menschen in Deutschland. Was sagen eure Zahlen über das Jahr 2024?

Matthias Monroy: Nach unserer Statistik sind im vergangenen Jahr so viele Menschen erschossen worden wie noch nie seit Beginn unserer Zählung in 1976. 22 Menschen sind durch Polizeikugeln gestorben. Insgesamt haben wir seit der Wiedervereinigung 362 Fälle dokumentiert, in den Jahren davor weitere 153.

etos.media: Was sind die Faktoren, die den Anstieg im letzten Jahr erklären könnten?

Matthias Monroy: Das ist ein bisschen schwierig, da wir beobachten, zählen und auswerten, aber selbst nicht forschen. Unsere Zahlen müssen immer in Relation zu anderen Faktoren gesetzt werden. Statistisch können wir sagen, dass der Dezember der tödlichste Monat im Jahr ist, der 6. eines Monats der tödlichste Tag, die „tödlichste“ Altersgruppe Anfang 20 und – da es bei schweren Straftaten ohnehin einen krassen Männerüberhang gibt – natürlich männlich ist.

Was fängt man aber mit solchen Aussagen an? Es gibt ein paar plausible Gründe, etwa dass vorbereitete Polizeiaktionen wie Zwangsräumungen, bei denen Menschen erschossen werden, in der Regel nicht am Wochenende stattfinden. So ließe sich erklären, dass mit Donnerstag ein Wochentag der „tödlichste“ Tag ist. Was wir sagen können: Ab 2013 gab es einen Anstieg tödlicher Polizeischüsse auf Menschen, die mit Stichwaffen hantierten. Jetzt könnten Rechte daherkommen und sagen: „Ja klar, da kamen all die Migranten mit den Messern“, was ja oft das Narrativ ist. Man könnte aber ebenso argumentieren, dass erst dieses Narrativ dazu geführt hat, dass bei der Polizei die Pistole lockerer gehandhabt wird und Migranten viel häufiger zum Ziel werden – ein Phänomen, was so ähnlich auch aus anderen Bereichen bekannt ist. Was wir auch beobachten, ist, dass viel weniger Menschen mit Schusswaffen bewaffnet sind und es viel weniger Vorfälle wie Bank- oder Tankstellenraub gibt. Diese Delikte sind gewissermaßen aus der Mode gekommen.

Wir haben uns zudem die Zahl der insgesamt abgegebenen Schüsse auf Personen angeschaut. In den 90er Jahren war ein deutlicher Höhepunkt zu verzeichnen – da wurde ungefähr sechsmal so viel geschossen wie heute. Damals waren Warnschüsse sehr populär, das war ein übliches Mittel, etwa bei Menschenmengen, bei Fußballspielen oder Demonstrationen. Auch die werden als „Schüsse auf Personen“ gezählt. Diese Praxis hat die Polizei dann anscheinend weitestgehend eingestellt, sodass die Gesamtzahl der Schüsse stark abgenommen hat – aber trotzdem werden immer noch ähnlich viele Menschen getötet wie damals.

etos.media: Du nanntest die Kategorie „Schüsse auf Personen“. Welche anderen Fälle gibt es?

Matthias Monroy: Neben Warnschüssen schießt die Polizei noch auf Sachen, etwa Autoreifen oder Türschlösser, und oft auch auf Tiere. Damit haben sie irgendwann Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre begonnen. Zuvor wurden offenbar verendende Tiere von Förstern, Jägern oder Tierärzten getötet – es ist ja nicht so, dass die Polizei auf Katzenjagd geht.

etos.media: Was für Fälle sind das, wenn die Polizei auf Tiere schießt?

Matthias Monroy: Das können Fälle sein wie ein beim Verkehrsunfall angefahrenes Tier oder eins, das sich in einer aussichtslosen Lage befindet und ohnehin sterben wird. Oder es handelt sich um ein gefährliches Tier, das jemanden angreift. Inzwischen kommt es im großen Stil vor: Rund 15.000 Tiere werden derzeit pro Jahr von der Polizei erschossen. Solche Aussagen können wir statistisch treffen – was diese und andere Zahlen politisch bedeuten, ist aber ein Thema für die Forschung.

etos.media: Gibt es Forschungsprojekte, Masterarbeiten oder Doktorarbeiten, die sich mit euren Zahlen auseinandersetzen. Und woher stammen die überhaupt?

Matthias Monroy: Aktuell ist eine Doktorarbeit in der Mache, in der intensiv mit unseren Angaben sowie den Statistiken der Polizei gearbeitet wird. Diese werden seit 1984 offiziell geführt. Alle Länderpolizeien sowie die Bundespolizei schicken dafür jedes Jahr ihre Schussabgaben an die Deutsche Polizeihochschule (DHPol). Diese erstellt dann im Sommer für das vorangegangene Jahr eine kumulierte Statistik, die eigentlich nur für den internen Gebrauch gedacht war. CILIP hat diese Daten jedes Jahr angefragt – was am Anfang ein ziemlicher Kampf war, sie überhaupt zu bekommen. Mit dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) ist das heute deutlich einfacher. Unsere Statistik stammt aber größtenteils aus öffentlichen Quellen. Wir werten Medienberichte aus, die größtenteils auf Polizeiberichten basieren – das möchte ich ausdrücklich erwähnen.

Unsere Zahlen weichen mitunter von der Polizeistatistik ab. Manchmal wird gemeldet, dass jemand bei einem Bankraub erschossen wurde. Das erscheint zunächst eindeutig, doch forensische Untersuchungen zeigen dann beispielsweise, dass ein Genickschuss nicht von hinten nach vorne, sondern von vorne nach hinten abgegeben wurde – der Betroffene hat sich also angeblich selbst erschossen. Auf einen so alten Fall bin ich kürzlich gestoßen und dachte, den müssten wir aufnehmen. Dann fand ich weitere Archivartikel, bei denen die Erklärungen nicht passen. Daher gibt es immer öfter Abweichungen. Manchmal ist die Todesursache für die Polizei noch nicht abschließend ermittelt, manchmal ist es schwer zu sagen, an was eine Person genau gestorben ist. Ein Einbrecher, der etwa auf der Flucht auf dem Dach angeschossen wird und dann vom Dach fällt – ist er durch eine Polizeikugel gestorben oder an einem Genickbruch?

etos.media: Und würdet ihr den vom Dach fallenden Einbrecher zählen?

Matthias Monroy: Ich weiß gar nicht, ob es den mal gegeben hat.

(beide lachen)

Das ist zwar ein fiktives Beispiel, aber ich würde ihn zählen, ja.

etos.media: Waren solche Fragen auch der Grund, warum ihr überhaupt mit dem Zählen angefangen habt?

Matthias Monroy: Den Grund kann ich gar nicht genau sagen, weil das ja schon 1976 begann. In unserem Archiv finden sich auch gescannte Artikel aus den Sechzigern, aber da gab es noch keinen Anspruch auf Vollständigkeit – den gibt es erst seit 1976. Der genaue Anlass war vermutlich die Polizeigewalt auf den Demonstrationen Ende der 60er, in der Zeit der Studirevolte, als auch Menschen erschossen wurden. Dann kamen in den 70er Jahren die Killfahndungen gegen militante Gruppen. Das wollten unsere Vorgänger dann wahrscheinlich dokumentieren, auswerten und dem etwas entgegensetzen.

Wir versuchen natürlich, mit unseren Zahlen in Diskurse einzugreifen und damit auch Politik zu machen. Wir werten die Daten auch dahingehend aus, ob etwa ein psychischer Ausnahmezustand vorlag. Das muss aber sehr vorsichtig betrachtet werden. Oft steht in den Berichten, dass die betreffende Person offensichtlich in einem Ausnahmezustand war. Es gibt Fälle, in denen die Polizei zu einem „suicide by cop“ gerufen wird, bei denen die Person sich von der Polizei erschießen lassen will. Das lässt sich nicht eindeutig feststellen, weshalb wir den Hinweis „mutmaßlich psychischer Ausnahmezustand“ vermerken. Der größte Anteil der Polizeischusstoten – etwa ein Drittel bis die Hälfte – betrifft jedes Jahr Menschen in solchen Ausnahmesituationen, bei denen man sich fragt: Muss das sein? Kann die Polizei nicht anders handeln? Und natürlich kann sie das.

etos.media: Ihr dokumentiert Fälle, in denen Menschen durch Polizeischüsse im Dienst getötet werden. Welche anderen Kategorien von Todesfällen durch Polizeigewalt gibt es, und verfügt ihr auch hier über Zahlen?

Matthias Monroy: Wir dokumentieren tatsächlich nur Polizeischüsse, nicht andere Todesfälle in Polizeigewahrsam, wie es – lobenswerterweise – die Gruppe Death in Custody tut. Die dokumentieren Fälle, in denen Menschen in einer polizeilichen Zwangssituation sind, in der sie sich nicht wehren können, etwa im Gewahrsam, im Knast oder auch bei Kontrollen. Früher war es relativ populär, dass Polizisten Nebenjobs hatten, zum Beispiel an einer Tankstelle. Es gab zwei Fälle, in denen sie dabei überfallen wurden und die Täter mit ihrer Dienstwaffe erschossen haben. Nach einiger Überlegung haben wir diese Fälle nicht mit aufgeführt. In der offiziellen Polizeistatistik der DHPol sind auch Suizide von Polizisten enthalten. Während der Corona-Zeit sind diese Zahlen deutlich angestiegen – auf über zehn Fälle jährlich –, aber auch die nehmen wir nicht in unsere Statistik auf.

etos.media: Seit 2021 zählt ihr separat auch Fälle, in denen Polizisten Menschen mit Taser töten.

Matthias Monroy: Genau – und wir sind die einzigen, die das machen. Im Moment stehen zehn Fälle in unserer Datenbank „Tod durch Taser“. SEKs nutzen Taser bundesweit seit rund 20 Jahren, aber im Streifendienst sind diese noch nicht lange und noch nicht überall im Einsatz. Derzeit sind es Rheinland-Pfalz, Hessen, Brandenburg, Saarland, Hamburg, Bayern und bald Schleswig-Holstein. Aus Zahlen, die wir durch IFG-Anfragen aus den Bundesländern erhalten haben, geht hervor, dass es in Hamburg beispielsweise zwischen 500 und 900 Einsätze pro Jahr gibt. Ein Einsatz umfasst bereits die Androhung, und in etwa einem Viertel der Fälle kommt es dann zum Auslösen. Taser hinterlassen zunächst nur oberflächliche Verletzungen wie Hautabschürfungen, doch wenn die Person zusammenbricht, können zusätzliche Verletzungen entstehen. Auch kann es zu Herzflimmern kommen, weil die Person herzkrank ist oder mit drei Promille oder einem Drogencocktail im Blut unterwegs war. Natürlich sollte nicht auf Schwangere oder Menschen mit Herzproblemen geschossen werden. Es gibt dazu diverse Richtlinien, wen die Polizei beschießen darf – aber wie soll ein Polizist feststellen, ob eine Person ein Herzproblem oder Drogen im Blut hat? Das ist die Hauptkritik an Taser-Einsätzen.

Und Menschen können sterben durch Taser. Doch laut Polizei liegt diese Zahl in Deutschland bisher bei exakt null – oder besser, laut den forensischen Untersuchungen. Das liegt daran, dass ein Taser kein Loch hinterlässt wie eine Kugel, bei der man sagen kann, dass eine Arterie durchtrennt oder ein Organ dauerhaft geschädigt wurde, und dass die Person ohne die Kugel nicht verblutet wäre. Beim Taser ist es aber so, dass, wenn eine Person beispielsweise an ihrem Erbrochenen erstickt oder stürzt und mit dem Kopf aufschlägt, nicht direkt gesagt wird, sie sei „durch den Taser gestorben“. Die Polizei verneint dies. Deshalb haben wir die Kategorie auch geändert: Früher hieß sie „Tod durch Taser“, jetzt „Tod mit Taser“.

etos.media: Gestorben an Corona, durch Corona, mit Corona …

Matthias Monroy: Genau – es ist eine Definitionssache.

etos.media: Unter euren dokumentierten Fällen gibt es solche, bei denen im Hinblick auf das Polizeihandeln durchaus plausibel Notwehrszenarien konstruiert werden können – und andere, bei denen das gewiss nicht der Fall ist.

Matthias Monroy: Es gibt natürlich Situationen, in denen man sich – wenn man ehrlich ist – fragen muss, was man hätte anders machen können. Etwa Fälle, in denen Menschen regelrecht „rotsehen“. Ich erinnere mich an einen Fall in Berlin, in dem jemand in einem mehrstöckigen Mietshaus mit der Axt die Türen der Nachbarn eingeschlagen hat und dann in eine Wohnung reingegangen ist. Was soll man in so einem Fall tun? Da ist es schwer zu sagen, ob die Polizei nicht erst einmal mit den Betroffenen hätte reden sollen. Solche Fälle lassen sich nicht einfach vom Schreibtisch aus beurteilen.

Aber diese extremen Fälle sind selten. Viel häufiger kommt es vor, dass man sich fragt, warum die Polizei überhaupt in eine Wohnung eingedrungen ist und dadurch den Betroffenen erst in die Enge getrieben hat. Ich erinnere mich auch an einen älteren Fall, in dem ein Polizist sofort zur Knarre griff, weil er sich von einem betrunkenen Radfahrer, den er anhielt, bedroht fühlte. Es kam angeblich zu einem Gerangel, und dann drückte er ab. Das ist natürlich keine Notwehr, auch wenn in diesem Fall dem Polizisten Notwehr zugesprochen wurde – durch eine Situation, die er selbst, durch das Ziehen der Waffe, herbeigeführt hat.

So war es auch bei Mouhamed Dramé [dem jungen Senegalesen, der am 8. August 2022 in Dortmund von Polizisten erschossen wurde, J.R.]. Man könnte – mit viel Gedankenakrobatik – sagen, das war eine Notwehrsituation: Der Betroffene sprang auf, und der Polizist, der vom Einsatzleiter angewiesen wurde, in der allergrößten Not mit seiner Maschinenpistole zu schießen, tat das dann auch. Man hätte Dramé sicherlich auch nicht tasern, pfeffern und aus seiner Nische treiben müssen, wo er in sich gekehrt saß und das Messer gegen sich gerichtet hatte, in suizidaler Absicht, was der Polizei über den Notruf bekannt gewesen sein muss.

Das Problem ist, dass ein Betreuer quasi keine andere Wahl hat – sie können fast nur die Polizei rufen, wenn Waffen im Spiel sind. Denn dann müssen sie zunächst sich selbst aus der Gefahrensituation begeben. Man kann nicht einfach die Feuerwehr, einen Pastor oder einen Seelsorger rufen. Auch das Krisentelefon verweist darauf, dass bei Waffeneinsatz die Polizei gerufen werden muss. In Deutschland gibt es schlicht keine anderen Kräfte, keine Hotline für geschulte Leute, die unbewaffnet sind.

etos.media: Wie sieht es in Deutschland mit der Verfolgung von Polizisten aus, die Menschen erschießen? Und wie sinnvoll ist es, wenn mutmaßliche Täter aus den eigenen Reihen heraus untersucht werden?

Matthias Monroy: Das ist natürlich problematisch und mit den bekannten Schwächen behaftet. Auch die Staatsanwaltschaft, die die Ermittlungen leitet, ist schließlich polizeinah. Alle Beteiligten kennen sich oft untereinander. Dann passieren Fehler, wie bei den Polizisten in Dortmund, die Dramé erschossen haben. Die Polizei der Nachbarstadt ermittelte gegen ihre Kollegen und hat diese falsch belehrt – als Zeugen und nicht als Beschuldigte. Dadurch konnten ihre Aussagen vor Gericht nicht verwendet werden. Ich behaupte nicht, dass das Absicht war, auch wenn dies denkbar ist. Aber es wäre freilich besser, wenn unabhängige, kritische Stellen solche Fälle untersuchen. Auch Richter sind oft polizeinah, das dürfen wir auch nicht vergessen.

Lukas Theune, ein Rechtsanwalt im RAV (Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein) hat in seiner Dissertation zu Polizeizeugen empirisch nachgewiesen, wieviel mehr den Aussagen der Polizei geglaubt wird. Es zeigt sich auch, dass Polizisten viel seltener für Taten verurteilt werden als die allgemeine Bevölkerung. Kommt es zu Verurteilungen, sind es meist geringfügige Strafen, die in der Revision wieder aufgehoben oder zur Bewährung ausgesetzt werden.

Mir ist im Moment kein Fall bekannt, in dem ein Polizist wirklich ins Gefängnis gekommen wäre – wobei ich dafür nicht alle etwa 400 Fälle in der CILIP-Datenbank im Einzelnen kenne, da ich diese erst seit rund zehn Jahren beobachte. Im Archiv gab es höchstens Bewährungsstrafen, oft unter einem Jahr, und mir fällt gerade kein Fall ein, in dem ein Polizist aus dem Dienst entlassen wurde. Mitunter werden sie in den Innendienst versetzt, bleiben aber weiterhin bei der Polizei. Solche Fälle mag es gegeben haben, sie sind jedoch extrem selten.

etos.media: Und was sagst Du zum Freispruch im Fall Mouhamed Dramé im Dezember? Alle beteiligten Polizisten wurden da freigesprochen.

Matthias Monroy: Ich war zwar in gewisser Weise geschockt, aber andererseits haben wir das auch irgendwie erwartet. Wir hatten ja schon den Fall von Ante P. in Mannheim [am 2. Mai 2022, J.R.], der zwar nicht erschossen, aber ähnlich wie George Floyd erstickt wurde. Und diese Parallele wurde sogar prozessrelevant. Den Angeklagten in Mannheim wurde quasi strafmildernd zugebilligt, dass der Vergleich zu George Floyd in den Medien einer Vorverurteilung sehr nah kam. Der Polizist hat nicht so lange auf Ante P. herumgekniet, und dieser befand sich anders als George Floyd in einer psychischen Ausnahmesituation, aber doch sind beide Fälle vergleichbar. Und am Ende kamen die beteiligten Polizisten davon – der eine erhielt wegen Körperverletzung im Amt eine geringe Geldstrafe und der andere, wegen Unterlassung Angeklagte, wurde freigesprochen.

Bei Mouhamed Dramé war ich trotzdem schockiert, denn ich hätte erwartet, dass zumindest der Einsatzleiter oder Polizist, der ihn erschossen hat, noch irgendeine Art von Strafe erhält. Die anderen, die gepfeffert und getasert haben, konnten darlegen, dass es auf Anweisung des Vorgesetzten geschah – auch das fand ich sehr problematisch.

etos.media: Denkst du, dass Menschen in Deutschland – auch außerhalb der Linken – durch den Fall Mouhamed Dramé in Bezug auf die Funktionsweise des Staates, die Unabhängigkeit der Justiz oder die Accountability bei der Polizei desillusioniert wurden? Oder ist in der bürgerlichen Mitte das Vertrauen in den Rechtsstaat so fest verankert, dass man sich nicht ernsthaft solche Fragen stellt?

Matthias Monroy: Für mich ist das kein absolut besonderer Fall. Ich mache seit 25 Jahren Antirepressionsarbeit. Ein guter Freund, unser verstorbener Chefredakteur Heiner Busch, sagte mal sinngemäß, jede Generation habe ihren eigenen Polizeiskandal, den sie für einmalig halte. Wenn man aber zurückblickt – etwa auf die 60er und 70er Jahre, die Zeit der Verfolgung von Studierenden, der Proteste, der Killfahndungen, der Flughafen- und Atomanlagenproteste, Zeiten, in denen die Polizei mit extremer Gewalt gegen die Leute vorging, wie es beispielsweise beim ehemaligen Bundesgrenzschutz [seit 2005 Bundespolizei, J.R.] der Fall war – dann stellt man fest, dass es immer wieder Leuchtturm-Repressionsfälle gab, die zu Desillusion in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit führten, ebenso zur Frage, wie Täter verfolgt werden. Und Mouhamed Dramé war jetzt auch wieder so ein Fall. Für mich sind derartige Fälle sozusagen „normal“.

etos.media: Ich beschäftige mich beruflich sehr viel mit dem Krieg in Gaza und lese dort täglich über Fälle extremer Gewalt, die für andere Leute dann natürlich extrem schockierend sind – wenn man sich beruflich mit solchen Dingen beschäftigt, stumpft man allmählich etwas ab. Auch aus reinem Selbstschutz heraus. Geht es dir da ähnlich?

Matthias Monroy: Ich betrachte Fälle von Menschen, die von der Polizei erschossen werden, durch eine Art „Forscherblick“. Und das hat uns auch schon öfter Kritik eingebracht. Als im letzten Jahr zum Beispiel der Mensch in München, der das israelische Konsulat angegriffen hatte, von der Polizei erschossen wurde, haben wir das am selben Tag mit einem nüchternen Tweet gemeldet. Wir haben das überhaupt nicht glorifiziert, sondern wie jeden anderen tödlichen Schuss gemeldet und einen Eintrag in der Datenbank angelegt. Das führte dann zu einer empörten Reaktion einer Linken-Politikerin, die uns öffentlich antwortete „Hallo, wie seid ihr denn drauf?“ – als würden wir das gutheißen. Man hätte vielleicht einen Tag abwarten können, bis wir es melden, weil es ohnehin alle mitbekommen haben. Aber wir haben eben den Chronistenblick.

etos.media: Nach dem Mord an George Floyd 2020 in Minneapolis scheiterte ein Jahr später im City Council nur knapp eine Abstimmung, die vorsah, die städtische Polizei abzuschaffen und durch ein gemeinschaftsbasiertes System öffentlicher Sicherheit zu ersetzen. Nach der Tötung der 16-jährigen Indigenen Aisha Hudson durch die Polizei in Kanada gab es dort ähnliche Forderungen. In Deutschland jedoch erscheinen solche Debatten – abgesehen von Teilen der radikalen Linken – nahezu undenkbar. Würdest du dieser Einschätzung zustimmen und, wenn ja, wie erklärst du dir die Lage in Deutschland?

Matthias Monroy: Ich stimme dieser Aussage auf jeden Fall zu. Ich bin auch sehr kritisch gegenüber der Polizei und war froh, als die abolitionistische Bewegung aus dem angelsächsischen Raum nach Europa, nach Deutschland, übergriff [Abolitionismus, vom Engl. „abolish“ für „abschaffen“, J.R.]. Denn ich finde, dass wir uns in der Antirepressionsarbeit nie ausreichend mit Alternativen beschäftigt haben. Natürlich haben wir die Abschaffung der Polizei gefordert, aber was dann? Wie soll in bestimmten Fällen, in denen man den Menschen, die Hilfe benötigen, diese auch zukommen lassen will, wie soll das geregelt werden? Es gibt Situationen, in denen man Hilfe braucht. Aber leider sind sämtliche dazu gebrauchte Kompetenzen bei der Polizei zentralisiert, obwohl sich vieles davon outsourcen ließe. Ob das alles ist oder nur einiges davon, ist eine weitere Debatte. Aber auf jeden Fall kann man viele Bereiche ausgliedern. Ebenso sind Konzepte zur Übernahme von Schuld, Heilung und Verantwortung hilfreich, wie sie auch im Ansatz der Transformative Justice zu finden sind.

Natürlich gibt es Alternativen, die teilweise auch ausprobiert wurden und vielversprechend klangen – aber in Deutschland fehlt das noch. Deswegen haben wir uns als CILIP auch am ersten uns bekannten großen Abolitionismus-Kongress beteiligt, der vor fast zwei Jahren in Berlin stattfand. Ein paar Monate später folgte noch ein solcher Kongress in Hamburg. Im Sommer 2024 haben wir ein Heft zum Abolitionismus-Kongress herausgebracht. Das war ein Projekt, das mit ISKS (Ihr seid keine Sicherheit) von einer externen politischen Gruppe kuratiert wurde. Die haben dann andere Gruppen befragt, sich Gedanken zu Abolitionismus zu machen. Das war ein interessanter Ansatz, der auch seine Schwächen hatte, weil die Gruppen sich selbst teils noch nicht unbedingt intensiv damit beschäftigt hatten, sondern meist nur die Polizei oder Grenzpolizei aus dem einen oder anderen Grund abschaffen wollen. Aber es war der Versuch, den Horizont in den verschiedenen Spektren zu erweitern oder ein Mehrgenerationengespräch mit Aktivistinnen und Aktivisten aus unterschiedlichen Antirepressionskämpfen der letzten Jahrzehnte zu führen. Mittlerweile habe ich aber den Eindruck, dass der Schwung in den Abolitionismus-Diskussionen in Deutschland wieder raus ist. Viele waren anfangs sehr neugierig – es war etwas Neues –, und jetzt sind das wieder „die Mühen der Ebene“. Wir müssen aber dranbleiben.

etos.media: Würdest du sagen, dass auch außerhalb der radikalen Linken, also etwa in Teilen der bürgerlichen Presse, die Polizei als Institution infrage gestellt wird? Existiert diese Position im liberalen Spektrum?

Matthias Monroy: Ja, ich würde schon sagen, dass solche Themen auch außerhalb der radikalen Linken diskutiert werden. Natürlich nicht in rechten oder konservativen Kreisen oder der Boulevardpresse, aber im bürgerlichen und liberalen Spektrum schon. Es gibt diverse Polizeiwissenschaftler und Forschende, die sich mit solchen Themen auseinandersetzen und auch wahrgenommen werden. Tobias Singelnstein und Benjamin Derin hatten in einem längeren Artikel im RAV-Rundbrief das Konzept des „Defund the Police“ dargelegt. Das geht zwar nicht so weit wie „Abolish the Police“, aber zumindest sollen der Polizei gewisse Kompetenzen entzogen werden. Auch in anderen liberalen Zeitungen, etwa in der Süddeutschen, gibt es eine gewisse Offenheit und es finden sich entsprechende Beiträge und Kommentare.

Zudem würde ich sagen, dass Kampagnen wie das Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe in dieselbe Richtung gehen – es geht hier nicht um die Abschaffung der Polizei an sich, sondern um die politische Definition von Straftaten und die Art und Weise, wie Menschen verfolgt werden. Und diese politische Lage ließe sich, wenn man denn wollte, auch verändern, sodass manche Straftaten schlichtweg nicht mehr existieren.

Matthias Monroy ist Redakteur beim nd und bei der Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei/CILIP zuständig für die Erhebung der Statistik Polizeiliche Todesschüsse“.

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Eine Antwort

  1. Ich erinnere Mannheim an den Tod eines Mannes, der zur ambulanten Behandlung am ZI dort war. Wo sein Arzt der Meinung war, er wäre suizidal.
    Wo der Mann fortlief und der Arzt die Polizei rief.
    Diese verfolgte ihn durch die Quadrate, besprühte ihn von hinten mit Pfefferspray, brachte ihn zu Boden und schlug ihn tot.

    Das geht halt auch.

    Ich war dort mal Patientin, lebe so in Angst.

    Seine Diagnose: Paranoia.
    Meine Diagnose Hebephren-paranoid
    In der Ambulanz war ich aber nur wegen Problemen mit dem Gedächtnis. (Ich bin Long-Covid, Diabetikerin und 66 Jahre alt) in der Gedächtnissprechstunde.

    Vermerkt wurde, daß ich unbegleitet kam, ohne Vorstrafen.

    Für mich bleibt das monströs.

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