Am morgigen Sonntag finden die Bundestagswahlen statt, Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte sind wahlberechtigt. Die größte migrantische Gruppe, die arabische, findet im Diskurs allerdings kaum statt. Wir haben mit Basem Said von der arabischen Wählerinitiative „Unsere Stimme zählt“ über die Wahl, den Gazakrieg und antiarabischen Rassismus gesprochen.
Etos.Media: Ihr habt euch als arabische Initiative zu den Wahlen gegründet. Warum braucht es eine explizit arabische Organisation zu den Wahlen?
Basem Said: In Deutschland leben Millionen Menschen mit arabischen Wurzeln sie sind Teil dieser Gesellschaft, gestalten sie mit und tragen zu ihrem wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Fortschritt bei. Doch trotz dieser Realität bleiben arabische Stimmen in der Politik oft ungehört. Themen, die uns betreffen von strukturellem Rassismus über soziale Gerechtigkeit bis hin zur deutschen Außenpolitik im Nahen Osten werden meist ohne uns, aber über uns diskutiert.
Deshalb braucht es eine explizit arabische Wahlinitiative. Sie schafft politische Repräsentation, stärkt unsere Gemeinschaft und setzt gezielt Themen auf die Agenda, die in den etablierten Parteien oft vernachlässigt werden. Wir erleben Diskriminierung im Alltag, haben erschwerten Zugang zu gleichen Chancen im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt, und wir sehen, wie die politische Debatte über unsere Herkunft oft von Vorurteilen geprägt ist. Unsere Initiative tritt dem entgegen mit klaren Forderungen, mit eigener Erzählung und mit einer Vision für eine gerechtere Gesellschaft.
Gleichzeitig geht es um politische Teilhabe. Viele Menschen mit arabischer Herkunft fühlen sich von der deutschen Politik nicht angesprochen oder vertreten. Das führt dazu, dass ihre Stimmen bei Wahlen ungenutzt bleiben. Wir wollen das ändern, politisches Bewusstsein stärken und eine Brücke zwischen unserer Community und der Politik bauen.
Auch die deutsche Außenpolitik, insbesondere im Nahen Osten, ist ein Bereich, in dem unsere Perspektiven kaum berücksichtigt werden. Während Palästinenser:innen und andere arabische Gruppen weltweit für ihre Rechte kämpfen, wird in Deutschland oft eine einseitige Position eingenommen. Unsere Initiative fordert eine gerechtere und ausgewogenere Haltung, die Menschenrechte und Völkerrecht in den Mittelpunkt stellt.
Wir sind hier, wir sind Teil dieser Gesellschaft, und wir haben eine Stimme es ist Zeit, dass sie gehört wird. Unsere arabische Wahlinitiative steht für politische Sichtbarkeit, soziale Gerechtigkeit und eine Zukunft, in der unsere Anliegen ernst genommen werden. Denn echte Demokratie bedeutet, dass alle Menschen mitgestalten können unabhängig von ihrer Herkunft.
Etos.media: Zur Bundestagswahl organisiert ihr eine Debatte mit den Kandidierenden, wer war eingeladen und wie lief die Debatte ab?
Basem Said: Die Veranstaltung „Unsere Stimme zählt“ bot eine Plattform für politische Diskussionen rund um Demokratische Teilhabe, Repression und gesellschaftliche Gerechtigkeit. Trotz der kurzfristigen Absagen von SPD-Kandidat Hakan Demir und dem Grünen Kandidaten sowie der völligen Ignoranz der CDU gegenüber der Einladung verlief die Veranstaltung erfolgreich und zeigte das starke Bedürfnis nach ehrlichem politischen Dialog.
Gemeinsam mit Maria habe ich die Initiative „Unsere Stimme zählt“ vorgestellt. Die Diskussion wurde von Christiane Wiemann moderiert, die ihre Erfahrungen aus dem Bildungsbereich und der internationalen Arbeit einbrachte. Das Grußwort wurde auf Deutsch und Arabisch gehalten, um auch diejenigen zu erreichen, die in politischen Debatten oft nicht repräsentiert werden.
Trotz der Absagen einzelner Kandidierender waren mehrere Parteien vertreten:
• BSW: Michael Lüders
• DIE LINKE: Ferat Koçak
• MERA25: Alice Morel
• Team Todenhöfer: André Matzke
Die Diskussionen drehten sich um Themen wie strukturelle Diskriminierung, Sprachverbote, politische Repression und die Notwendigkeit, gesellschaftliche Vielfalt in politische Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Besonders die Einschränkungen der Meinungsfreiheit in Bezug auf Palästina und die wachsende Repression gegenüber Aktivist*innen wurden intensiv diskutiert.
Etos.media: Wie kam es zu den kurzfristigen Absagen, was war die Reaktion darauf?
Basem Said: Die kurzfristige Absage von Hakan Demir (SPD) wurde von vielen Teilnehmenden kritisch gesehen, da sie als mangelndes Interesse an der Debatte interpretiert wurde. Auch die Absage des Grünen-Kandidaten zwei Tage zuvor sorgte für Enttäuschung. Die CDU ignorierte die Einladung gänzlich, was als ein weiteres Zeichen für die fehlende Dialogbereitschaft gewertet wurde. Insgesamt deuten beide Absagen darauf hin, dass die Veranstaltung „Unsere Stimme zählt“ für die betreffenden Kandidaten offenbar keine Priorität hatte. Gerade in einem demokratischen Prozess, der den Dialog zwischen politischen Vertreter*innen und der Zivilgesellschaft stärken soll, ist eine solche Haltung bedauerlich. Sie verstärkt den Eindruck, dass bestimmte Themen oder Bevölkerungsgruppen nicht mit der gleichen Ernsthaftigkeit behandelt werden wie andere.
Trotz der Hindernisse zeigte die Veranstaltung, dass der politische Druck auf marginalisierte Gruppen wächst, aber auch, dass der Wille zur Vernetzung und zum Widerstand stärker wird. Die Teilnehmenden betonten die Notwendigkeit, weiterhin für eine gerechte Politik einzutreten, die nicht nur symbolisch, sondern auch in der Praxis inklusiv ist. Die Initiative „Unsere Stimme zählt“ plant weitere Veranstaltungen, um den Druck auf politische Entscheidungsträger*innen zu erhöhen und echte Veränderung zu bewirken.
Etos.media: Werden die Interessen arabischer Deutscher in der Politik genug beachtet?
Basem Said: Die klare Antwort lautet: Nein. Arabische Deutsche sind ein fester Bestandteil dieser Gesellschaft, sie arbeiten, zahlen Steuern, engagieren sich sozial und politisch. Doch wenn es darum geht, ihre Interessen und Perspektiven in der Politik sichtbar zu machen, werden sie oft ignoriert oder bewusst ausgeschlossen. Die jüngsten Absagen der Grünen und der SPD an unsere Initiative, mein eigener Austritt aus der Grünen Partei sowie der Ausschluss von Ramsi Kilani sind deutliche Zeichen dafür, dass arabische Stimmen nicht gehört werden sollen, wenn sie eigene Positionen vertreten.
Grüne und SPD betonen immer wieder Vielfalt und Antidiskriminierung, doch in der politischen Praxis bleibt die Repräsentation von Menschen mit arabischen Wurzeln unzureichend. Selbst innerhalb progressiver Parteien stoßen arabische Mitglieder schnell an Grenzen, sobald sie ihre eigene Perspektive einbringen, besonders, wenn es um Themen wie strukturellen Rassismus, soziale Gerechtigkeit oder die deutsche Außenpolitik im Nahen Osten geht.
Mein Austritt aus den Grünen war eine Konsequenz genau dieser Entwicklung. Ich habe lange versucht, innerhalb der Partei für eine ausgewogene, menschenrechtsbasierte Politik zu kämpfen, doch immer wieder wurde deutlich, dass kritische Stimmen, insbesondere zur deutschen Nahostpolitik, unerwünscht sind. Der Fall von Ramsi Kilani zeigt dies noch drastischer: Er wird ausgeschlossen, weil seine Stimme nicht ins politische Narrativ passt. Wer sich für palästinensische Menschenrechte einsetzt, wer die deutsche Einseitigkeit in diesem Konflikt hinterfragt, wird aus dem politischen Raum verdrängt.
Das betrifft nicht nur Einzelpersonen, sondern eine gesamte Gemeinschaft. Arabische Deutsche erleben in Deutschland eine zunehmende Stigmatisierung. Islamfeindlichkeit nehmen zu, arabische Organisationen werden diffamiert oder verlieren ihre Fördermittel, und die öffentliche Debatte über unsere Herkunft ist oft von Vorurteilen geprägt. Die Absagen von Grünen und SPD an unsere Initiative sind Teil dieser strukturellen Ausgrenzung: Wir sollen nicht als eigenständige politische Kraft auftreten, sondern bestenfalls als marginalisierte Minderheit, die sich still in bestehende Parteistrukturen einfügt.
Besonders deutlich wird das in der deutschen Außenpolitik. Während die Bundesregierung auch mit Unterstützung von Grünen und SPD klare Positionen im Nahen Osten einnimmt, werden palästinensische und andere arabische Perspektiven systematisch ausgeblendet. Wer sich in Deutschland offen zu Menschenrechtsverletzungen in Palästina äußert oder die deutsche Unterstützung autoritärer Regime in der arabischen Welt kritisiert, wird schnell als „problematisch“ dargestellt. Veranstaltungen werden abgesagt, Organisationen verlieren ihre Fördermittel, und arabische Aktivist:innen werden diffamiert.
Diese einseitige politische Haltung zeigt sich auch in der Art und Weise, wie unterschiedliche Gruppen in Deutschland wahrgenommen werden. andere politische Organisationen oft breite Unterstützung erhalten, wird eine arabische Initiative sofort kritisch hinterfragt selbst wenn sie sich für universelle Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit einsetzt. Das zeigt, dass in der deutschen Politik weiterhin bestimmte Gruppen mehr Einfluss haben als andere.
Die Absagen der Grünen und der SPD an unsere Initiative, mein Parteiaustritt und der Ausschluss von Ramsi Kilani sind daher ein deutliches Signal: Die politischen Strukturen in Deutschland sind noch nicht bereit, arabische Stimmen als gleichberechtigten Teil der politischen Landschaft zu akzeptieren. Doch anstatt uns entmutigen zu lassen, sehen wir darin eine Bestätigung, dass unsere Initiative notwendig ist. Wenn etablierte Parteien unsere Perspektiven nicht einbeziehen wollen, dann müssen wir unsere eigene politische Kraft aufbauen.
Wir werden weiterkämpfen für echte politische Repräsentation, für gleiche Rechte und für eine Gesellschaft, in der arabische Stimmen nicht nur geduldet, sondern als essenzieller Teil der Demokratie anerkannt werden. Denn wir sind hier, wir sind ein Teil dieser Gesellschaft, und wir haben das Recht, mitzubestimmen.
Etos.Media: Insbesondere der Krieg in Gaza hat für Unmut gesorgt, wie seht ihr den deutschen Diskurs zum Gazakrieg?
Basem Said: Der deutsche Diskurs zum Krieg in Gaza ist stark geprägt von Einseitigkeit und politischen Zwängen. Während Solidarität mit israelischen Opfern uneingeschränkt und selbstverständlich gezeigt wird, fehlt es an Empathie und Gerechtigkeitssinn, wenn es um palästinensische Zivilisten geht. Die massiven Menschenrechtsverletzungen in Gaza werden oft relativiert oder gar nicht thematisiert, und wer sich kritisch äußert, wird schnell mit Antisemitismusvorwürfen mundtot gemacht.
Besonders problematisch ist die Rolle der deutschen Politik, die nicht nur diplomatisch, sondern auch durch Waffenlieferungen und politische Rückendeckung zur Eskalation beiträgt. Statt sich für Frieden und Menschenrechte für alle einzusetzen, wird eine Politik der bedingungslosen Unterstützung einer Regierung verfolgt, die für Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht wird.
In den Medien und der öffentlichen Debatte erleben wir zudem eine erschreckende Repression gegenüber palästinensischen Stimmen und ihren Unterstützern. Veranstaltungen werden abgesagt, Redner*innen ausgeladen. Dieser Umgang zeigt nicht nur ein Demokratiedefizit, sondern auch eine besorgniserregende Doppelmoral in der Menschenrechtspolitik.
Für uns ist klar: Ein gerechter Frieden in der Region kann nur durch eine ehrliche und ausgewogene Debatte entstehen. Deutschland muss sich seiner Verantwortung bewusst werden und eine Politik verfolgen, die nicht Kriegsverbrechen legitimiert, sondern sich konsequent für Menschenrechte und Gerechtigkeit einsetzt für alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft. NIE WIEDER GILT FÜR ALLE
Etos.media: Was wünscht ihr euch von den Abgeordneten?
Basem Said: Wir erwarten von den Abgeordneten, dass sie sich klar und konsequent gegen Rassismus, Diskriminierung und die gesellschaftliche Marginalisierung von arabischen und muslimischen Communities positionieren. Es reicht nicht, in Wahlkampfzeiten symbolische Gesten zu zeigen es braucht nachhaltiges politisches Engagement. Konkret wünschen wir uns:
Eine gerechtere Außenpolitik, die Menschenrechte universell betrachtet und nicht mit zweierlei Maß misst, insbesondere in Bezug auf Palästina. Schutz der Meinungsfreiheit, insbesondere für palästinensische und solidarische Stimmen, die in Deutschland immer stärker unter Druck geraten. Konsequente Maßnahmen gegen antimuslimischen und antiarabischen Rassismus, sowohl im Alltag als auch in Institutionen, wie etwa in der Polizei, an Schulen oder auf dem Arbeitsmarkt.
Mehr politische Repräsentation, damit unsere Perspektiven nicht nur angehört, sondern auch aktiv in Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Die politische Landschaft muss sich grundlegend ändern, um sicherzustellen, dass arabische und muslimische Deutsche nicht nur als Wählerinnen wahrgenommen werden, sondern als gleichberechtigte Bürgerinnen mit legitimen politischen Forderungen.
Etos.Media: Ihr organisiert auch Beratungen von Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind, welche Beobachtungen konntet ihr bei antimuslimischem und antiarabischem Rassismus feststellen?
Basem Said: Unsere Beratungsarbeit zeigt, dass antimuslimischer und antiarabischer Rassismus in Deutschland weit verbreitet ist und verschiedene Formen annimmt: Auf institutioneller Ebene erleben Menschen häufig Benachteiligungen, etwa durch racial profiling bei Polizeikontrollen, Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche oder Diskriminierung im Bildungs- und Arbeitsmarkt. Besonders Frauen mit Kopftuch berichten von eingeschränkten Berufschancen und offenen Vorurteilen.
Im öffentlichen Raum nehmen verbale und physische Angriffe zu, insbesondere seit den jüngsten Eskalationen in Palästina. Menschen berichten von Anfeindungen, Hetze in den sozialen Medien und sogar Übergriffen.
In der Politik und Medienlandschaft beobachten wir eine zunehmende Dämonisierung arabischer und muslimischer Communities. Kritische Stimmen, die sich zu Menschenrechtsverletzungen in Palästina äußern, werden schnell stigmatisiert oder kriminalisiert.
Diese Entwicklungen sind besorgniserregend und zeigen, dass struktureller Rassismus weiterhin ein großes Problem ist. Es braucht klare politische Maßnahmen, unabhängige Beschwerdestellen und mehr Unterstützung für Betroffene, um diesen Formen der Diskriminierung wirksam entgegenzutreten.
Etos.media: Danke dir für das Gespräch.