Staatsräson, „Chilling Effect“ und Völkermord: Wie Deutschland abweichende Stimmen zum Schweigen bringt

Bild: www.montecruzfoto.org | CC BY-SA

In Deutschland herrscht ein Klima der Einschüchterung. Wer die Politik Israels kritisiert, wer Mitgefühl mit den Opfern in Gaza zeigt, wer sich auf Menschenrechte und internationales Recht beruft, riskiert Ermittlungen, Ausladungen oder den Verlust des Arbeitsplatzes.

Das Phänomen hat einen Namen: „Chilling Effect“, der abschreckende Effekt staatlicher, medialer und gesellschaftlicher Sanktionen, der Menschen dazu bringt, sich selbst zu zensieren. Es ist die Angst, für die eigene Meinung bestraft zu werden.
Im Kontext der deutschen Staatsräson bekommt dieser Effekt eine neue, bedrohliche Dimension. Denn er dient der Aufrechterhaltung eines politischen Dogmas, das sich über Menschenrechte hinwegsetzt und das Nachdenken über Schuld und Verantwortung in ihr Gegenteil verkehrt. Der Begriff stammt ursprünglich aus der Rechtswissenschaft. Er beschreibt die Hemmung, legitime Rechte auszuüben, wenn Sanktionen drohen, rechtlich, beruflich oder gesellschaftlich.
Doch der „Chilling Effect“ ist längst kein theoretisches Konzept mehr. In Deutschland erleben wir ihn auf offener Bühne: Menschen halten den Mund, weil sie wissen, was passiert, wenn sie es nicht tun.

Staatsräson als politisches Dogma

Am 12. Oktober 2023 erklärte der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz:

„Die Sicherheit in und für Israel muss wiederhergestellt werden, und darum muss Israel sich verteidigen können. In diesem Moment gibt es für Deutschland nur einen Platz: den Platz an der Seite Israels. Das meinen wir, wenn wir sagen: Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson.“

Zu diesem Zeitpunkt waren in Gaza bereits über 1.200 Menschen getötet, 5.600 verletzt und mehr als 338.000 vertrieben. Nur wenige Tage später, am 17. Oktober 2023, bekräftigte Scholz während eines Staatsbesuchs in Israel erneut die Formel der „Staatsräson“. An diesem Tag wurde das erste Krankenhaus in Gaza bombardiert, ein Kriegsverbrechen. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 4.200 Menschen getötet und etwa eine Million Menschen vertrieben.

Zwei Jahre später, im November 2025, liegt Gaza in Trümmern: über 67.000 Tote, darunter mindestens 20.000 Kinder, 169.000 Verletzte, davon Tausende Amputierte. Mindestens 459 Menschen sind durch Hunger gestorben.

Israels Premierminister Benjamin Netanyahu, gegen den ein internationaler Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen besteht, hat seine Drohung vom 7. Oktober 2023 wahrgemacht: „We will turn Gaza into a deserted island.“ Der israelische Armeesprecher Daniel Hagari erklärte:

„The emphasis is on damage and not on accuracy.“

Diese Aussagen ließen die Absicht zur Begehung von Völkermord erkennen – lange bevor internationale Institutionen dies offiziell feststellten. Am 1. November 2023 trat der Direktor des UN-Menschenrechtsbüros mit den Worten zurück: „Es ist ein Lehrbuchfall von Völkermord.“

Mittlerweile hat der UN-Menschenrechtsrat das Vorgehen Israels als Völkermord eingestuft. Israel steht seit Dezember 2023 vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH), Deutschland seit Januar 2024, wegen des Verdachts der Beihilfe.

Das Dogma der Staatsräson

Auch Bundeskanzler Friedrich Merz wiederholte im Oktober 2025 in Ankara: „Meine Regierung hat von Anfang an, seit dem 7. Oktober, an der Seite des Staates Israel und auch des jüdischen Volkes gestanden. Israel hat von seinem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch gemacht.“

Die „zahllosen unnötigen Opfer“ werden der Hamas zugeschrieben. Unbenannt bleibt das Ausmaß der israelischen Kriegsverbrechen, die Zerstörung jeder Lebensgrundlage in Gaza und die Tatsache, dass 70 % der getöteten Palästinenser Frauen und Kinder sind.

Ebenso bleibt unerwähnt, dass Israel seit fast 60 Jahren völkerrechtswidrig Gebiete besetzt und die Palästinenser ein völkerrechtlich verbrieftes Recht auf Widerstand haben. Die Staatsräson ist zur moralischen Rüstung einer Politik geworden, die Unrecht mit historischem Schuldgefühl legitimiert und Kritik daran als Illoyalität deutet.

„Haben wir aus dem Holocaust nichts gelernt?“

Die Frage, was die „aus dem Holocaust erwachsene Verantwortung“ eigentlich bedeutet, ist zentral. In Berlin wurde eine 30-jährige Frau vor dem Amtsgericht Tiergarten wegen Volksverhetzung verurteilt. Ihr „Vergehen“: Sie trug ein Schild mit der Aufschrift, „Haben wir aus dem Holocaust nichts gelernt? Nein zu der Ermordung von derzeit 8.500 Zivilisten in Gaza.“ Das Landgericht hob das Urteil auf, doch die Staatsanwaltschaft ging in Revision. Ein klassischer Chilling Effect: Ein einzelner Fall genügt, um tausende Menschen zum Schweigen zu bringen. Ist die Verantwortung aus dem Holocaust also, bei Kriegsverbrechen und Völkermord wegzusehen?

Repression im Namen der Moral

In Berlin laufen derzeit über 6.000 Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit dem „Nahostkonflikt“; 11.000 weitere beim LKA. Viele richten sich gegen Menschen, die sich friedlich äußern, mit Slogans wie „From the River to the Sea, Palestine will be free.“

Ein Satz, der weltweit als Ausdruck der palästinensischen Freiheitsbewegung verstanden wird, in Deutschland jedoch als Unterstützung der Hamas kriminalisiert wird.

Sechs UN-Sonderberichterstatter appellierten am 16. Oktober 2025 an die Bundesregierung, die Kriminalisierung und Gewalt gegen palästinasolidarische Aktivist:innen zu beenden. In keinem anderen Land wird dieser Slogan verfolgt.

Doch die politische Realität zeigt das Gegenteil: übermäßige Polizeipräsenz, präventive Verbote, Schikanen, Hausdurchsuchungen. Medien diffamieren Aktivist:innen und Künstler:innen, Unternehmen entlassen Mitarbeiter:innen wegen Social-Media-Posts, Veranstaltungen werden abgesagt, Räume entzogen, Fördergelder gestrichen. Das Ziel ist klar: Der „Chilling Effect“ soll die Staatsräson stabilisieren, indem Angst an die Stelle von Zivilcourage tritt.

Das Grundgesetz – oder die Staatsräson?

In der deutschen Verfassung stehen Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Die Staatsräson dagegen steht dort nicht. Sie ist ein politisches Konstrukt, geschaffen, um Unrecht den Anschein von Recht zu verleihen.
Der „Chilling Effect“ führt dazu, dass Bürger ihre Grundrechte nicht mehr ausüben, um Repressionen zu vermeiden. Doch genau darin läge die eigentliche Verantwortung aus dem Holocaust: Nie wieder schweigen, wenn eine Menschengruppe entrechtet, entmenschlicht oder ausgelöscht wird.

Das Wiederkehren des Schweigens

Täglich werden in Deutschland Wohnungen wegen kritischer Social-Media-Beiträge durchsucht. Zwei Bundestagsabgeordnete wurden auf Versammlungen von der Polizei geschlagen und misshandelt. Wie frei ist eine Gesellschaft, in der Worte zu Verbrechen erklärt werden?
In der Angst vor Übergriffen und staatlicher Verfolgung zur täglichen Begleiterin der Meinungsäußerung wird?

Der Preis der Zivilcourage

Diese Entwicklung erfasst immer weitere Teile der Gesellschaft.
Vielleicht ist sie noch aufzuhalten, durch Solidarität und Unterstützung jener, die den Preis der Freiheit zahlen: Menschen, die vor Gericht stehen, ihre Arbeit verlieren, oder öffentlich diffamiert werden, weil sie für das einstehen, was im Grundgesetz garantiert ist.

Denn die Freiheit stirbt nicht in einem Moment, sie stirbt in vielen kleinen Schritten des Schweigens.

Ein Beitrag von Melanie Schweizer, Rechtsanwältin spezialisiert auf internationales und transnationales Recht.

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