Kultur in Zeiten des Völkermords

Hunderte Ärzt*innen und Pflegekräfte in Gaza wurden in Zeiten des Völkermords von israelischen Kräften getötet.
“Falling in slow motion“, © Ann Kiernan

Berlin wandelt sich von der Kulturhauptstadt zur Zensurhauptstadt: Künstler*innen, die sich mit Palästina solidarisieren, werden gecancelt, überwacht und kriminalisiert – während sich Institutionen wegducken, Medien anheizen und der Kulturhaushalt radikal gekürzt wird. Der Text von Kulturschaffenden der Arts & Culture Alliance Berlin zeichnet ein dichtes Bild aus Einschüchterung, Pressekampagnen und Polizeigewalt – aber auch aus neuem Zusammenhalt von unten. Ein wachsendes Netz solidarischer Kollektive stellt sich dem kulturellen Kahlschlag entgegen. Zwischen Staatsräson und Sparpolitik zeigt sich: Wo Gatekeeper versagen, organisiert sich eine neue, transnationale Kulturbewegung, die Kulturfreiheit nicht verhandelt, sondern verteidigt.

Lesezeit circa 30 Minuten

In nur wenigen Jahren hat sich die Kulturlandschaft Deutschlands radikal verändert, wobei ihre Hauptstadt Berlin, ehemals ein international bewunderter Sehnsuchtsort, inzwischen dystopische Züge angenommen hat – sie ist nun eher Zensurhauptstadt als Kulturhauptstadt. Reaktionären Trends und Traditionen auf internationaler Ebene folgend, sind Kunst und Kultur für die politische und mediale Klasse von Rechts (inklusive Antideutschs) bis Mitte zunehmend zum Feindbild geworden. Währenddessen hat sich die Kulturszene gespalten, verkleinert, erneuert und politisiert.

Da immer mehr Grundrechte im Namen der genozidalen Staatsräson eingeschränkt werden, sind Kulturschaffende, die sich solidarisch mit Palästina äußern, systematisch ins Visier genommen worden. Innerhalb der Kulturbranche wurden Exempel statuiert und Existenzen zerstört, wie in kaum einer anderen Branche möglich, da die weitgehend prekären Arbeitsverhältnisse in der Kultur eine einzigartige Angreifbarkeit mit sich bringen. Andererseits – in einem Markt, der von ausgesprochen großem Konkurrenzdruck gekennzeichnet ist – gibt es zunehmend Solidarisierung und Zusammenhalt, wie sie in Deutschland in anderen Branchen selten zu sehen sind.

Berlin ist Post-Over

Deutschland war einst neben den USA, Großbritannien, Frankreich und der Schweiz Schauplatz des „prestigeträchtigsten” Kulturgeschehens im Westen, sei es in den darstellenden oder bildenden Künsten, im kommerziellen Bereich oder bei den Schwergewichten der subventionierten Kultur. Aufstrebende junge Künstler*innen waren bereit, alles zu tun, um an der Städelschule in Frankfurt aufgenommen zu werden, während „mid-career“ Künstler*innen massenhaft nach Berlin strömten, um dort günstig zu leben und zu arbeiten und das zu genießen und mitzugestalten, was einst Berlins attraktivstes Merkmal war: die Freiheit. Nun erkennen viele, dass das, was als Freiheit gelesen wurde, in Wirklichkeit nur eine hohe Schwelle für Hedonismus war, die wiederum selbst nur dann erlaubt war, wenn sie innerhalb von autorisierten, festgelegten Grenzen stattfand. Doch selbst der Reiz des Hedonismus verliert seinen Glanz, wenn gewalttätige Polizeitruppen zum alltäglichen Anblick werden und Kolleg*innen, Freund*innen und Nachbar*innen eingeschüchtert, schikaniert, entlassen, verhaftet und geschlagen werden, weil sie – wie die überwiegende Mehrheit der globalen und sogar der deutschen Bevölkerung – Völkermord ablehnen.

Nach zwei Jahren zunehmender Feindseligkeit und pauschaler Verdächtigungen gegenüber Kunst und Kultur, nach Haushaltskürzungen für Kultur, gepaart mit der üppigen Finanzierung von Propaganda, nach wachsendem Druck auf Institutionen, Künstler*innen zu zensieren, sowie nach viel vorweggenommenem Gehorsam ihrerseits, ist das müde Bonmot „Berlin is over“ allgegenwärtig.

Medien als Zensuranstifter

Diejenigen, die Selbstzensur ablehnen, aber weiterhin künstlerisch arbeiten wollen, haben oft keine andere Wahl, als die Stadt oder das Land zu verlassen – insbesondere diejenigen, deren Identität inzwischen in Richtung Status Staatsfeind eingestuft wird: linke Juden und Jüdinnen, Palästinenser*innen, Araber*innen, Muslim*innen, People of Color. Ein Exodus ist im Gange, und es ist schwer zu sagen, wer darüber mehr erfreut ist – die Anti-Woke-Kulturkrieger in der Chefetage des Axel-Springer-Hauses oder die neofaschistische AfD und die damit einhergehende, metastasierende Fraktion der CDU, die deckungsgleiche Positionen mit der AfD vertritt. Die Kulturschaffenden, die in Deutschland bleiben, sagen oft, sie hätten keine Wahl: Sie müssen sich um gebrechliche Eltern kümmern, haben Kinder in der Schule, Partner*innen mit ortsgebundenem Arbeitsplatz. Und schließlich gibt es noch diejenigen, die bleiben, um für diejenigen zu kämpfen, die nicht gehen können.

Diejenigen, die (Selbst-)Zensur nicht ablehnen, die sie als notwendigen Preis für die Teilnahme am schwindenden kulturellen Leben Deutschlands betrachten, müssen eine Reihe von Vorsichtsmaßnahmen treffen und Bedingungen akzeptieren. Als Kulturschaffende*r muss man damit rechnen, dass die eigenen Social-Media-Beiträge und „Likes” von pro-israelischen deutschen Journalist*innen und Aktivist*innen überwacht werden, selbst wenn man kaum bekannt ist. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Journalist*innen nicht nur Texte schreiben, in denen Künstler*innen etwa aufgrund von Instagram-Likes für „Free Palestine” als antisemitische Terrorismus-Sympathisant*innen dargestellt werden, sondern sie und die Organisationen, mit denen sie zusammenarbeiten, sogar zum Zwecke schikanieren, dass Arbeitsverhältnisse, Ausstellungen und Preise der Künstler*innen abgesagt werden. So geschah es im Fall der mexikanischen Malerin Frieda Toranzo Jaeger, deren Stipendium und Ausstellung von der Günther-Peill-Stiftung gestrichen wurden, nachdem der freiberufliche Kunstkritiker Kito Nedo eine E-Mail-Kampagne gegen ihre ablehnende politische Haltung zum Völkermord gestartet hatte. Man sollte sich bewusst sein, dass die meisten deutschen Institutionen sich leicht und rasch durch ein paar E-Mails von Randfiguren einschüchtern lassen.

Es fällt auf, dass, wenn pro-israelische Journalist*innen tatsächlich Texte im Rahmen ihres Aktivismus gegen pro-palästinensische Künstler*innen veröffentlichen, ihre Ziele häufig jüdisch oder jüdischer Abstammung sind, wie auch Toranzo Jaeger, und dass sie sich nicht an den grundlegenden Standard der Presseethik halten, ihre Zielscheiben vor der Veröffentlichung Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Dies war der Fall, als E-Mails des Springer-Journalisten Boris Pofalla an die HfG Karlsruhe und das Wissenschaftsministerium Baden-Württemberg zur Beendigung der Gastprofessur von Adam Broomberg führten, und auch als der Freiberufler und Ex-Künstler Jonathan Guggenberger, der sich früher selbst als Jude bezeichnete, diese Identität aber scheinbar inzwischen wieder abgelegt hat, in der taz diffamierende Falschaussagen über die Künstlerin Candice Breitz schrieb, was zur Absage ihrer Einzelausstellung im Saarlandmuseum führte.

Institutionen als Zensurinstanzen

Man muss damit rechnen, dass jeder offene Brief, den man in den letzten 20 Jahren unterzeichnet hat, mit nicht wohlwollenden Absichten unter die Lupe genommen wird. Man sollte davon ausgehen, dass Verträge Geheimhaltungsvereinbarungen (NDAs) und Klauseln enthalten, die es ermöglichen, dass die eigenen Rechte leicht aufgehoben werden können. Man sollte nicht erwarten, als Erste*r davon zu erfahren, wenn man gecancelt, zensiert oder diffamiert wird. Man sollte keine Solidarität oder Schutz von einer Institution erwarten – im Gegenteil: Die Institution erwartet in der Regel die Solidarität des ihr machthierarchisch unterlegenen Kulturschaffenden, das heißt Schweigen und Gehorsam.

Die ideale Zensur oder Kündigung sollte diskret hinter verschlossenen Türen erfolgen, ohne Aufsehen und schon gar nicht öffentlich. Die betroffene Person sollte sich damit abfinden, dass die Kündigung als gemeinsame Entscheidung dargestellt wird. Diese Variante der Zensur wurde von mindestens eine*r Künstler*in der diesjährigen, viel kritisierten 13. Berlin Biennale beschrieben. Wie in den allermeisten Fällen gab es keine Berichterstattung, es schlug keine Wellen, es gab nicht einmal einen Beitrag in sozialen Medien. Initiativen wie Archive of Silence oder Index of Repression (betrieben von ELSC/Forensis) dokumentieren zwar öffentliche Fälle von Zensur, doch sie zeigen nur die Spitze des Eisbergs: Die Angst vor Vergeltungsmaßnahmen hält die meisten Opfer von Zensur davon ab, an die Öffentlichkeit zu gehen – und je höher der berufliche Status einer Person ist, desto wichtiger ist Diskretion, um diesen zu erhalten.

Diejenigen, die bereit sind, ihre Erfahrungen mit der Presse zu teilen, finden oft keine Pressevertreter*innen, die bereit sind, darüber zu berichten. Da ein Großteil der deutschen Presse im schlimmsten Fall Kulturschaffende aktiv diffamiert und cancelt, oft zumindest Zensur leugnet oder herunterspielt, und bestenfalls durch Angst vor rechtlichen Vergeltungsmaßnahmen und davor, selbst zum Ziel von Verleumdungskampagnen zu werden, teilweise paralysiert und nur selten hierzu berichtet, scheint die Beschreibung vom tatsächlichen Ausmaß der Zensur vor allem im kollektiven Bewusstsein der Kunstszene zu existieren, das sich aus persönlichen Gesprächen, Gruppenchats mit Autolöschfunktion, flüchtigen Instagram-Stories und anderen kurzlebigen Kommunikationsformen speist.

Profs an der Kanzel des philosemitischen McCarthyismus

Der von Susan Neiman popularisierte Begriff „philosemitischer McCarthyismus” bietet erstaunten Beobachter*innen Deutschlands ein hilfreiches Paradigma zum Verständnis der Kollateralschäden der Staatsräson.

Bekanntere Persönlichkeiten der deutschen Kunstwelt wie Jörg Heiser, Manfred Pernice und Hito Steyerl gaben Anfang 2024 ein Beispiel für die Strategie, sich in Deutschland Respekt zu verschaffen, indem man internationalen Respekt einbüßt, als sie eine Erklärung unterzeichneten, die auf der Website der UdK Berlin veröffentlicht wurde, an der alle drei Professuren innehaben. In der Erklärung wurden ihre Studierenden, die auf dem Campus gegen Völkermord demonstrierten, als „antisemitisch” bezeichnet, darüber hinaus wurde darin Antisemitismus mit Kritik an Israel gleichgesetzt:

„Wir verwehren uns gegen an der Hochschule kursierende Narrative, die Antisemitismus und Rassismus als Gegensätze darstellen, den Verteidigungskrieg Israels mittels einer Verkürzung postkolonialer Theoriebildung als koloniale Mission und Israel als Regime der Apartheid klassifizieren und den Terror der Hamas als Freiheitskampf verschleiern.”

Nach der Veröffentlichung der Erklärung fuhr Steyerl damit eine Weile fort, ihr foreigners just don’t understand-Narrativ zu verbreiten, und verteidigte die deutsche Staatsräson-Mentalität, bis sie schließlich weitgehend verstummte, nachdem sie ihren eigenen enormen Vorrat an internationalem Ansehen torpediert hatte. Schließlich entfernten Steyerl und Heiser stillschweigend und ohne Erklärung ihre Unterschriften von dem offenen Brief, was im Falle Steyerls gewisse Fragen zu Heuchelei aufwirft, hatte sie doch Künstler*innen attackiert, die ihren Namen von einem pro-palästinensischen offenen Brief des ArtForum entfernt hatten, und von einem „Herdentrieb“ philosophiert, der Künstler*innen dazu bringe, „ohne sorgfältiges Nachdenken zu unterschreiben“.

Die UdK war Schauplatz einer der bösartigsten Pressekampagnen gegen studentischen Aktivismus der letzten Jahre, angefeuert durch den damaligen Präsidenten und heutigen UdK-Professor Norbert Palz – der dem Amt nach eigentlich für den Schutz seiner Studenten verantwortlich hätte sein sollen. Ein F.A.Z.-Artikel von Claudius Seidl, der den Auftakt der Kampagne darstellt, wurde nun vom deutschen Presserat offiziell missbilligt. Die Missbilligung enthüllte, dass Palz nicht nur seine Studierenden, sondern auch einen Mitarbeiter der Universität in der Presse diffamiert hatte. Ein Auszug aus dem Artikel spricht für Palz‘ respektlose Haltung, die beinahe an paranoiden Hass gegenüber seinen Studenten grenzt:

„Norbert Palz sagt, er habe in einen Abgrund geschaut – einen Abgrund allerdings, dessen Existenz er seit Langem geahnt habe. Viele Studenten lehnten das ganze System als rassistisch und kolonialistisch ab, ohne aber über Instrumente der Analyse zu verfügen oder eine Vorstellung davon zu haben, was sie an dessen Stelle setzen wollten. Hauptsache, es gehe kaputt; bis dahin könne man aber noch ein Stipendium beantragen.”

– Claudius Seidl, „Die Politik der Verdammnis“, F.A.Z. (Missbilligung Presserat 2025)

Wenn Zensur nicht funktioniert, versuch‘s mit … Kriminalisierung als Teamwork

„Die KBB vereint die Berlinale, die Berliner Festspiele mit dem Gropius Bau und das Haus der Kulturen der Welt (HKW).“

Als Kunststudent*in und Aushilfskraft der Berlinale 2024, Rami Parviz (Name geändert), den Satz „from the river to the sea” in eine interne E-Mail an andere Mitarbeiter des Filmfestivals schrieb, wurde they wegen „mutmaßlich kriminellen Verhaltens” bei der Polizei angezeigt, was zu einem vorhersehbaren Rattenschwanz führte, der Parviz‘ Existenz gefährdet. Laut einer E-Mail von Florian Weghorn, Chief of Staff der Berlinale, beschloss die Geschäftsführung der KBB (Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH) – Tricia Tuttle, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Matthias Pees und Charlotte Sieben – einstimmig, Parviz aufgrund der E-Mail bei der Polizei anzuzeigen.

Dieser Fall von Denunziation wurde durch eine Reihe von Instagram-Posts von Strike Germany öffentlich gemacht, fand jedoch trotz vieler bemerkenswerter Aspekte keine weitere Berichterstattung. Parviz hat inzwischen die Universität absolviert, war jedoch einst Studierende*r von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, dem derzeitigen Direktor des HKW – Ndikung war einer von deren Professoren an der Städelschule in Frankfurt. Seit deren Abschluss befindet sich Parviz in einer rechtlichen Grauzone: Der Antrag auf ein Visum, das they für die Arbeitssuche benötigt, wurde aufgrund der erhobenen Anklage ausgesetzt. Im Falle einer Verurteilung droht die Abschiebung – doch ein Ende des gegen them laufenden Verfahrens ist nicht in Sicht, da der Prozess derzeit auf unbestimmte Zeit vertagt wurde. Das bedeutet, dass Parviz solange keine Vollzeitstelle im Land suchen kann.

„Die anhaltende Unterdrückung und Bestrafung pro-palästinensischer Stimmen in Deutschland zeigt einmal mehr, wie tief die Strukturen der Kontrolle und Zensur reichen. Die Cancellations, Kürzungen der Kulturfördermittel, juristischen Strafen und Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten machen deutlich, dass die historisch relevanten Unterdrückungssysteme nie (vollständig) abgeschafft wurden, sondern sich vielmehr in die pro-palästinensische Repression und Rassendiskriminierung verwandelt haben, mit denen wir heute konfrontiert sind.“

– Rami Parviz (Name geändert)

Als es im Hamburger Bahnhof während Tanya Brugueras partizipativer Lesung von Hannah Arendt am selben Tag zu zwei pro-palästinensischen Interventionen kam, entfaltete die Staatsräson erneut ihren Zauber. Wie Parviz erhielten mehrere der Demonstrierenden im Hamburger Bahnhof von der Polizei Berlin offizielle Ermittlungsanzeigen wegen der Verwendung eines „Slogans einer verbotenen terroristischen Vereinigung“, was sich auf „from the river to the sea / Palestine will be free“ bezog. Demonstrierende, die nur bei der ersten Aktion anwesend waren, zu der sie ausdrücklich von Tanya Bruguera eingeladen worden waren, werden ebenfalls wegen des Slogans angeklagt, obwohl dieser während ihrer Aktion nicht skandiert wurde. In Gerichtsverfahren im ganzen Land wurde wiederholt festgestellt, dass der Slogan gegen keine Gesetze verstößt.

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Die Berliner Staatsanwaltschaft hat in den letzten zwei Jahren im Zusammenhang mit dem sogenannten „Nahostkonflikt“ rund 6.400 Verfahren eingeleitet, von denen mehr als die Hälfte wegen Mangels an hinreichendem Verdacht eingestellt wurden, viele der verbliebenen mit Freisprüchen oder Verurteilungen zu milden Strafen ausgingen – bisher gab es nur drei Freiheitsstrafen und 16 Bewährungsstrafen, von denen einige wahrscheinlich noch angefochten werden. Was die Flut von leichtfertigen Anklagen der Staatsanwaltschaft, die vermutlich zur Einschüchterung dienen sollen, jedoch tatsächlich bewirkt, ist eine effektive Lähmung des Justizapparats.

Staatsräson-Schwelgerei

Während sich in den letzten Monaten Menschen auf der ganzen Welt in Solidarität mit Palästina erhoben – in Italien kam es zu Generalstreiks, Hafenarbeiter*innen in ganz Europa stoppten Waffenlieferungen, Flottillen mit Menschen aus über 40 Nationen, darunter auch Berliner Kulturschaffende, machten sich auf den Weg nach Gaza, und weltweit kam es zu Massendemonstrationen –, posierte die frischgebackene Berliner Kultursenatorin Sarah Wedl-Wilson während des aktiven Völkermords für ein Fotoshooting mit dem israelischen Botschafter Ron Prosor.

 
 
 
 
 
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Wedl-Wilson tritt in die Fußstapfen ihres in Ungnade gefallenen Vorgängers Joe Chialo, der mit seinem Versuch scheiterte, eine äußerst unpopuläre „Antidiskriminierungsklausel” durchzusetzen, die alle Empfänger*innen von Fördermitteln des Kultursenats dazu verpflichtet hätte, sich an die „erweiterte” IHRA-Definition von Antisemitismus zu halten, die Kritik an Israel mit Antisemitismus gleichsetzt. Man fragt sich, wie die Geschichte auf diese Bilder von Politiker*innen zurückblicken wird, die eigentlich für die Kunstförderung zuständig sind, und mit strahlenden Lächeln Diplomaten und Lobbyisten die Hand schütteln, die an vorderster Front für die Legitimierung eines grausamen Völkermords stehen.

Das Engagement von SPD und CDU (Regierungskoalition sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene) für die rechtsextreme, völkermörderische Politik Israels endet nicht mit Fototerminen – die Parteien lassen den Bildern Taten folgen. Der Bundeshaushalt stellt fast neun Millionen Euro für die Mansour-Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention (MIND) bereit, eine pro-israelische Organisation, die Muslim*innen als einheitlich radikalisierungsanfällig darstellt und versucht, anti-israelische Stimmungen in arabischen und muslimischen Gemeinschaften als Folge eines inhärenten religiösen Problems darzustellen.

Auch für die DIG (Deutsch-Israelische Gesellschaft), eine pro-israelische Lobbyorganisation, die für die virulenten Äußerungen ihres Präsidenten Volker Beck gegen Palästinenser*innen bekannt ist – von Vergleichen mit Hitler bis hin zu Andeutungen, Gaza habe seine vollständige Zerstörung verdient – werden von deutschen Steuerzahler*innen viele öffentliche Mittel bereitgestellt. Das Auswärtige Amt gewährt der DIG jährlich einen Zuschuss von über 540.000 Euro, um ihre ca. 290.000 Euro an Mitgliedsbeiträgen aufzustocken, und die Berliner Kulturverwaltung hat ihr 2025 weitere 200.000 Euro bewilligt. Wie Lobbyarbeit für ein (Genozid begehendes) Drittland als „förderwürdige Kultur” gelten kann, bleibt ein Rätsel.

Seit Oktober 2023 wurden weitere Millionen Euro an Fördermitteln für Projekte im Rahmen des „Aktionsfonds zur Unterstützung von Projekten gegen Antisemitismus” bereitgestellt. Diese Mittel flossen unter anderem in eine ganze Reihe vehement pro-israelischer Hasbara-Projekte von Gruppen wie dem​​​​​​​ JFDA (Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus), das als eine Art Überwachungs- und Diffamierungsorganisation mit Fokus auf pro-Palästina Demonstrationen zu agieren scheint (siehe das von ihnen gepostete Video, in dem sie „Steckt euch Palästina in den Arsch!“ skandieren). Weitere Empfänger der Fördermittel ist der Verein Masiyot, der die Broschüre Mythos#Israel1948 für Berliner Schulen herausgab, sowie zwei separate Projekte von Düzen Tekkal, die sich selbst als Galionsfigur des pro-israelischen Diskurses über sicherheitsorientierte Integration positioniert. Ein Jurymitglied für die Projekte 2025 war der anti-deutsche Journalist Nicholas Potter, der mit seinen Kolumnen wie „Können Journalisten Terroristen sein?” traurige Berühmtheit erlangt hat, in denen er Journalisten, die unter der israelischen Besatzung und dem Völkermord arbeiten, als Terroristen und damit als legitime militärische Ziele darstellt. (In der ursprünglichen Version des Beitrags war der Titel noch als Aussage, nicht als Frage formuliert: „Wenn Journalisten auch Terroristen sein können“.) Hinzu kommen 1,4 Millionen Euro, die die Stadt Berlin für die peinliche Gräuel-Propaganda-Ausstellung „Nova” in Tempelhof bereitgestellt hat. Hier als weiterer Fototermin der CDU zu sehen: der brandneue Antisemitismusbeauftragte des Kultursenats Georg Gremske posiert mit dem israelischen Botschafter Ron Prosor. Ebenfalls abgebildet ist der Berliner Bürgermeister Kai Wegner, der auf eine Frage zum Völkermord mit den berüchtigten Worten „Es findet nicht statt. Punkt.” antwortete.

Ursprünglich war der Titel von Potters Stück als Aussage, nicht als Frage formuliert (siehe etwa dieser Facebook-Post). Dann kam der Shitstorm …

Antisemitischer Anti-Antisemitismus

Das parteiübergreifende Virtue Signaling deutscher Politiker rund um den Anti-Antisemitismus, das nicht ohne häufige selbst antisemitische Ausrutscher einhergeht (wie Friedrich Merz’ Bezeichnung für die israelische Flagge: „Judenflagge“) wird nun von der Rechten als wirksamer Rammbock eingesetzt, um jeglichen Widerstand gegen Kürzungen im sozialen und kulturellen Bereich zu zerschlagen. Es ist zwar kein Geheimnis, dass die rechtsextreme AfD und die rechtskonservative Union in der Vergangenheit und Gegenwart richtige Antisemit*innen und Faschist*innen beherberg(t)en, aber der performative Anti-Antisemitismus bietet ihnen ein praktisches Instrument, um nicht nur ihre bevorzugten Sündenböcke – Muslime, PoC-Einwanderer und Linke – anzugreifen, sondern auch alle und alles, was sich mit Palästina solidarisiert. Dazu gehören paradoxerweise auch unverhältnismäßig viele Jüdinnen und Juden. Während sich die jüdische Bevölkerung Deutschlands nie vom Holocaust erholt hat und heute nur noch etwa 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, sind schätzungsweise über 20 Prozent der Künstler*innen, die wegen ihrer pro-palästinensischen Haltung öffentlich geächtet wurden, Jüdinnen und Juden – eine unverhältnismäßig hohe Quote, die zeigt, dass Jüdinnen und Juden wesentlich häufiger als durchschnittlich an den Pranger gestellt worden sind.

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Es ist mittlerweile allgemein anerkannt, dass instrumentalisierte, falsche Antisemitismusvorwürfe auf unglaublich gefährliche Weise als Waffe eingesetzt werden und den Antisemitismusbegriff derartig entgrenzen und verwässern, dass sie den Kampf gegen tatsächlichen Antisemitismus erschweren. Dennoch bleibt die Taktik fruchtbar, unter anderem als Rechtfertigung von Fördermittelkürzungen und -entzug.

Rammbock Sparpolitik

Der Kulturhaushalt in Berlin wurde für 2025 um 13 Prozent gekürzt, was einem Rückgang von 130 Millionen Euro entspricht, nachdem er im Vorjahr bereits empfindlich gekürzt worden war. Für 2026 sind weitere Kürzungen in Höhe von schätzungsweise 90 bis 140 Millionen Euro vorgesehen. Dies wird zu massiven Entlassungen, dem Aus von Veranstaltungsorten und Projekten, dem Verlust von Arbeitsräumen und einer weiteren Entrechtung von Künstler*innen aus der Arbeiterklasse führen. Unterdessen müssen die Universitäten Kürzungen in Höhe von aktuell 370 Millionen Euro hinnehmen, und auch die Mittel für gemeinwohlorientierte und klimaschutzbezogene Investitionen im öffentlichen Raum wurden stark gekürzt. Diese Kürzungen sind eindeutig ideologisch motiviert. Sie entsprechen dem seit langem erklärten Ziel der AfD, die Finanzierung von Projekten zu kappen, die kulturellen Pluralismus, Antirassismus, Feminismus, LGBTQ+-Themen, dekoloniale Theorie, Klimagerechtigkeit oder alles andere fördern, was der neofaschistischen Vision von nationalistischen, konservativen, regressiven deutschen Werten zuwiderläuft.

Die AfD nutzt den deutschen Philosemitismus aus, um ihre Angriffe auf Einwanderer zu legitimieren. Sie war die erste Partei, die 2019 ein Verbot der BDS-Bewegung vorschlug, das dann schnell von SPD, CDU/CSU, FDP und Grünen übernommen wurde, und sie hat inzwischen ihr Spielbuch erweitert, um Antisemitismus und Staatsräson in einer Vielzahl von Themen zu ihrem Vorteil zu instrumentalisieren. Mit ihrer pro-Israel-Politik haben AfD und Union eine Erfolgsformel gefunden, um Islamophobie salonfähig zu machen und SPD und Grüne in einen Wettkampf zu drängen, wer der stärkere Verbündete Israels – und damit nicht antisemitismusverdächtig – ist. Immerhin funktioniert das bei der Linken nicht mehr – seitdem klar wurde, dass die Antideutschs die innerparteiliche Diskurshoheit endgültig verloren haben.

Während die Kürzungen im Kulturbereich zunehmen, steigt das Budget der Berliner Polizei. Diese hat massive Überstunden angehäuft, um ihre angebliche Notwendigkeit zu beweisen. Unter dem Vorwand, „verbotene Parolen zu verhindern”, provoziert sie fast jeden gewalttätigen Vorfall bei Pro-Palästina-Demonstrationen und sorgt regelmäßig für internationale Schlagzeilen, indem sie Demonstrierende bis zur Einweisung ins Krankenhaus zusammenschlägt, Frauen schwer misshandelt und Minderjährige jagt, festnimmt und traumatisiert. Erst am Donnerstag hat eine Gruppe aus sechs UN-Sonderberichterstatter*innen Deutschland gerügt und gefordert, „die Kriminalisierung und Polizeigewalt gegen Palästina-Solidaritätsaktivitäten zu stoppen“.

Einige Beispiele für empörende Polizeigewalt allein aus der letzten Woche: Der rassifizierte Vater eines 3-Jährigen wurde festgenommen, während er sein kleines Kind im Arm hielt, und dann vor den Augen seines weinenden Kindes verschlagen. Zwei verschiedene Abgeordnete, die als parlamentarische Beobachter*innen bei zwei Demos anwesend waren, wurden ins Gesicht geschlagen, einer von ihnen wurde verhaftet. Da es in Deutschland keine unabhängige Polizeiaufsichtsbehörde gibt, kann die Polizei in der Regel völlig straffrei handeln, was zu einem weit verbreiteten Einsatz übermäßiger Gewalt und zu falschen Anschuldigungen mit geringen bis keinen Konsequenzen für ertappte Beamte führt.

Polizeigewalt in Deutschland hat mit den Angriffen auf die Palästina-Solidarität ganz neue Dimensionen erreicht.
“Freedom of Brutality”, © Ann Kiernan

Die Absurdität, unter dem Deckmantel der Sicherheit mehr öffentliche Gelder für dieses Theater der Gewalt bereitzustellen, wird noch verstärkt durch die Behauptung der Berliner Polizeikommissarin Barbara Slowik, dass die meisten antisemitisch motivierten Gewalttaten gegen die Polizei gerichtet seien – einer Bevölkerungsgruppe, die überwiegend aus weißen, nichtjüdischen Deutschen besteht und ein ernsthaftes Problem mit Rechtsextremismus hat. Behauptungen dieser Art verdeutlichen die weit verbreitete Praxis von an sich zweifelhaften oder zweifelhaft dargestellten Antisemitismus-Statistiken durch Organisationen wie RIAS – ein Phänomen, das derzeit von der Diaspora Alliance untersucht wird.

Wo sind die Kulturorganisationen?

Organisationen und Institutionen, die normalerweise einen starken Widerstand gegen solche massiven Kürzungen auf die Beine gestellt hätten, sind im Zuge von Antisemitismusvorwürfen, Angst vor diesen und im Kontext dessen stehender vorauseilender Gehorsam ins Straucheln geraten. Zu Beginn des Völkermords im Gazastreifen kam es zu einer Spaltung der Mitarbeiter*innen und Mitglieder deutscher Institutionen[1] und Organisationen, meist entlang der Trennlinie zwischen weißen Deutschen, die nie im Ausland gelebt haben, und Menschen mit internationalem Hintergrund. Diese Spaltung überraschte einen Großteil der internationalen Gemeinschaft völlig und schwächte die Institutionen erheblich. Während die meisten Institutionen ein erzwungenes, steriles Schweigen zum Thema Palästina walten ließen, das durch hinter den Kulissen stattfindende Silencing-Maßnahmen, Entlassungen von Mitarbeiter*innen und im Hinterzimmer einhegbare Konflikte aufrechterhalten wurde, versuchten einige gelegentlich, jeden öffentlichen Dissens zu unterbinden.

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Ein Beispiel dafür war die von der Gewerkschaft ver.di organisierte Demonstration „Berlin ist Unkürzbar” im Februar dieses Jahres, bei der der pro-palästinensische Block aus Kultur- und Sozialarbeitern von ver.di eingekesselt und der Bereitschaftspolizei übergeben wurde. Es kam zu mehreren willkürlichen Verhaftungen, darunter die eines Filmemachers, der nur wegen der Berlinale in der Stadt war. Er berichtete, dass er von der Polizei festgenommen und fälschlicherweise eines Raubüberfalls beschuldigt wurde, der sich Monate zuvor in Berlin ereignet hatte – zu einem Zeitpunkt, als er nicht in Europa war. Eine geplante Rede von Louna Sbou, der Direktorin vom Oyoun, der ersten Kulturinstitution, die aufgrund von Widerstand gegen Zensur Budget und Räumlichkeiten verlor, wurde in letzter Minute abgesagt, nachdem ihr mitgeteilt worden war, dass sie keine arabischen Wörter verwenden dürfe. Hier wiederholte eine Gewerkschaft die offensichtlich rassistischen Repressionsstrategien der Polizei, die bei vielen Protesten die Verwendung jeder Sprache außer Deutsch und Englisch verboten hatte – was zu tatsächlichen Verhaftungen wegen des Sprechens von oder Singens auf Arabisch, Irisch und anderen Sprachen geführt hatte. Keine einzige teilnehmende Organisation von „Berlin ist Unkürzbar“ verurteilte das harte Vorgehen, selbst als betroffene Mitglieder darum baten.

„Sprachlos” und realitätsfern

Wenn sie nicht gerade pro-palästinensische Kolleg*innen oder Mitglieder verfolgten oder zum Schweigen brachten, organisierten Berliner Initiativen gegen Budgetkürzungen wie „Unkürzbar” und „Berlin ist Kultur”, die von Gewerkschaften, Kulturverbänden wie die Mitgliedsorganisationen der Koalition der Freien Szene (KdFS) ins Leben gerufen wurden, unangemessene, taktlose Demonstrationen wie den „Trauermarsch” im November 2024.

Während Tausende von Berliner Kulturschaffenden seit über einem Jahr auf die Straße gingen, um gegen einen tatsächlichen Völkermord zu protestieren, der in Echtzeit mit Unterstützung Deutschlands stattfand, und um den Tod von bisher über 20.000 Kindern und Zehntausenden Erwachsenen zu betrauern, blieben die Organisationen, die Kulturschaffende vertreten, auffällig abwesend. Als sie sich dann entschlossen, eine Protestaktion mit dem Titel „Wir nehmen Abschied von der Kunst & Kultur – Berlin trauert“ zu veranstalten, wirkte ihre Darstellung der Budgetkürzungen nicht nur defätistisch, sondern auch völlig blind gegenüber der Trauer und dem Leid der vielen palästinensischen Einwohner Berlins, die Familienmitglieder und Freunde verloren hatten: reale, getötete Menschen, um die real getrauert wurde und wird. Ironischerweise lauteten Motto und Hashtag der Demo „wir sind sprachlos”: genau das, was die Demo-Veranstalter in Bezug auf den Völkermord und die Unterdrückung von Kulturschaffenden in Berlin, die wegen ihrer Unterstützung für Palästina extremer Repression ausgesetzt sind, waren und weiterhin sind – sprachlos.

Dass diese Kulturorganisationen oft überrascht reagieren, wie wenig Menschen an ihren Demonstrationen teilnehmen, sollte ein Zeichen dafür sein, dass ihre Führungen gefährlich realitätsfern sind. Während der Demonstration „Zusammen für Gaza“ am 27. Oktober 2025 – der mit über 100.000 Menschen größten Pro-Palästina-Demonstration in Deutschland – veranstaltete „Berlin Ist Kultur“ gleichzeitig ein „Protestfest“ in Charlottenburg, das von einem Dutzend Personen organisiert und von Dutzenden weiteren mitbeworben wurde. Doch der Protest mit einer großen Bühne in einem offenen Park zog nur etwa 40 Protestierende/Zuschauer*innen an, möglicherweise weniger Menschen als die Zahl der unterstützenden Organisationen.

Eine selbstverschuldete Wunde: Unfähigkeit zur Mobilisierung

„Diesem versuchen wir gerecht zu werden, indem wir hiermit noch einmal klarstellen, dass alle aufgefordert sind, extreme Meinungen nur als private Meinung zu bewerten – nicht als Stimme des bbk berlin.” – Statement des Vorstands des bbk, 21.03.2024

Es scheint ein systemisches Problem zu sein: Kulturelle Interessenverbände erzielen weder große Zahlen noch politische Wirkung, weil sie selbst dazu beitragen, die Positionen ihrer eigenen Gemeinschaft zu marginalisieren und zum Schweigen zu bringen. Die Koalition der Freien Szene bezeichnet sich stolz als „gegen kulturelle Boykotte” und bot Robbin Juhnke von der CDU – einem begeisterten deutschen Zionisten und (bis vor kurzem) Mitglied eines skandalträchtigen rechtsextremen Netzwerks – auf ihrer Sommerplenarsitzung eine Plattform.

Der bbk (Der Berufsverband Bildender Künstler*innen Berlin) zensierte seinerseits seine eigene „Arbeitsgruppe Antifaschismus“ wegen Plakaten, die die rechtsextreme Politik der CDU kritisierten. Außerdem veröffentlichte er ein Statement, in dem er seine eigenen pro-palästinensischen Vorstandsmitglieder wegen „extremer Meinungen” anprangerte und erklärte, „Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen widersprechen wir somit kategorisch”. Das Statement wurde laut Aussagen damaliger Vorstandsmitglieder gegen den Willen mehrerer Vorstandsmitglieder im Namen des gesamten Vorstands publiziert. Im Nachgang des Fiaskos traten alle Vorstandsmitglieder, die keine weißen Deutschen waren, entweder aus dem Vorstand aus oder entschieden sich, nicht für eine weitere Amtszeit zu kandidieren, und der bbk weigerte sich, die Rücktrittserklärung eines der Vorstandsmitglieder zu veröffentlichen.

Tatsächlich gaben mehrere dieser kulturellen Interessenvertretungen ihre Solidarität mit dem rechtskonservativen CDU-Senator Joe Chialo zum Ausdruck, der den Auftakt der Haushaltskürzungen umsetzte, und allgemein ganz sicher weder als Freund der Künstler*innen, der Kunstfreiheit noch der Kunst bezeichnet werden kann, als sein Wohnhaus mit roter Farbe bespritzt wurde. Sie weigerten sich jedoch ausdrücklich und beharrlich, Solidaritätsbekundungen mit den palästinensischen oder verbündeten Mitgliedern der eigenen Community abzugeben, darunter auch ihre eigenen zahlenden Mitglieder, die Zensur ausgesetzt waren oder bei Demonstrationen Opfer willkürlicher Polizeigewalt wurden. Diese Heuchelei hat die Basis der Organisationen geschwächt, da viele vom uninspirierten Opportunismus angewidert sind. Jene Positionen, die darauf abzielen, sich bei den CDU-/SPD-Bürokraten, die die Geldbörse im Kultursenat in der Hand haben, anzubiedern, haben sich in jeder strategischen Hinsicht als äußerst ineffektiv erwiesen und zu einer Spaltung der Basis der Berliner Kulturverbände geführt, während sie gleichzeitig völlig wirkungslos waren, um Kürzungen der Fördermittel für Kultur abzuwehren.

ABER: SOLIDARITÄT GEWINNT

Während die Aussichten auf Solidarität und Zusammenhalt unter den Gatekeepern, Institutionen und Organisationen düster sind, geben kollektive, Bottom-up-Aktionen von Kulturschaffenden Anlass zur Hoffnung.

Der liberale Komiker und TV-Host Jan Böhmermann, dem aus unerklärlichen Gründen die Möglichkeit gegeben wurde, eine Ausstellung („Takeover: The Possibility of Unvernunft”, 27. September bis 19. Oktober 2025) im HKW zu präsentieren – ehemals einer der wichtigsten Orte Berlins für intellektuelle Diskurse und Avantgarde – wählte für das Begleitprogramm seiner Show seltsame Bettgenossen aus: mehrere Konzerte mit coolen, jungen, meist nicht ethnisch deutschen Rapper*innen und Popmusiker*innen, sowie zwei Diskussionsrunden, an denen jeweils er selbst und ein weiterer alter, reicher, weißer deutscher Mann teilnahm: einmal der Star-Anwalt Christian Schertz, bekannt dafür, #metoo-Vorwürfe für seine elitäre Klientel aggressiv abzuwehren, und Wolfram Weimer (CDU), Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien, bekannt für seine Tiraden gegen „Multikulti“ in Blut-und-Boden-Rhetorik.

Als zwei Autoren der rechten Medienplattform NIUS (der pro-israelische Blogger Claudio Casula und der Mitbegründer der extremistischen Gruppe Betar Deutschland, Amir Makatov) einen Hetzartikel schrieben, in dem sie den Rapper Chefket wegen des „antisemitischen” Vergehens, ein T-Shirt mit kleinen dekorativen Motiven zu tragen, die das historische Palästina zeigen, sowie mehrere andere Künstler, die im Konzertprogramm von Böhmermann im HKW vorgesehen waren, attackierten, übte Weimer öffentlich Druck auf Böhmermann und das HKW aus, Chefkets Konzert am 7. Oktober 2025 abzusagen. Diese kamen der Aufforderung nach und schlossen sich in ihrem Statement dazu implizit den lächerlichen Antisemitismusvorwürfen gegen die von ihnen eingeladenen Künstler*innen an, während sie „Einwände von jüdischer Seite” als Grund für die Absage angaben. Innerhalb weniger Tage nach diesem Gehorsam gegenüber den Zensurwünschen von NIUS und Weimer sagten alle anderen Bands und Künstler*innen, die im Konzertprogramm vorgesehen waren, ihren Auftritt aus Solidarität mit Chefket und Palästina ab: Blumengarten, Tape Head, NONI, Domiziana, Wa22ermann, Drunken Masters, Mine, Akryl. Applaus!

In Reaktion auf die Absage des Chefket-Konzerts seitens Böhmermann cancelten alle anderen Acts wiederum ihre geplanten Auftritte im HKW und erklärten sich solidarisch. (Instagram-Screenshots)

Die Frage kommt auf, ob sich die Zensur in Deutschland jemals so bequem – oder überhaupt – hätte etablieren können –, wenn Künstler*innen regelmäßig so entschlossen mit kollektiven Aktionen reagiert hätten wie diese Künstler*innen angesichts der Zensur durch das HKW und Böhmermann. Auf jeden Fall stellt ihre prinzipiengetreue Entscheidung ein Vorbild für künftige Künstler*innen und eine Lehre für Institutionen dar. Denn angesichts der Reaktionen in den Medien, des Reputationsschadens sowohl für das HKW als auch für Böhmermann kann man mit Sicherheit sagen: Der Preis der Durchsetzung von Zensur kann auch leicht höher sein als der Preis des Mutes, Zensur abzulehnen.

Und: Das entscheiden die Künstler*innen.

Die alte Welt stirbt, und die neue Welt kämpft um ihre Geburt

Während die bürokratischen Kunstorganisationen und -institutionen, die stark von öffentlichen Mitteln abhängig sind, noch immer Schwierigkeiten haben, sich in der Frage des Völkermords zu positionieren, haben neue Organisationen beachtliche Ergebnisse erzielt. Der Verein 3ezwa, von Kulturschaffenden und Aktivist*innen gegründet, entstand aus einer Crowdfunding-Initiative zur finanziellen Unterstützung von Personen, die im Rahmen von Aktivismus für Palästina juristische Repressionen ausgesetzt sind. Der Verein bietet nun wöchentliche Sprechstunden mit Beratung an und übernimmt 50 Prozent der Rechtskosten von Hilfesuchenden, die im Rahmen ihrer Unterstützung Palästinas angezeigt werden.

Strike Germany sorgte für internationale Schlagzeilen, als sich Tausende von Künstler*innen ihrem Aufruf anschlossen, Deutschland zu bestreiken. Die Arts & Culture Alliance Berlin, von der die Autor*innen dieses Texts Teil sind, widersetzte sich erfolgreich Chialos Antidiskriminierungsklausel und organisiert weiterhin politische Kampagnen an der Schnittstelle von Kultur und politischem Engagement. Mittlerweile gibt es an fast jeder Universität in Deutschland eine „Students for Palestine”-Gruppe oder eine, die ähnliche Ziele verfolgt. Es entstehen regelmäßig neue Streikkassen, etwa eine für die streikenden freiberuflichen Autor*innen des The Berliner. Ein dezentrales Netzwerk aus Hunderten von selbstorganisierten Gruppen überschreitet nationale Grenzen und bildet den Rahmen für eine neue Ära der internationalen Organisation von Kulturschaffenden.

Die Kluft, die sich zwischen überwiegend weißen, staatsräsonorientierten Deutschen und ihren internationalen Kolleg*innen im Kulturbereich aufgetan hat, wird sowohl von der Unternehmerklasse, die jeden Aspekt des öffentlichen Lebens privatisieren oder monetarisieren will, als auch von der extremen Rechten, die am liebsten sämtliche Kultur – außer (vielleicht) Wagner, Gräueltaten-Propaganda und dem Humboldt-Forum – abschaffen will, instrumentalisiert. Die Unfähigkeit der alten deutschen Kulturinstitutionen und -organisationen, Solidarität zu organisieren, während sie diese zeitgleich den Schwächsten verweigern, spiegelt sich in der mangelnden Unterstützung ihrer Mitgliedschaften und Zielgruppen für ihre politischen Initiativen – die Politik des „appeasements” ist in jeder Hinsicht gescheitert. Während existenzbedrohende Kürzungen im Kulturhaushalt eigentlich ein Thema sein sollten, zu dem sich leicht mobilisieren lässt, hat die Unfähigkeit zu erkennen, dass Zensur und Sparmaßnahmen zwei Aspekte desselben Programms sind, das die Kultur als Ganzes bedroht, dazu geführt, dass die Organisationen nicht imstande sind, ihren Kernaufgaben nachzukommen.

Die von den Staatsräsonbewegten und Zaungästen vorgeschlagene Lösung besteht darin, dass ihre pro-palästinensischen Kolleg*innen und Widerstreiter*innen einfach den Mund halten und sich ihnen anschließen sollen, um die Kulturförderung zu retten, wobei sie das Leiden ihrer Kolleg*innen in Palästina und anderswo zu ignorieren haben. Aber wenn unser Kampf für bessere Produktionsbedingungen für Kultur in Berlin buchstäblich davon abhängt, dass wir die von „unserer“ Regierung unterstützten Gräueltaten ignorieren, wie es diese Forderung nach Einheit voraussetzt, dann ist unsere Kultur absolut nichts wert. Nur starke, kollektiv ausgerichtete Initiativen mit ethischer Haltung, die keine Angst davor haben, Autoritäten herauszufordern, können dieses sinkende Schiff retten.

Für diejenigen, die nicht aus Berlin fliehen, gibt es viel zu tun. Der Völkermord in Gaza und die Besetzung Palästinas sind das Grauen unserer Zeit. Und es hat neue Allianzen dazu gebracht, sich zusammenzuschließen, um von der Mobilisierung zur Organisation überzugehen. Trotz der anhaltenden Repressionen finden in Berlin mittlerweile fast täglich Solidaritätsveranstaltungen und Spendenaktionen für Palästina statt, die eine kritische Masse erreichen, deren Netzwerkbildung Allianzen zwischen ungewöhnlichen Teilen der Gesellschaft, unzähligen Initiativen, Kollektiven, Projekten und Räumen geschmiedet hat, die sich nicht auf Kompromisse mit dem öffentlich finanzierten System einer menschenverachtenden Regierung verlassen. Wo die alten Organisationen an Relevanz verloren haben, entstehen an ihrer Stelle neue Konstellationen.

Möge die neue kulturelle Bewegung hin zu Unabhängigkeit, Kollektivierung und transnationaler Solidarität ein neues Kapitel in der Geschichte des Berliner Widerstands gegen Ungerechtigkeit aufschlagen. Möge das Schiff ausnahmsweise einmal vor den Ratten fliehen.

Dieser Text wurde verfasst von Kulturarbeiter*innen, die bei Arts & Culture Alliance Berlin organisiert sind.


[1] Wir sprechen von den meisten Institutionen, nicht von allen. Einige wenige sind die Ausnahmen gewesen, die die Regel bestätigen. Gerne würden wir sie namentlich loben, doch das würde sie wohl gefährden.

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