Muslimische Stimme: vielleicht die (vor)letzte Wahl?

Nach dem Bruch der Ampel und dem Erstarken rechter Kräfte nach den Anschlägen von Solingen und Magdeburg machen sich vor allem Muslime und Muslima in Deutschland Sorgen. Neben der rechtsextremen AfD heizen auch die Konservativen den rassistischen Diskurs weiter an. Friedrich Merz fordert die Ausbürgerung von straffälligen Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft.

Mit Blick auf die Neuwahlen fragen sich viele muslimische Deutsche, wie weiter? Wo wird das alles hinführen, und wen kann man in Deutschland wählen? Eine abschließende Antwort auf diese Frage wird auch dieser Kommentar nicht geben können, aber vielleicht ein wenig Orientierung und Einblick darin, wieso diese Wahl für viele muslimische Menschen in Deutschland so schwer ist – schwerer, als sie ohnehin schon erscheint.

Gaza: Wie hältst Du es mit dem (humanitären) Völkerrecht?

Viele Menschen in Deutschland und gerade große Teile der muslimischen Community beobachten die andauernden Kriegsverbrechen in Gaza mit tiefer Wut und Trauer. Aktuell werden Meldungen über einen nahenden Waffenstillstand laut. Dennoch besorgt der Genozid in Gaza und seine Folgen weiterhin viele Muslime und Muslima in diesem Land. Gerade Menschen mit palästinensischen Wurzeln müssen sich angesichts der fast einhelligen Unterstützung der israelischen Regierung durch die Politik fragen: Wen soll ich nur wählen?

Muslime und Muslimas in Deutschland werden seit jeher unter Generalverdacht gestellt. Sie hielten sich nicht an „Recht und Ordnung“. Angeblich hätten sie keine Loyalität zum deutschen Staat, dem Gemeinwesen, und würden im Zweifel eher der Scharia als dem Grundgesetz folgen. Was genau damit gemeint ist und inwieweit das Alte Testament in allen Passagen mit dem Grundgesetz vereinbar ist, fragen sich diese Hobby-Orientalisten leider selten. Nichtsdestotrotz steht die überwältigende Mehrheit der Muslime in Deutschland stärker zu Recht und Ordnung, als der deutsch-dominante Diskurs wahrhaben will. Mithin stehen durchschnittliche Muslime und Muslimas stärker zum Völkerrecht als die Parteien der demokratischen Mitte Deutschlands. Die letzten 15 Monate belegen dies in grausamer Weise:

Während der Internationale Gerichtshof die Klage Südafrikas zuließ und damit einen Genozid in Gaza für plausibel befand und untersucht, intervenierte die Bundesregierung gegen die Klage Südafrikas zur Unterstützung der israelischen Führung. Als der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, Haftbefehle gegen die Hamas-Führer sowie den israelischen Premier und seinen Verteidigungsminister beantragte, stellte die Bundesregierung einen Amicus Curiae, um das Verfahren zugunsten der israelischen Führung zu beeinflussen. Und als wenn diese politische und diplomatische Schützenhilfe nicht genügte, schickte die Bundesregierung weiterhin Waffen und Material, welches in Gaza eingesetzt wurde. Man muss nicht muslimisch sein, um Empathie für die notleidende Bevölkerung Gazas zu entwickeln und angesichts dieser Missachtung des Völkerrechts resigniert zu fragen: Wie soll ich die nur wählen?!

Flucht und Migration

Wen die menschenrechtlich maximal fragwürdige Haltung der Parteien der demokratischen Mitte nicht genug abschreckt, der oder diejenige bekommt innenpolitisch durch einen Überbietungswettbewerb in politischer Abschottungsrhetorik und Ausländerfeindlichkeit den Rest. Über die AfD braucht man an dieser Stelle nicht reden. Aber nicht nur Friedrich Merz macht erwartbar Stimmung gegen Menschen nicht urdeutscher Herkunft, was auch immer das genau ist. Selbst Robert Habeck von den Grünen spricht mittlerweile von „Clankriminalität“ oder erklärt: „Syrer, die nicht arbeiten, müssen gehen“. Dabei sind syrische Männer, die mehr als acht Jahre in Deutschland leben, im Schnitt eher in Beschäftigung als nicht-migrantische, deutsche Männer. Wären die Hürden im Land der Bürokratie weniger hoch, wären es wahrscheinlich noch mehr. Aber so viel Differenzierung geht auch dem sonst so nachdenklichen Robert Habeck abhanden. Andere Parteien sind hier keineswegs besser, um dies klipp und klar zu sagen. Unter der SPD-Bundesinnenministerin, Nancy Faeser, hat der sicherheitspolitische Aktionismus in Deutschland ein Level erreicht auf das Horst Seehofer stolz wäre. Nicht zu vergessen bleibt, die von ihr im hessischen Wahlkampf vorgeschlagene Gesetzesänderung zur Abschiebung von sogenannten „Clanmitgliedern“, auch ohne, dass sie straffällig waren.

All dies und vieles mehr macht diese Bundestagswahl zu einer außergewöhnlich schwierigen Wahl für Muslimas und Muslime. Aber Muslime sind keine mystischen Gestalten, auch sie sind von den alltäglichen Krisen und Problemen berührt. Zwar betreffen die Sicherheits- und Außenpolitik muslimische Menschen unfreiwilliger Weise stärker, aber sie sind ebenso von hohen Mieten betroffen und blicken mit Sorge auf die schwächelnde deutsche Wirtschaft oder fürchten um ihren Arbeitsplatz.

Nicht wählen? Keine Option!

Eines vorweg: Trotz all dieser Widrigkeiten ist Nichtwählen keine Option. Wer in die europäischen Nachbarländer Deutschlands schaut, weiß warum. Es ist womöglich der besorgniserregende Blick in die Glaskugel. Ob in den Niederlanden, Ungarn, Italien oder Österreich – immer öfter gelangen rechtspopulistische und rechtsradikale Kräfte an die Macht.

Gerade wegen des wachsenden antimuslimischen Rassismus tragen Muslime mit Wahlrecht auch eine besondere Verantwortung für all jene, die hier leben, aber nicht wählen dürfen. Die Lage ist ernst und die Gefahr groß, dass dies vielleicht die vorletzte oder gar letzte freie Wahl für Muslime und andere Minderheiten in Deutschland ist. Ergreifen die Rechtsextremen einmal die Macht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis ihre Pläne zur sogenannten „Remigration“, also Deportationen, umgesetzt werden. Muslimische Nichtwähler und Nichtwählerinnen wiegen deshalb doppelt so schwer, denn die Zahl der Muslime, die nicht wählen dürfen, bleibt groß. In Deutschland leben 5,5 Millionen Muslime und Musliminnen. Drei Millionen, also etwas mehr als die Hälfte, besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft. Wer nicht wählt, riskiert ein Stück weit auch die Zukunft der anderen.

Wer steht zur Wahl?

Im Folgenden werden die Positionen verschiedener Parteien zu Gaza, Flucht und Migration und anderen relevanten Punkten zusammenfassend skizziert. Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. AfD, CDU und FDP wurden nicht näher betrachtet.

Die Grünen:
Bei keiner Partei offenbaren sich die doppelten Standards sogenannter westlicher Werte so offensichtlich wie bei den Grünen. Während man im Ukrainekrieg das eigene friedenspolitische Selbstverständnis binnen weniger Tage umdrehte und sich sofort für Maßnahmen gegen Russland und Waffenlieferungen für die Ukraine einsetzte, war man bemerkenswert stumm, als der Völkermord in Gaza begann. Robert Habeck fühlte sich wenige Tage nach dem 7. Oktober genötigt, ein Video zu veröffentlichen, in dem er Muslime und Muslimas in Deutschland aufforderte, sich von der Hamas zu distanzieren. Von den Waffenlieferungen der Bundesregierung, die Gegenstand von Untersuchungen internationaler Gerichte sind, hat er sich bislang nicht distanziert. Die „wertegeleitete Außenpolitik“ von Annalena Baerbock wurde mit den deutschen Waffenlieferungen an die israelische Armee pulverisiert. Schnell wurde in ihren Reden die regelbasierte Ordnung, die man gegen Putin immer wieder betonte, durch die sogenannte „Staatsräson“ ersetzt, um die eigene Politik zu legitimieren. Schmerzhaft in Erinnerung bleibt die Rede Baerbocks im Deutschen Bundestag, in der sie den israelischen Beschuss von Krankenhäusern unter Inkaufnahme ziviler Opfer rechtfertigte. Migrations- und fluchtpolitisch rücken die Grünen immer weiter in die Mitte in der Hoffnung, damit auch attraktiv für andere Wählermilieus zu werden. Denkwürdig war in diesem Zusammenhang beispielsweise der gemeinsame Austritt der Grünen Jugend aus der Partei vor einigen Monaten.

Die SPD:
Unter Olaf Scholz hat sich die SPD in Regierungsverantwortung mit einer Reihe migrations- und sicherheitspolitischer Verschärfungen hervorgetan. Mit dem 2023 verabschiedeten „Rückführungsverbesserungsgesetz“ sollte das ermöglicht werden, was Olaf Scholz im Spiegel-Interview mit den markigen Worten „Wir müssen im großen Stil abschieben“ zusammenfasste. 2024 folgte nach dem Anschlag in Solingen ein Sicherheitspaket, das die Behörden im Kampf gegen den gewaltbereiten Islamismus stärken sollte. Diese Maßnahmen konnten den Anschlag in Magdeburg kurz vor Weihnachten leider nicht verhindern. Der Täter fiel bekanntermaßen nicht in die gängigen Raster und konnte trotz vieler Warnungen und Signale unschuldige Menschen töten. Als Kanzlerpartei verantwortete die SPD den politischen Kurs gegenüber der israelischen Führung und führte Waffenlieferungen an diese bedingungslos fort. Der Schaden dieser Politik für die regelbasierte Ordnung und die Glaubwürdigkeit Deutschlands in den internationalen Beziehungen ist noch nicht abzusehen.

Die Linke:
Nach dem Bruch mit Sarah Wagenknecht musste sich die Linke neuformieren und droht unter Umständen nicht in den Bundestag einzuziehen, da sie an der 5%-Hürde scheitern könnte. Die Linke ist migrationspolitisch eindeutig die progressivste Kraft unter den etablierten Parteien. Sie positioniert sich gegen Abschiebungen und lehnt Sachleistungen an Menschen mit Fluchtgeschichte ab. Zum Krieg in Gaza konnte die Linke keine kohärente Position formulieren. Einige Spitzenvertreter positionierten sich einseitig. Aufsehenerregend war unter anderem der Parteiausschluss von Ramsis Kiliani, dessen Familie 2014 bei einem israelischen Luftangriff in Gaza getötet wurde. Dort, wo viele, die nicht in Deutschland politisch sozialisiert wurden, am ehesten Solidarität für das palästinensische Volk erwarten würden, bekommt man mitunter die bedingungsloseste Verteidigung des israelischen Vorgehens in Gaza zu hören. In nahezu allen Parteigliederungen und bis in die höchsten Ränge finden sich sogenannte Antideutsche oder zumindest antideutsch sozialisierte Personen. Die antideutsche Strömung steht seit Jahrzehnten hinter dem Zionismus. Der Vollständigkeit halber muss gesagt werden, dass antideutsche Einflüsse sich aber ebenso bei den Grünen und der SPD finden.

Das Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW):
Das Bündnis, welches in Teilen aus der Linkspartei hervorgegangen ist und auf die Namensgeberin zugeschnitten ist, lässt sich bisher schwer einordnen. Man sagt der Partei eine ungesunde Nähe zu Putins Russland nach. Die Prozesse innerhalb der Parteistrukturen sind intransparent. Beispielsweise kann man beim BSW nicht ohne Weiteres Mitglied werden. Blickt man nur auf die migrationspolitische Ausrichtung und Rhetorik der Partei, dann könnten die Positionen auch von den Christdemokraten stammen. Sarah Wagenknecht möchte unter anderem die „unkontrollierte Migration stoppen“ und Asylverfahren außerhalb der EU durchführen lassen. Anrechnen muss man dem BSW, dass es aktuell die einzige, etabliertere Partei ist, die klar Position gegen den Krieg und das Leid in Gaza bezogen hat.

Die Wahl ist mehr als eine Parteienwahl

Es kann keine allgemeingültige Antwort darauf gegeben werden, welche Partei man wählen sollte. Es ist selbst regional schwierig, Landesverbände von Parteien auszumachen, die die Anliegen von Muslimen und Musliminnen in Deutschland ernst nehmen. Es gibt nicht die politische Kraft, die man wählen kann. Man muss den Blick ein wenig weg von den Parteien mehr zu den konkreten Akteuren wenden. Lange Zeit waren muslimische und hierunter viele türkische Milieus Stammwähler der Sozialdemokratie, was unter anderem dem sehr dünnen politischen Angebot geschuldet war. Viele Parteien des Mitte-Links-Spektrums halten muslimische Wähler und Wählerinnen bis heute für leicht beeinflussbar. Und da ist leider etwas dran. Gerade bei Vertreterinnen und Vertretern der ersten und zweiten Generation gewinnt man zuweilen den Eindruck, sie sind vom normalisierten antimuslimischen Rassismus so abgerichtet, dass sie schnell jeden umarmen, der nicht aktiv gegen sie Politik macht. Dabei könnten sie als wichtiger Teil dieser Gesellschaft so viel mehr erwarten und selbstbewusster auftreten.

Um eine gute Wahlentscheidung zu treffen, ist es wichtig, genau hinzusehen und hinzuhören. Es reicht nicht, den Wahl-O-Mat durchzuklicken. Die Entscheidung sollte nicht nur an den Positionen der Parteien orientiert werden, sondern muss stärker die jeweiligen Kandidaten im Wahlkreis oder der jeweiligen Region unter die Lupe nehmen: Welche Politikerin oder welcher Politiker kann unter Umständen innerhalb des eigenen Landesverbandes oder der eigenen Partei etwas ausrichten und womöglich verändern? Vielleicht lohnt es sich hier, die Erststimme einer anderen Partei zu geben. Es ist vollkommen in Ordnung, Parteien nicht zu wählen, gerade wenn diese die Stimmen bestimmter Wählerklientel wie ein Geburtsrecht behandeln.

Selbst mit der Zweitstimme wählt man nicht nur die Partei bundesweit, sondern gibt natürlich auch ein Votum zur Performance dieser Partei im eigenen Bundesland und damit ihrem Landesverband ab. Zum Beispiel erklärte der aktuelle Co-Landesvorsitzende der Sozialdemokraten in Berlin, Martin Hikel, großspurig, es gebe keinen antimuslimischen Rassismus, weil Muslime keine Rasse seien. Damit bestätigte er zum einen, dass er glaubt, dass es menschliche Rassen gibt, und zum anderen, dass er nichts von Rassismus versteht. Wenn die AfD bei über 20 % steht und die Deportation von Millionen von Muslimen fordert, dann darf man sich natürlich fragen, ob man die Stimme einer Partei geben möchte, in der solche Akteure das Sagen haben. Ein Denkzettel soll ja zum Denken anregen! Aber auch hier gilt, wie immer, es ist eine schwierige Abwägung: Welche Akteure wähle ich auf dieser Ebene bei dieser Wahl, und können diese etwas bewegen oder gar verändern?

Ideal wäre eine Kandidatin oder ein Kandidat, die sich trotz des Rechtsrucks für eine offene Migrationspolitik einsetzt, sich gegen Diskriminierung von Muslimen und Musliminnen am Arbeits- und Wohnmarkt stellt und den grassierenden antimuslimischen Rassismus benennt. Ein Kandidat, der sich zum Genozid in Gaza klar positioniert, auch wenn es dafür Gegenwind vom politischen Kontrahenten oder dem Springer-Verlag gibt. Leider gibt es solche Politiker und Politikerinnen gerade kaum. In den Parteien der demokratischen Mitte ist die Zahl derer, die sich bedingungslos hinter das humanitäre Völkerrecht stellen und auch die Würde palästinensischer Menschen verteidigen, verschwindend gering. So bitter es klingt: Natürlich wählt man oft unter verschiedenen schlechten Angeboten das geringste Übel. Nicht wählen ist trotzdem keine Option!

Es ist wichtiger denn je, sich selbst aktiv einzubringen, und die Kandidaten und ihre Unterstützer sollten gezielt nach ihren Positionen befragt und mit relevanten Themen konfrontiert werden. Bei der Wahlentscheidung sollten nicht nur die Aussagen beim Türgespräch oder am Infostand einbezogen werden. Am besten prüft man konkrete Stellungnahmen und öffentliche Positionen! Die Wahl ist eine Entscheidung für eine bestimmte Politik und nicht für die intime Haltung eines Bundestagsabgeordneten. Wer unter vier Augen die Menschenrechtsverletzungen in Gaza oder der Westbank benennt, sich aber nicht aktiv für einen Stopp der Waffenlieferung eingesetzt hat, weil er oder sie um die eigene Karriere fürchtet, ist menschlich unter Umständen nachvollziehbar, aber politisch nicht hilfreich. Die Lage ist zu ernst …

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Eine Antwort

  1. Für mich steht schon fest das ich Die Linke wählen werde, weil wir unbedingt eine linke Kraft im Bundestag, in diesen düsteren Zeiten brauchen. Das BSW hat sich als rechte Abspaltung, wie befürchtet herausgestellt und die AfD ist schon gar keine Alternative für Deutschland. Bin dennoch gespannt welche Parteien diesmal dabei sind.

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