„Die grüne Wende ist ein Mythos“

Ein Wald von Ölbohrtürmen auf dem Signal Hill-Ölfeld in Südkalifornien (Bild: The Aerograph Co., Public domain, via Wikimedia Commons)

Adam Hanieh über die anhaltende zentrale Bedeutung des Öls für den Kapitalismus

Der nachfolgende Text ist Teil 1 der Übersetzung eines Interviews, das James Wilt für die Webseite „Canadian Dimension“ am 14. Oktober 2024 mit Adam Hanieh führte. Das Orginal des Textes kann hier nachgelesen werden. Der Text wurde übersetzt von Paul Michel vom „Netzwerk Ökosozialismus“ https://netzwerk-oekosozialismus.de/) Wir bedanken uns bei der Redaktionv on „Canadian Dimension“ für die Erlaubnis zur Übersetzung des Textes.

Im Kapitalismus wird es von Tag zu Tag schwieriger, sich eine Abkehr von fossilen Brennstoffen vorzustellen .In den letzten 15 Jahren sind viele wichtige linke Bücher über die globale Ölpolitik erschienen: „Space, Oil and Capital“ von Mazen Labban, „Carbon Democracy“ von Timothy Mitchell, „Lifeblood“ von Matt Huber und „Burning Up“ von Simon Pirani . Keines davon bietet eine so umfassende und zusammenfassende Analyse wie „Crude Capitalism: Oil, Corporate Power, and the Making of the World Market“ von Adam Hanieh , das im September bei Verso erschien.

In „Crude Capitalism“ bietet Hanieh – Professor für politische Ökonomie und globale Entwicklung am Institut für Arabische und Islamische Studien der Universität Exeter – einen äußerst lesenswerten Überblick über die Ölindustrie vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Dabei macht er auch Zwischenstopps, um tief in Themen einzutauchen, die von der fossilen Ökonomie der Sowjetunion über den Aufstieg der OPEC bis hin zu den nicht erfüllten Versprechen sogenannter „kohlenstoffarmer Lösungen“ reichen.

Besonders nützlich ist der Fokus des Buches auf Petrochemie und nationale Ölkonzerne, einschließlich ihrer Verflechtungen im Nahen Osten und Ostasien, insbesondere mit China. Hanieh argumentiert, dass diese Dynamik dazu beiträgt, die anhaltende Unterstützung der USA für Israel zu erklären, wobei die Macht über die Ölproduzenten im Nahen Osten als Schlüsselhebel genutzt wird, um Chinas wachsenden globalen Einfluss abzuwehren.

Einschneidende Veränderungen nach 1973

Canadian Dimension (CD) : Viele CD-Leser erinnern sich noch an den Ölschock von 1973, als die OPEC-Staaten eine stärkere Kontrolle über die Preisgestaltung und Produktion von Öl erlangten. Weit weniger bekannt, aber ebenso wichtig, sind das darauf folgende Überangebot an Öl und der „Gegenschock“ der 1980er Jahre. Können Sie diese Phase der Stagnation und des freien Falls der Ölpreise erklären und erläutern, wie sie die Grundlage für die Erholung der Branche in den 2000er Jahren schuf?

Adam Hanieh (AH): Es ist wichtig, diesen Zeitraum besser zu verstehen. Er wird in den aktuellen Diskussionen über Öl und fossile Brennstoffe im weiteren Sinne oft übersehen. Ausgangspunkt ist der Weltmarkt und seine Dynamik Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre, nach dem Ende des Nachkriegsbooms. Dies war eine Zeit der großen Wirtschaftskrise und der Neuorganisation der Weltwirtschaft. Und dies war eng mit dem verbunden, was sich damals im Ölsektor abspielte.

Ein Teil davon war der „ Volcker-Schock “, ein entscheidendes Ereignis im Jahr 1980, als Paul Volcker, der damalige Vorsitzende der Federal Reserve, die US-Zinsen auf über 20 Prozent anhob. Er tat dies, um eine Rezession herbeizuführen, mit dem Ziel, die US-Inflation zu stoppen und den US-Dollar gegenüber anderen Währungen zu stärken. Der Schock löste zwischen 1980 und 1982 eine globale Rezession aus, die tiefste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg. Dies wiederum führte zu einen Rückgang der Wirtschaftstätigkeit und damit einen enormen Rückgang des Ölverbrauchs. Zwischen 1979 und 1983 ging der Ölverbrauch um etwa 10 Prozent zurück. Es wird im allgemeinen nicht zur Kenntnis genommen, dass dies tatsächlich der größte Rückgang der Ölnachfrage in der Geschichte war. Er war sogar noch stärker als während der Covid-Pandemie.

Die zweite Dynamik neben dieser globalen Rezession war eine zunehmende Diversifizierung der räumlichen Verteilung der Ölproduktion. In den 1970er und frühen 1980er Jahren wurden neue Ölreserven erschlossen, vor allem in der Nordsee und in Mexiko. Die Sowjetunion produzierte noch immer erhebliche Mengen Öl. Parallel zur globalen Rezession haben wir also auch eine zunehmende Verfügbarkeit von Erdöl außerhalb der traditionellen OPEC-Länder..

Im Zuge dieser beiden Trends kam es zu einem wichtigen Strukturwandel in der globalen Ölindustrie hinsichtlich der die Art und Weise, wie der Ölpreis festgelegt wurde. Bis in die frühen 1980er Jahre wurden die Ölpreise in einem System festgelegt, das als „administrative Preisbildung“ bezeichnet wird. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bis zur Gründung der OPEC, waren es die großen westlichen Ölkonzerne, die den Ölpreis festlegten. Diese Firmen wurden die „Sieben Schwestern“ genannt – die Vorgänger der heutigen Ölkonzerne ExxonMobil, Shell, BP, Chevron und anderer großer Ölfirmen. Sie kontrollierten das Öl von der Förderung über die Weiterverarbeitung (Raffination) bis hin zur Zapfsäule, wobei der Großteil des weltweiten Öls innerhalb ihrer vertikal integrierten Strukturen bewegt wurde. Nach der Gründung der OPEC gewannen die großen Ölproduzenten – Saudi-Arabien, Venezuela, Iran – viel mehr Einfluss auf die Bildung des Ölpreises. Das ist mit „administrativer Preisbildung“ gemeint – diejenigen, die die Rohölversorgung kontrollierten, legten den Preis fest, zu dem Öl verkauft wurde.

Doch Anfang der 1980er Jahre begann die Fähigkeit der OPEC, den Ölpreis zu kontrollieren, nachzulassen. Teilweise, weil neue Öllieferungen auf den Markt kamen, etwa aus Mexiko und Nordseeöl aus Großbritannien. Auch neue Ölhändler traten auf den Plan. Dabei handelte es sich um private Rohstoffhandelsunternehmen, die Öl von Förderländern kauften und es dann auf den so genannten Spotmärkten verkauften. Dabei handelt es sich um Finanzmärkte, auf denen kurzfristige Verträge und Barpreise für Öl zwischen Käufern und Verkäufern ausgehandelt werden konnten, oft für einmalige Transaktionen, statt der langfristigen Verträge, die es zuvor mit den großen OPEC-Produzenten gegeben hatte.

Wir sprechen also von drei gleichzeitigen Veränderungen. Die erste ist die globale Wirtschaftskrise, die Krise des Weltkapitalismus zu Beginn der 1980er Jahre. Die zweite ist die zunehmende Verfügbarkeit von Öl auf den Märkten und die zunehmende Vielfalt der Produzenten. Und die dritte ist das Auftauchen neuer Akteure, die Öl kaufen und verkaufen.

Diese Trends haben zwei wesentliche Folgen, die es wert sind, beachtet zu werden. Erstens der Gegenschock selbst, der große Ölpreisverfall zwischen 1985 und 1986, als die Ölpreise um etwa 50 Prozent sanken. Dies betraf alle Ölproduzenten, hatte aber besonders schwere Auswirkungen auf die Sowjetunion, die auf Ölverkäufe angewiesen war, um Devisen zu verdienen. Der Zusammenbruch des Ölpreises spielte eine bedeutende Rolle in der Krise der sowjetischen politischen Ökonomie bis in die späten 1980er Jahre, die schließlich 1991 im Zerfall der UdSSR kulminierte.

Die zweite Folge dieses Gegenschocks war, dass er tatsächlich den Zusammenbruch des langjährigen Systems der „administrativen Ölpreisbildung“ bedeutete. An seine Stelle trat ein marktbasiertes Ölpreissystem, bei dem an den Finanzmärkten gehandelte Öltermingeschäfte den Ölpreis bestimmten. Das ist das, was wir heute haben, und es ist im Wesentlichen unabhängig – wenn auch nicht getrennt von – der physischen Produktion und dem Verbrauch von Öl. Die Verbindung zwischen Öl und Finanzmärkten spielte eine große Rolle bei der Entstehung dessen, was oft als „Finanzialisierung“ beschrieben wird. Ich halte es für ein Problem, dass so viele Diskussionen über Öl stattfinden, ohne diese Änderungen der Ölpreismechanismen zur Kenntnis zu nehmen – als hätte es die 1980er Jahre nie gegeben und wir lebten immer noch in den 1960er Jahren.

Petrochemie und synthetische Welt

CD: Eine der wirkungsvollsten Propagandakampagnen der Ölindustrie, die wir in letzter Zeit erlebt haben, ist die Behauptung, dass Erdölprodukte nicht nur als Kraftstoff für den Transport dienen, sondern auch in unzähligen Dingen stecken, die wir täglich verwenden: Kunststoffe, synthetische Fasern und vieles mehr. Diese Behauptung scheint von der Linken größtenteils ignoriert worden zu sein. Im Gegensatz dazu argumentieren Sie in Ihrer Arbeit, dass es von entscheidender Bedeutung ist, dass wir die materielle Einzigartigkeit und Bedeutung von Petrochemikalien verstehen und dass Kunststoffe als die Zukunft der Ölindustrie dargestellt werden. Warum glauben Sie, dass dieser Aspekt des Ölverbrauchs oft unterschätzt wurde und warum es wichtig ist, sich damit auseinanderzusetzen?

AH : Eines der Hauptargumente des Buches ist, dass wir mit einer Art Warenfetischismus brechen müssen, wenn wir an Öl denken. Damit meine ich, dass wir Öl und seine Bedeutung in den verschiedenen Logiken des Kapitalismus verorten müssen – und nicht als etwas, das dem Öl selbst innewohnt. Wenn wir diesen Ansatz verfolgen, können wir Öl über seine Rolle als flüssiger Transportkraftstoff hinaus betrachten und nachvollziehen, wie es in einen großen Bereich unseres täglichen Lebens eingedrungen ist. Die Finanzen sind eine Seite davon, die Petrochemie-/Kunststoffindustrie eine andere.

Dieser Übergang zu einer synthetischen Welt begann Mitte des 20. Jahrhunderts. Er bedeutete, dass Naturprodukte wie Holz, Glas, Naturkautschuk und Düngemittel usw. systematisch durch Erdölprodukte ersetzt wurden: Kunststoffe, synthetische Fasern, synthetische Düngemittel und andere Arten von Chemikalien auf Erdölbasis. Ich verbringe in meinem Buch einige Zeit damit, zu erklären, was dies für den Kapitalismus bedeutete. Es ermöglichte unter anderem eine enorme Ausweitung der Menge und Vielfalt der Waren, die produziert und konsumiert werden konnten, die Verbilligung der Herstellung und Senkung der Arbeitskosten sowie die Beschleunigung der Umschlagszeit des Kapitals. Natürlich hatte dies auch katastrophale ökologische Folgen.

Dieser Aspekt ist r von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung des Öls zum wichtigsten fossilen Brennstoff der Welt. Er ermöglichte es, dass Öl zum materiellen Substrat für praktisch alle Waren wurde, die uns umgeben. Wenn man einmal einen Moment innehält und sich im Raum umschaut und darüber nachdenkt, woher all diese Kunststoffe, Gummis und Farben kommen, sieht man, wie allgegenwärtig Öl (und zunehmend auch fossiles Gas) wirklich ist. Es hat fossile Brennstoffe in unser tägliches Leben eingebunden, aber auf eine unsichtbare Weise. Es hat nicht nur die Ölindustrie so viel mächtiger gemacht – in dem Sinne, dass dieser Rohstoff in alles integriert wird, was wir konsumieren und wovon wir abhängig sind –, sondern es hat Öl auch unsichtbar gemacht. Es ist ein Paradox: Öl ist überall, aber wir können es nicht sehen.

Ich denke, dass die Linke sich unbedingt damit befassen muss, weil es die Diskussion über Öl und die Frage, woher die scheinbare Macht des Öls kommt, in eine andere Richtung lenkt. Und es hilft uns auch, das Plastikproblem anders zu betrachten. Die vorherrschende Meinung über Plastik ist, dass es sich um Giftmüll handelt und das Recycling verbessert werden muss. Natürlich ist Plastikmüll ein enorm wichtiges Thema, aber das Problem ist eigentlich viel größer, wenn wir die Entstehung der Petrochemie in den Gesamtzusammenhang ihrer Auswirkungen auf den Kapitalismus stellen. Es hilft auch zu erklären, warum die Nachfrage nach Petrochemikalien und Plastik so schnell wächst. Schätzungen zufolge wird sich der Plastikverbrauch bis 2060 verdreifachen.

Eines der auffälligsten Beispiele hierfür ist das Aufkommen der Fast Fashion – der schnelle Wechsel von Kleidungsstilen mit vielen Mikrosaisons von Stilen und eine enorme Steigerung der produzierten Kleidermenge. Eine Seite davon sind natürlich die stark ausgebeuteten Arbeiter in Fabriken in den Entwicklungsländern, die Kleidung auf Bestellung für multinationale Bekleidungsunternehmen produzieren. Aber es waren synthetische Fasern – petrochemische Produkte wie Polyester –, die diesen enormen Anstieg der Kleiderproduktion ab den 1980er Jahren ermöglichten. Die allgegenwärtige Tendenz des Kapitalismus, die Menge der produzierten Waren – in diesem Fall Kleidung – zu erhöhen, wurde durch Öl und die petrochemischen Rohstoffe ermöglicht.

Heute bezeichnen Ölkonzerne Petrochemikalien und Kunststoffe buchstäblich als die Zukunft des Öls. Und es wird zunehmend anerkannt, dass Kunststoffe selbst eine wichtige Quelle von Treibhausgasen sind. Wäre Kunststoff ein Land, wären die mit seiner Produktion verbundenen Emissionen der fünftgrößte Treibhausgasemittent der Welt. Wir müssen also über Kunststoffe im Hinblick darauf nachdenken, wie sie die Kraft des Öls in unser Leben gebracht haben. Damit stellen sie eine zentrale Frage bei der Bewältigung der Klimakrise dar.

James Wilt ist ein in Winnipeg ansässiger Doktorand und freiberuflicher Autor. Sein neuestes Buch trägt den Titel Dogged and Destructive: Essays on the Winnipeg Police.

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