Francesca Albanese und die Leerstelle des Völkerrechts

UN Special Rapporteur on Palestine, Francesca Albanese, by The Left, Flickr, licensed under CC BY-NC-SA 2.0 (cropped).

Am 19. Februar sollte Francesca Albanese, die UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete, eigentlich an der Freien Universität Berlin sprechen. Eine Gruppe von Professor*innen hatte sie gemeinsam mit dem israelischen Gründer der Forschungsagentur „Forensic ArchitectureEyal Weizman eingeladen. Thema der Veranstaltung waren „juristische und forensische Perspektiven auf den andauernden Genozid in Gaza“. Doch es geschah, was bei pro-palästinensischen Gastvorlesungen, Meinungsbeiträgen und Demonstrationen in Deutschland immer wieder geschieht: Die Veranstaltung wurde abgesagt.

Das erfolgte offenbar auf politischen Druck: Der Regierende Bürgermeisters Berlins Kai Wegner (CDU) und der israelische Botschafter Ron Prosor forderten eine Absage der Veranstaltung, ebenso wie die pro-israelischen Lobby-Organisationen „Werteinitiative“ und „Deutsch-Israelische Gesellschaft“. Instrumental bei diesen Forderungen waren Antisemitismus-Vorwürfe gegen Albanese. Der Berliner Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra (SPD) zufolge „erfüllen die Äußerungen von Frau Albanese alle Kriterien des Antisemitismus“. Sie stellte deswegen die Frage, „ob bei einer so geplanten Veranstaltung die Sicherheit jüdischer Studierender gewährleistet ist“. Welche Äußerungen Albaneses sie damit genau meinte, bleibt Czyborras Geheimnis.

Die Vorwürfe gegen Albanese

Eine von pro-israelischer Seite oft zitierte Äußerung hat Albanese während des Gaza-Kriegs von 2014 getätigt, noch Jahre bevor sie ihr jetziges Amt bei der UN antrat: Amerika sei „der jüdischen Lobby unterworfen“. Diese Aussage bedient antisemitische Verschwörungserzählungen, die suggerieren, eine ominöse jüdische Macht steuere die Politik der USA. Selbstredend haben die USA ureigene geopolitische Interessen, die für ihre Nahostpolitik entscheidend sind. Für diese tatsächlich antisemitische Aussage hat sie sich aber seitdem entschuldigt.

Eine andere Aussage zu Lobbyismus, die Albanese vorgeworfen wird, hat sie gar nicht selbst getroffen. Hierbei handelt es sich um einen längeren Text des Journalisten Chris Hedges, den sie auf Twitter teilte. Hedges argumentiert, dass der Genozid an den Palästinensern letzten Endes negative Konsequenzen sowohl für Israel als auch die USA haben werde. Erst im achten Absatz des Tweets fällt der relevante Satz von einer Israel-Lobby, die die amerikanische Politik gekauft und die Medien und die Universitäten in die Knie gezwungen hätte.

Dass hier antisemitische Muster bedient werden, ist nicht komplett von der Hand zu weisen: Zwar wenden pro-israelische Lobby-Organisationen wie AIPAC in der Tat große Summen auf, um politische Entscheidungsträger in ihrem Sinne zu beeinflussen. Allein im letzten Jahr gab AIPAC mehr als 100 Millionen US-Dollar aus. Gleichzeitig werden pro-israelische Strippenzieher auch hier als zentrale Treiber einer US-Außenpolitik dargestellt, die in ihren Grundlinien immer den Interessen der USA folgen muss. Was die Universitäten und Medien angeht, ist bekannt, dass pro-israelische Interessengruppen auch hier Einfluss nehmen oder es versuchen. Aber die steile These, dass dieser Einfluss für die Positionierung der Unis oder Medien entscheidend ist, lässt sich nicht belegen und erinnert an antisemitische Muster.

Außerdem wird Albanese vorgeworfen, dass sie in verschiedenen Äußerungen zu Israel-Palästina auf den deutschen Nationalsozialismus Bezug genommen hätte. Hier muss man differenzieren: Wenn Albanese Gaza im Oktober 2024 als ein „Konzentrationslager des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet, sind dabei nicht zwingend die Konzentrationslager der Nazis gemeint. Der Begriff fand ebenso Verwendung für britische Lager in Südafrika oder US-amerikanische Lager während des Zweiten Weltkriegs. Gleichzeitig lobte sie an anderer Stelle ein Bild, das Adolf Hitler mit einer jubelnden Menschenmenge und Benjamin Netanyahu mit US-Kongressmitgliedern zeigte.

Progressive jüdische Perspektiven

Unter meinen progressiven jüdischen Freund*innen gehen die Meinungen auseinander: Manche denken, Albanese sei tatsächlich antisemitisch und die Absage der Veranstaltung an der FU Berlin gerechtfertigt. Andere halten ihr Verhalten für problematisch, aber sehen in der Absage eine inakzeptable Einschränkung der Meinungsfreiheit. Wieder andere sehen eine konstruierte Diffamierungskampagne gegen eine UN-Sonderberichterstatterin am Werk, die weder Hand noch Fuß hat. Ich persönlich würde mich irgendwo zwischen der zweiten und der dritten Gruppe zuordnen, ohne anderen jüdischen Stimmen ihr Unbehagen absprechen zu wollen.

Zwei Dinge einen uns aber in unseren unterschiedlichen Sichtweisen: Erstens beobachten wir einen Doppelstandard bei Antisemitismusvorwürfen gegen linke und rechte, pro-palästinensische und pro-israelische Stimmen. Wenn Friedrich Merz die israelische Flagge als „Judenfahne“ bezeichnet oder Ron Prosor, der israelische Botschafter in Deutschland, jüdische Intellektuelle öffentlich diffamiert und als Feinde markiert, scheint das niemanden zu interessieren. Solange er als „Israelsolidarität“ verpackt ist, gibt es für Antisemitismus in der deutschen Öffentlichkeit keine Konsequenzen. Das scheint diese Form des Antisemitismus mit anti-muslimischem und anti-palästinensischem Rassismus zu teilen.

Zweitens wollen wir alle eine deutsche Politik sehen, die das internationale Völkerrecht achtet, Unterstützung für israelische Menschenrechtsverletzungen gänzlich einstellt und sich stattdessen glaubhaft für eine friedliche und gerechte Zukunft für alle Menschen zwischen Mittelmeer und Jordan starkmacht.

Statt uns mit gegenseitigen Vorwürfen im Kreis zu drehen, sollten wir uns fragen, weshalb Albaneses geplanter Besuch an der FU Berlin so viel Aufmerksamkeit hervorrufen konnte. Jeden Tag sprechen Menschen, die sich auf viel problematischere Weise geäußert haben, an deutschen Universitäten. Albanese aber füllte für begrenzte Zeit eine klaffende deutsche Leerstelle – und machte sie gerade dadurch unübersehbar: die Leerstelle des internationalen Völkerrechts.

Angesichts anhaltender deutscher Waffenlieferungen an Israel und diplomatischer Unterstützung für die israelische Regierung, folgten politische Entscheidungsträger*innen der „Staatsräson“, anstatt sich unzweideutig zu universellen Menschenrechten und zum internationalen Völkerrecht zu bekennen. In ihrer Rolle als UN-Sonderberichterstatterin hielt Albanese dem deutschen Staat seine unerfüllten Pflichten unter dem internationalen Völkerrecht schonungslos vor. Die Kompromisslosigkeit, mit der Albanese Besatzung, Apartheid und Genozid sowie die westliche Unterstützung dafür anprangert, wollen ihre Unterstützer und sicher auch manche ihrer Kritiker eigentlich aus den Mündern deutscher Politiker*innen hören. Wer wirklich verhindern will, dass Francesca Albanese an deutschen Hochschulen spricht, sollte dafür sorgen, dass der Einsatz für die Rechte der Palästinenser*innen und das Völkerrecht in Deutschland keine Ausnahme bleibt, sondern zur Regel wird.

Ein Beitrag von Jonathan Peaceman, jüdischer Student und Aktivist

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