Wer auch nur ein bisschen zugehört und zugesehen hat, seit Israel seine aktuelle Bombardierung des Gazastreifens im Oktober begonnen hat, dürfte mitbekommen haben, dass es unter israelischen Politikerinnen und Politikern von Anfang an eine genozidale Rhetorik gab.
Die Entscheidung, Wasser und Strom abzuschalten, die vielen Aufrufe, Gaza dem Erdboden gleichzumachen, die Rede von „menschlichen Tieren“ und der „Gaza Nakba“ – das muss hier nicht alles aufgelistet werden, denn Südafrikas Anwältinnen und Anwälte haben es in ihrer 84-seitigen Klageschrift festgehalten. Anklage wegen Völkermord: Es gibt kaum einen schwereren Vorwurf.
Dass Südafrika diesen Schritt unternommen hat, zeugt von einem Einsatz für Menschenrechte, der gerade jetzt bitter nötig ist. Auf der Straße bekommen die Menschen Palästinas in vielen Ländern leidenschaftliche Unterstützung, aber auf politischer Ebene ist die Bewegung schwach; das mächtigste Land der Welt steht fest an Israels Seite, und Joseph Biden schleust Waffenlieferungen an Israel sogar am Kongress vorbei, damit sie ja nicht durch demokratische Abstimmung torpediert werden. Hochrangige Politikerinnen und Politikern in Europa – auch solche, die 2022 über Nacht zu leidenschaftlichen Verbündeten der Ukraine wurden – drücken sich größtenteils um Forderungen nach Intervention, während der Maulheld Erdoğan, noch nie ein Verfechter der Menschenwürde, mit medienwirksamen propalästinensischen Statements von den eigenen Handelsbeziehungen zu Israel ablenkt.
Südafrikas Klage ein Paukenschlag
Angesichts von so viel Feigheit und Heuchelei kam Südafrikas Klage als Paukenschlag. Es kommt sogar noch ein Aspekt dazu, der für die leidensreiche Geschichte dieses Landes eine starke symbolische Rolle spielt: Israel war ein enger Verbündeter des südafrikanischen Apartheidregimes, dem es sogar Atomwaffen zum Verkauf angeboten hat. In Den Haag wird Israel nun zum Teil von schwarzen Anwältinnen und Anwälten angeklagt, deren ehemaliges Unrechtsregime auf der gleichen Seite der Geschichte stand wie der sogenannte „jüdische Staat“. Es ist schwer, darin nicht auch eine historische Abrechnung zu sehen.
Wie aussichtsreich ist denn die Klage? Viele juristische Fachleute halten die Klage für wasserdicht, und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie etwa der Genozidforscher Raz Segal sprechen seit Oktober schon vom Völkermord. Während der seit Jahren laufende Versuch, am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) Gerechtigkeit für vergangene Opfer Israels zu bekommen, eine sehr lange, zähe Angelegenheit ist, bei der zunächst beurteilt werden musste, ob das Gericht überhaupt zuständig sei, handelt es sich im aktuellen Fall am IGH um ein Eilverfahren, um das Ende der „genozidalen Handlungen“ herbeizuführen. Das langfristige Ziel ist zwar ein umfassendes Urteil, das handfeste Konsequenzen für Israels Rolle in der Welt haben wird, das unmittelbare ist aber eine einstweilige Verfügung, die einen vollständigen oder zumindest teilweisen Waffenstillstand juristisch erwirken soll. Nach über 23.000 gezählten Toten (und noch Tausenden ungezählten) gibt es nichts Dringenderes, als das Töten zu beenden.
Mehr als Nothilfe – Es geht um Gerechtigkeit
Es geht aber zunächst eher um Nothilfe als um Gerechtigkeit. Die Klageschrift ist so reich an Belegen, nicht nur für die genozidalen Absichten Israels, sondern auch ihre Umsetzung, die gnadenlose Gewalt gegen die Gesamtbevölkerung Gazas und die Zerstörung von Gebäuden jeglicher Art – Wohnhäusern, Schulen, Moscheen, Kirchen, Krankenhäusern, Kultureinrichtungen –, dass man meinen könnte, ein Erfolg der Klage wäre nur politisch zu verhindern. Die Fülle an Zitaten massenmörderischer Verlautbarungen ist nicht nur ein moralisches Zeugnis, sondern auch ein Beleg für die bisherige Straflosigkeit Israels. Diese Politikerinnen und Politiker scheuen sich überhaupt nicht, öffentlich von Auslöschung und Vernichtung zu sprechen, weil sie dafür nie zur Rechenschaft gezogen werden. Auch die Soldatinnen und Soldaten, die diese Pläne in Gaza in die Tat umsetzen, prahlen öffentlich damit, machen TikTok-Videos, in denen sie die Sprengung von Straßenzügen ihren Frauen zum Geburtstag widmen. In anderen Filmen erniedrigen sie Gefangene oder verwüsten Wohnungen unter Gelächter. Auf palästinensischer Seite nehmen die Aufnahmen von Toten und Verstümmelten kein Ende. Noch nie war ein Genozid so gut dokumentiert.
In Deutschland gibt es mehr Repressalien gegen die Palästinasolidarität als je zuvor, von willkürlichen Festnahmen und Anzeigen bei Demonstrationen bis hin zu Entlassungen und Ausladungen auf institutioneller Ebene. Dass in der Politik ein Bekenntnis zu Israel ernsthaft als Voraussetzung für die Einbürgerung gefordert wird, ist surreal. Schon Begriffe wie „Besatzung“ oder „Nakba“ werden von manchen als Propaganda abgelehnt, und selbst eine so etablierte Organisation wie Amnesty International wurde 2022 für den Bericht über israelische Apartheid vielerorts als antisemitisch denunziert.
Es ist Zeit, dass dem offiziellen Deutschland auf internationaler Ebene klar gesagt wird, dass seine „Staatsräson“, nämlich die bedingungslose Unterstützung Israels, in Wahrheit die bedingungslose Unterstützung von Genozid ist. Somit wären Lobbyorganisationen wie die Deutsch-Israelische Gesellschaft, die WerteInitiative oder die Jüdische Studierendenunion als das bloßgestellt, was sie sind, nämlich Befürworter zehntausendfacher Tötungen. Und Politikerinnen und Politiker wie Außenministerin Baerbock, Vizekanzler Habeck oder auch EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen würden als deutsche Staatsdienerinnen und Staatsdiener in die Geschichte eingehen, die unter ständiger Berufung auf ihre historisch bedingte moralische Verantwortung jedes Verbrechen Israels verteidigt hatten.
Bis dahin wird es vielleicht noch etwas dauern, aber ein gerichtlich angeordnetes Ende der Massaker könnte zumindest innerhalb kurzer Zeit erreicht werden. Jeder Mensch, für den palästinensische Leben zählen, sollte das unterstützen.
Ein Gastbeitrag von Wieland Hoban, Vorsitzender von Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost
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