Gaza und wir: Über die Kunst der deutschen Verdrängung

Kind in Gaza - Bild: Hosny Salah

Ein Friedensabkommen zwischen Israel und der Hamas ist nun endlich in greifbarer Nähe. Ob sich die Waffenruhe als stabil und nachhaltig erweist, wird sich erst noch herausstellen. Doch auch wenn die Bomben nicht fallen, brennen sich die Bilder von Zerstörung und Leid in die Netzhaut. Einige von uns können den Blick nicht abwenden von der Verzweiflung der Menschen in Gaza, sie stehen in engem Kontakt mit Familie und Freunden vor Ort oder nehmen schlicht Anteil.

Sie sprechen mit ihren besorgten Bekannten in Israel, verfolgen die Demonstrationen gegen Regierungschef Netanjahu und seine rassistische Koalition und fühlen die emotionale Achterbahn nach, die die Angehörigen der Geiseln in diesen Tagen durchleben. Seit über 15 Monaten sind sie in der Gewalt der Hamas, es bleibt ungewiss, wie viele Geiseln noch leben. Es gibt nun Hoffnung, nachdem Netanjahu und sein Kabinett lange mögliche Deals sabotierten. Denn das politische Überleben des mehrfach angeklagten Regierungschefs ist an diesen Krieg geknüpft.

Das Überleben in Gaza hingegen wird von Tag zu Tag schwieriger: über die  Hälfte der Wasser-Infrastruktur ist zerstört. Rund 1 Million Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben und leben nun in Zelten; mit den sinkenden Temperaturen stiegen die Fälle an erfrorenen Kindern. Für andere sind der Hunger und das Leid im Gazastreifen weit weg – eine Schreckensmeldung unter vielen. Die Aufmerksamkeit ebbt ab, nach den Wirren rund um den Deal werden sie sich anderen Tragödien zuwenden.

Der Konflikt ist nicht vorbei

Ist denn die Geschichte in Gaza schon zu Ende erzählt? Nein, der Konflikt holt uns immer wieder ein. Sei es ein internationaler Haftbefehl gegen Netanjahu, Gallant und die Hamas-Führung, oder ein vielstimmiger Chor von Nichtregierungsorganisationen. Sie klagen von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord. Ihre Stimmen scheinen jedoch zu verklingen –  an die Ohren von Außenministerin Baerbock oder Kanzler Scholz dringen sie zumindest nicht. Noch kurz vor Weihnachten genehmigte die Bundesregierung Waffenlieferungen im Wert von über 30 Millionen Euro an Israel, was genau genommen völkerrechtswidrig ist. Denn wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass mit diesen Waffen Verbrechen begangen werden, trägt Deutschland eine Mitverantwortung.

Verantwortung ist eines der Schlüsselwörter in der Debatte und wird häufig instrumentalisiert. Laut Duden gibt es in erster Linie zwei Definitionen von Verantwortung: Es wird unterschieden zwischen der Verpflichtung, Schaden abzuwenden und der Verpflichtung, für Geschehenes einzustehen. Die viel zitierte, rein symbolische Staatsräson wendet den Blick in die Vergangenheit, ohne daraus Lehren für das Handeln in der Gegenwart abzuleiten. Damit dient sie nicht als moralischer Kompass, sondern verschleiert eine außenpolitische Lähmung, die dem ursprünglichen Ansatz einer wertegeleiteten Außenpolitik unübersehbar widerspricht. Hinzu kommt, dass die Regierung Netanjahus nicht nur die Reputation Israels verspielt, sondern mit militärischen Schlägen gegen die Zivilbevölkerung in Nachbarstaaten ein Leben in langfristiger Sicherheit für die eigene Bevölkerung riskiert. Es täte der deutschen Außenpolitik gut, das Wohl der Menschen in Israel und Palästina zu priorisieren und sich zu den internationalen Haftbefehlen zu bekennen, anstatt einem selbstzerstörerischen mutmaßlichen Kriegsverbrecher freie Hand zu lassen.

Nahezu bedingungslose Solidarität

Der Erklärungsansatz für Deutschlands nahezu bedingungslose Unterstützung für die israelische Regierung funktionierte und war dehnbar, auch als echte Friedensbemühungen scheiterten, die Unterdrückung des palästinensischen Volks weiter zunahm und sich israelische Siedler völkerrechtswidrig auf palästinensischem Gebiet niederließen. Doch mittlerweile schauen Menschen innerhalb und außerhalb Europas auf Deutschland und zerbrechen sich den Kopf über die Doppelmoral und die verschiedenen Maßstäbe, die die Bundesrepublik für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anlegt. Während Deutschland etwa die Ukraine gegen Landraub verteidigt und Kriegsverbrechen entschieden verurteilt, werden diese in Gaza und der Westbank hingenommen.

 Tatsächlich werden “Wir”, die Deutschen, nicht mehr verstanden. Neulich fragte ein Freund: “Wie kann es sein, dass genau Deutschland, das selbst einen Völkermord begangen hat, ihn nun im Livestream sieht und nichts dagegen tut”? Tatsächlich hören wir Unsicherheit im Bekanntenkreis, wie soll man sich denn nun äußern? Man habe ja keine Ahnung, sei kein außenpolitischer Experte, es sei eben kompliziert. Und klar ist: Wahlen kann man mit diesem Thema nicht gewinnen. Wir sind nicht überrascht, dass ein zunehmend verrohter Diskurs dazu führt, dass Menschen verstummen. Aber unsere Vorfahren haben nicht für eine Demokratie gekämpft, damit wir über Unrecht schweigen und zusehen, wie Volksvertreter*innen selbst gegen die Regeln verstoßen, die wir uns gegeben haben. Ganz im Gegenteil.

Wir können aus Fehlern lernen

Die gute Nachricht: Wir können aus Fehlern lernen und einen doppelten Maßstab wieder zu einem machen. Unser Rezept? Das Völkerrecht und gängige außenpolitische Instrumente. In Anlehnung an unseren Europaabgeordneten Reinier van Lanschot aus den Niederlanden fordern wir die Umsetzung der Haftbefehle, einen Stopp der Lieferung von Offensivwaffen an Israel, die Anerkennung eines palästinensischen Staates sowie Sanktionen gegen die Verantwortlichen der illegalen Siedlungspolitik. Die Kooperation und finanzielle Förderung von NGOs in Israel und Palästina, die sich für Frieden und Verständigung einsetzen, sollten wiederum finanziell und personell ausgeweitet werden. Im Gegensatz dazu entzog die Bundesregierung mehreren israelischen NGOs und ihren deutschen Partnerorganisationen die Fördergelder. Die Gründe bleiben im Dunkeln, laut Recherchen der Deutschen Welle

Zwar liegen diese Maßnahmen nicht in den Händen von uns, den Bürgerinnen und Bürgern. Aber das macht uns nicht machtlos. Wir können uns informieren, Fragen stellen, Inhalte auf Social Media teilen und die sinnbildliche oder echte Hand ausstrecken zu denen, die hier bei uns besonders unter den Ereignissen leiden. Wir können uns gegenseitig dazu befähigen, unseren Gefühlen in respektvoller Weise Ausdruck zu verleihen und Empathie zu üben. Wir können Mehrheiten bilden, die wir für echten positiven Wandel brauchen. Es liegt auch an uns – denn Verantwortung, liebe Bundesregierung, ist keine Worthülse.

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Eine Antwort

  1. >>Die ist der zweite Artikel, den du liest. Schön Dich wieder bei uns zu haben!<<

    Da ist eurer Software ein Fehler unterlaufen. Es ist mit Sicherheit das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen Artikel bei euch gelesen habe.

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