Israels Regierung will den ganzen Gazastreifen besetzen – Im Gespräch mit Aida Touma-Sliman

Seit fast 16 Monaten bombardiert Israel den Gaza-Streifen, seit fast genauso langer Zeit gehen Menschen weltweit für einen Waffenstillstand auf die Straße, auch in Israel finden Proteste statt, die ihr Ziel nun endlich erreichen konnten. Wir haben mit der palästinensischstämmigen Abgeordneten im israelischen Parlament Aida Touma-Sliman über den Krieg, Israels Regierung, die Proteste gegen diese und die Perspektiven für Frieden gesprochen.

Etos.media: Eine rechte Koalition regiert Israel seit fast zwei Jahren. Wie setzt sie sich zusammen?

Aida Touma- Sliman: Die rechtsextreme Regierung besteht aus drei klar unterscheidbaren Segmenten: der regierenden Likud-Partei – Netanyahus Partei –, den ultraorthodoxen Parteien und den Siedlerparteien von Ben Gvir und Smotrich. Kürzlich trat auch die kleine Partei von Gideon Saar der Regierung bei. Sowohl die Likud- als auch die ultraorthodoxen Parteien sind nach rechtsaußen gerückt und unterscheiden sich in der Palästinafrage nicht mehr von den fanatischen Siedlern. Alle Teile der Koalition unterstützen die ethnische Säuberung Gazas, den Siedlungsbau dort und die Annexion des Westjordanlands.

Etos.media: In Deutschland wird es oft so dargestellt, als hätten nur Ben Gvir und Smotrich rechte und rassistische Positionen. Ist das korrekt?

Aida Touma- Sliman: Ben Gvir und Smotrich sind die Ideologen dieser Regierung. Sie haben auch sehr mächtige Positionen inne – Ben Gvir als Polizeiminister (auch für Gefängnisse) und Smotrich als Finanzminister sowie Minister im Verteidigungsministerium, zuständig für die Zivilverwaltung (des besetzten Westjordanlands). Dennoch ist es falsch, sie als unterscheidbar von Netanyahu und dem Rest seiner Koalition zu betrachten. Die gesamte Regierung folgt jetzt der Linie von Ben Gvir und Smotrich und fördert deren Politik. Die gesamte israelische Rechte ist rassistisch, entmenschlicht Palästinenser und unterstützt den Vernichtungskrieg in Gaza, den viele als Völkermord bezeichnen.

Etos.media: Monatelang demonstrierten Menschen für einen Geiselaustausch und einen Waffenstillstand.

Aida Touma- Sliman: Ein Problem der Proteste war, dass sie sich nicht mit den zentralen Fragen des Krieges selbst befassten. Natürlich ist es entscheidend, alle Geiseln zu befreien – aber das könnte nur in einem Abkommen geschehen, das den Krieg beendet. Die Protestbewegung sagt das jetzt, aber es hat sehr lange gedauert, bis sie zu einer Antikriegsbewegung wurde. Die hartnäckigen Antikriegsdemonstranten, die den Krieg von Anfang an aus einer prinzipiellen Haltung ablehnten, sind zwar bedeutsam, aber klein.

Hinsichtlich des mangelnden Erfolgs – das liegt an den politischen Manövern Netanyahus und seiner Koalition. Sie wissen, dass die Menschen, die gegen den Krieg und für die Geiseln demonstrieren, nicht ihre politische Basis sind, und sie sind bereit, die Proteste zu unterdrücken oder zu ignorieren, während sie weiterhin auf ihre Teile der Gesellschaft setzen, die mit dem endlosen Krieg zufrieden sind und ihn zu einem Krieg gegen den Iran ausweiten möchten. Die Fähigkeit der Proteste, die Regierung zu stürzen oder den Krieg zu beenden, ist leider begrenzt.

Netanyahu versteht, dass er eine große Koalition hat, deren Stärke in der gemeinsamen rechten Ideologie liegt. Er ist bereit, den Preis zu zahlen, die Macht mit seinen Partnern zu teilen, solange er seine Pläne zur Annexion und Besatzung weiterverfolgen kann. Die Demonstrationen bedrohen die Koalition und die Regierung nicht.

Etos.media: Was sind Netanyahus Ziele in Gaza und im Westjordanland?

Aida Touma- Sliman: Ich denke, es ist jetzt ziemlich klar, dass die Regierung die dauerhafte Wiederbesetzung des gesamten Gazastreifens anstrebt. Ebenso ist inzwischen klar, dass sie die Bevölkerung von Gaza reduzieren will – sei es durch Töten, Aushungern oder durch die Schaffung einer internationalen Lage, die eine Umsiedlung vieler Palästinenser ermöglichen würde. Die Regierung zielt darauf ab, Siedlungen in Gaza wieder aufzubauen – zunächst im ethnisch gesäuberten nördlichen Streifen, später jedoch auch in anderen Teilen. Die Regierung strebt keine Selbstverwaltung der Palästinenser in Gaza an. Leider stehen wir vor einer langfristigen katastrophalen Lage in Gaza, die keinen Wiederaufbau ermöglichen wird. Dies wird die Situation sein, solange diese Regierung an der Macht ist.

Im Westjordanland nimmt auch die ethnische Säuberung zu. In den letzten 14 Monaten wurden mehr als 50 palästinensische Hirten-Gemeinschaften in Zone C vertrieben. Außerdem werden die gewaltsamen Razzien der Besatzungstruppen in palästinensischen Städten und Dörfern immer aggressiver – einschließlich des Einsatzes von Luftangriffen, sowie der Erweiterung bestehender Siedlungen und des Baus von sieben neuen Siedlungen im letzten Jahr in Zone B des Westjordanlands. Wir hören, dass die Regierung plant, „als nächstes das Westjordanland anzugehen“. Angesichts dessen, was in Gaza geschieht, ist dies äußerst besorgniserregend.

Netanyahu hat klar gemacht, dass das Ziel dieser Regierung darin besteht, den Nahen Osten so zu verändern, dass eine Annexion großer Teile des Westjordanlands durchgesetzt und die Möglichkeit eines lebensfähigen palästinensischen Staates zerstört wird, wodurch die Zwei-Staaten-Lösung begraben wird.

Etos.media: Netanyahus Ansatz beschränkt sich nicht auf außenpolitische Eskalationen; auch im Inland arbeitet er daran, die Rechte der palästinensischen Minderheit zu beschneiden. Welche konkreten Pläne hat er diesbezüglich?

Aida Touma- Sliman: Während regionale Kriege geführt werden, z. B. im Libanon und in besetzten Gebieten Syriens, arbeitet die Netanyahu-Regierung auch intensiv daran, ihre rechtliche Überarbeitung umzusetzen, um den letzten Rest demokratischer Strukturen in Israel zu zerstören. Das Endziel dieses Projekts ist es, die palästinensischen Bürger zu entrechten und so eine dauerhafte politische Mehrheit für die extreme Rechte zu gewährleisten.

Das Hauptinstrument hierfür ist ein neues Gesetz, das es dem zentralen Wahlausschuss – einem politischen Gremium, das die bestehenden Machtverhältnisse in der Knesset (mit einer großen Mehrheit für die Rechte) repräsentiert – erheblich erleichtern würde, Mitglieder und Parteien von der Teilnahme an Wahlen wegen angeblicher „Unterstützung von Terrorismus“ auszuschließen. Dies richtet sich gegen palästinensische und linke Abgeordnete und speziell gegen meine Partei – Hadash. Die Anschuldigung der Unterstützung von Terrorismus basiert auf einer falschen Interpretation, die von der Rechten gefördert wird, wonach jede Unterstützung für palästinensische Rechte – kollektiv oder individuell – als Unterstützung für die Hamas angesehen wird. Sollte dieses Gesetz verabschiedet werden, besteht die Gefahr, dass unsere Partei verboten wird und es keine echte politische Vertretung mehr für die palästinensische Gesellschaft in Israel und die anti-besatzungsorientierten Kräfte gibt, die einen gerechten Frieden fördern.

Etos.media: Selbst jetzt stehen Palästinenser in Israel vor erheblichen Einschränkungen. Beispielsweise dürfen sie rechtlich nicht in bestimmten Städten leben, ihre Gemeinden erhalten weniger Mittel, und Häuser werden abgerissen. In welchen anderen Bereichen zeigen sich diese Unterschiede?

Aida Touma- Sliman: Das dringendste Problem neben dem Krieg ist die kriminelle Gewalt, die unsere gesamte Gesellschaft terrorisiert und von der israelischen Regierung ermöglicht wird. Sowohl 2023 als auch 2024 lag die Zahl der Mordopfer in der palästinensischen Gesellschaft innerhalb Israels bei über 200. Sie hat sich im Vergleich zu der Zeit vor Ben Gvirs Machtübernahme fast verdoppelt. Es gibt Schießereien und Bandenkriege in all unseren Städten und Dörfern. Die Polizei unternimmt nichts, um dagegen vorzugehen, und es gibt ein zunehmendes Verständnis dafür, dass dies den politischen Interessen der Rechten dient, die unsere Gesellschaft gebrochen, ängstlich und eingeschüchtert sehen will.

Während die Polizei keine ernsthaften Versuche unternimmt, das organisierte Verbrechen zu bekämpfen, konzentriert sie ihre Bemühungen auf den Abriss von Häusern unter dem Vorwand illegalen Bauens – ein Ergebnis von Jahrzehnten ohne Planungspolitik oder Erweiterung der Bauflächen für palästinensische Bürger Israels.

Etos.media: Welche Maßnahmen können Deutschland und die EU ergreifen, um den Krieg zu beenden und die Unterdrückung in Israel anzugehen?

Aida Touma- Sliman: Mit Trumps Sieg in den Vereinigten Staaten ist die Rolle Europas jetzt umso wichtiger. Der einzige Weg, Netanyahus endlosen Krieg zu beenden, ist die Ausübung echten Drucks durch die internationale Gemeinschaft. Trump wird dies nicht tun, daher muss Europa handeln. Die dringendste Forderung ist ein Waffenembargo. Aber es gibt auch eine Verantwortung Europas und Deutschlands, das Völkerrecht zu schützen und anzukündigen, dass sie die Haftbefehle gegen Netanyahu und Gallant respektieren werden.

Wir glauben auch, dass es eine breite Anerkennung eines palästinensischen Staates geben muss, um zu signalisieren, dass, egal wie sehr Netanyahu und Trump die Annexion vertiefen, die internationale Gemeinschaft dies nicht akzeptieren wird. Sie besteht darauf, dass auch das palästinensische Volk ein Recht auf Selbstbestimmung in einem eigenen Staat hat, Seite an Seite mit Israel. Die Anerkennung Palästinas muss im Zentrum unseres Kampfes stehen, zusammen mit der Forderung nach Druck auf Israel.

Etos.media: Danke dir für das Gespräch.

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