Deutschland behauptet, Demokratie und Menschenrechte zu unterstützen – warum also werden antimilitaristische Stimmen in Israel und Palästina defundet? Nachdem die deutsche Regierung die Mittel für die israelische NGO New Profile gestrichen hat, geht eine Aktivistin der Gruppe den tatsächlichen Beweggründen für diese Entscheidung, der tiefgreifenden Militarisierung der israelischen Gesellschaft und dem gefährlichen Aufstieg des Faschismus in beiden Ländern auf die Spur. In diesem erhellenden Interview demontiert Or die als Waffe missbrauchte Schuldfrage Deutschlands, untersucht, was hinter Israels Behauptung steckt, das „vegan-freundlichste Militär“ zu haben, und richtet einen dringenden Appell an die radikale Linke für wahre Solidarität über Grenzen hinweg.
Here you find the English version.
etos.media: Die deutsche Regierung hat kürzlich die Mittel für Ihre antimilitaristische Organisation New Profile gekürzt. Vermuten Sie eine politische Motivation hinter dieser Entscheidung?
Or, Sprecherin, New Profile: Die deutsche Regierung hat diese Entscheidung bereits im vergangenen Juni getroffen, nach bedeutenden politischen Veränderungen in Deutschland und vor dem Hintergrund des Völkermords in Gaza. Zunächst hat Deutschland sechs palästinensischen Organisationen die Mittel gestrichen, und ich möchte ihre Namen nennen, weil viele deutsche Zeitungen dies nicht für nötig hielten, was ich sowohl äußerst respektlos als auch irreführend finde:
– Al-Haq
– Addameer Prisoner Support and Human Rights Association
– Bisan Center for Research and Development
– Defense for Children International-Palestine
– The Union of Agricultural Work Committees
– The Union of Palestinian Women’s Committees
Nach der Streichung der Mittel für diese Organisationen sah sich die deutsche Regierung dem Druck verschiedener Gruppen in Palästina und Israel ausgesetzt, die versuchten, weitere Mittelstreichungen zu verhindern. Doch schließlich traf Deutschland die Entscheidung, auch bestimmte israelische Organisationen zu defunden. Die Entscheidung, uns die Mittel zu streichen, ist Teil der Bemühungen, die Linke auszulöschen und diejenigen zum Schweigen zu bringen, die gegen Faschismus und Besatzung und für die Menschenrechte kämpfen.
Ein Teil dieser Maßnahme ist im deutschen Konzept der Staatsräson verwurzelt, die behauptet, dass das Existenzrecht Deutschlands an das Israels geknüpft ist. Doch das ist ein Zerrbild – Deutschland sorgt sich nicht wirklich um jüdische Menschen, Israelis und schon gar nicht um Palästinenser. Was sie interessiert, sind ihre jahrzehntelangen Waffenverkäufe an Israel und ihr politisches Ansehen auf der Weltbühne. Sie sind froh, dass Juden in Israel sind, und jeder, der nicht die „richtige Art“ Jude ist, wird beschuldigt, antisemitisch oder möglicherweise ein selbsthassender Jude zu sein. Deutschland rückt immer weiter nach rechts: Die AfD hat ihre Ergebnisse bei den jüngsten Wahlen verdoppelt, und die CDU wird wohl bald die Kanzlerschaft übernehmen.
etos.media: Gerade die Lage rund um New Profile trägt eine besondere Ironie in sich.
Or: Genau, denn nach deutschem Recht hatte – auch vor der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 – jeder das Recht, sich aus moralischen Gründen gegen den Wehrdienst und für den Zivildienst zu entscheiden. Aber in Israel gibt es dieses Recht nicht. Unsere Arbeit besteht darin, Menschen bei der Kriegsdienstverweigerung zu begleiten und ihr Grundrecht auf freie Entscheidung zu unterstützen. Die Behauptung des BMZ (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, J.R.), wir würden in Israel etwas Illegales tun, ist absurd. Wir sind eine registrierte Organisation – wenn wir gegen das Gesetz verstoßen würden, könnten wir uns gar nicht registrieren. Die Vorstellung, dass die Unterstützung von Menschen bei der Ausübung eines grundlegenden Menschenrechts die Existenz Israels untergräbt, ist zutiefst falsch. Also, ja, ich denke, es steckt eine politische Motivation dahinter.
Und es ist auch einfach krank und zutiefst herablassend, denn die deutsche Regierung impliziert hier, dass Deutsche über die moralische Fähigkeit verfügen zu entscheiden, ob sie in der Armee dienen wollen, Israelis aber nicht. Als ich dieses arrogante Argument zum ersten Mal gehört habe, kam es mir vor wie die Annahme, dass die Deutschen intelligenter sind und besser in der Lage, ethische Entscheidungen zu treffen, während Israelis zum Militärdienst gezwungen werden müssen.
etos.media: Sie haben bereits einige Aspekte Ihrer Arbeit erwähnt, aber könnten Sie für Leser, die mit New Profile nicht vertraut sind, Ihre Hauptaktivitäten kurz skizzieren?
Or: Wir machen feministische, antimilitaristische Arbeit in mehreren Projekten. Ein wichtiger Bereich ist Bildung, Medien und Öffentlichkeitsarbeit. Wir analysieren, wie die Militarisierung fast jeden Aspekt der israelischen Gesellschaft infiltriert – wie sie das Verhalten prägt und die Menschen mit einer militärischen Denkweise indoktriniert. Ein weiteres Schlüsselprojekt ist DIMSE, eine Datenbank, die israelische Militär- und Kriegstechnologieexporte erfasst. Viele Aktivisten konzentrieren sich auf die Waffenverkäufe aus Deutschland oder den USA an Israel, aber es läuft in beide Richtungen. Unsere Datenbank enthält entscheidende Einblicke in Israels Rolle bei globalen Waffengeschäften.
Wir betreiben auch ein Beratungsnetzwerk zur Unterstützung von Personen, die den Militärdienst verweigern. Ganz gleich, ob jemand aufgrund von Völkermord, Besatzung, wirtschaftlicher Not, Krankheit oder weil man queer ist, verweigert, wir helfen allen. Und alle diese Gründe sind für uns politisch. New Profile hilft jedes Jahr mehr als tausend Menschen, und die Nachfrage ist seit Beginn des Völkermords noch gestiegen.
etos.media: Wie wird sich der Verlust der deutschen Finanzierung auf Ihre zukünftige Arbeit auswirken?
Or: Ich möchte auf ein Problem im europäischen Aktivismus hinweisen: die Erwartung, dass Aktivismus unbezahlte Arbeit sein sollte, die man in seiner Freizeit leistet. Diese Perspektive übersieht die Tatsache, dass unbezahlter Aktivismus nur den Privilegierten zugänglich ist – denjenigen mit finanzieller Unterstützung durch die Familie, staatliche Leistungen oder auch durch günstigen oder kostenlosen Wohnraum. Aber das ist in vielen anderen Ländern der Welt nicht der Fall. New Profile ist eine der integrativsten Organisationen, mit denen ich gearbeitet habe. Wir arbeiten mit Menschen mit unterschiedlichem sozialem und finanziellem Hintergrund, BIPOC und anderen marginalisierten Gemeinschaften. Und das ist nur möglich, weil wir darauf bestehen, unsere Angestellten zu bezahlen, damit sie sich der Sache widmen können, ohne ums Überleben kämpfen zu müssen. Im Aktivismus kämpft man oft unermüdlich, ohne dass sich etwas ändert – oder wenn sich doch etwas ändert, dann dauert es lange und ist zäh. Aber die unglaubliche Arbeit unseres Beratungsnetzwerks ist anders. Wir setzen uns ein, und die Menschen kommen tatsächlich aus dem Militär heraus. Diese kleinen Siege sind so wichtig. In einer Zeit, in der die israelische Armee wegen Arbeitskräftemangels Wehrpflichtbefreiungen aufhebt, ist das Graswurzelarbeit.
Ich persönlich bin sehr besorgt. Ich habe nicht das finanzielle Privileg, die Arbeit bei New Profile ohne Unterstützung fortzusetzen. Viele Menschen werden versuchen, irgendwie weiterzumachen, aber die Art und Weise, wie die Organisation funktioniert und wer daran teilnehmen kann, wird vom Defunding betroffen sein. Die Arbeit wird nicht verschwinden, aber ich werde nicht mehr so viel beitragen können wie bisher. Obwohl ich deutsche Stiftungen und ihren neoliberal-kolonialen Ansatz stark kritisiere – sie finanzieren Gruppen auf der ganzen Welt und diktieren ihnen, wie sie zu arbeiten haben – gebe ich zu, dass die deutsche Finanzierung in unserem Fall entscheidend war. Über 50 Prozent unseres Budgets kamen von der deutschen Regierung. Das über Nacht zu verlieren, ist verheerend und schockierend.
etos.media: New Profile hat das Ziel, „den Einfluss des Militärs auf die israelische Zivilgesellschaft zu verringern“. Ich habe eine Zeit lang in Israel gelebt, daher habe ich zumindest eine leise Ahnung davon, wovon Sie sprechen. Wie würden Sie jemandem, der noch nie in Israel war, den Einfluss und die Sichtbarkeit des Militärs im täglichen Leben beschreiben?
Or: Die Militarisierung ist einfach überall und in allem. Sie findet sich in der Kunst, im Radio, in Werbung, Fernsehsendungen, Musik – in jedem Aspekt des täglichen Lebens. Vom Kindergarten an werden die Kinder an die Armee herangeführt. In den Schulen werden Feiertage begangen und Geschichte durch die Brille des Militärs gelehrt, wodurch ständig die Vorstellung verstärkt wird, dass das jüdische Volk bedroht ist und sich zum Überleben auf das Militär verlassen muss. Historisch sahen sich jüdische Gemeinschaften Verfolgungen ausgesetzt und überlebten mehrere Versuche der Auslöschung, aber der Schritt von dieser Realität zu der Überzeugung, dass eine Armee die einzige Antwort ist, ist ein gefährlicher und unlogischer Sprung. Dieses Glaubenssystem ist das Herzstück der israelischen Militarisierung: Die einzige Antwort auf Antisemitismus und Bedrohung sind Waffen und Vergeltung.
etos.media: Ich war schockiert von der Allgegenwart der Soldaten. Man sieht sie überall, sie tragen ihre Gewehre offen auf dem Bussitz neben dir.
Or: Ja, Waffen und Gewehre sind überall. Das ist zutiefst normalisiert. Haben Sie die ganzen Fotos von Leuten gesehen, die jetzt mit Gewehren heiraten?
etos.media: Ja, das ist sehr beunruhigend.
Or: Das ist einfach krank.
etos.media: Ihr sagt, dass diese tief verwurzelte Militarisierung „die Gesellschaft gewalttätiger, sexistischer und rassistischer macht“. Dem stimme ich voll und ganz zu. Zudem könnte man argumentieren, dass Militarisierung auch eine Voraussetzung für die Entmenschlichung der Palästinenser ist, wie wir es aktuell beim Genozid in Gaza sehen. Würden Sie dem zustimmen?
Or: Auf jeden Fall. Die Militarisierung basiert auf der Idee von „wir gegen die“. In Israel sind mit „die“ die Palästinenser gemeint – oder, noch vager ausgedrückt, die „Araber“, was die palästinensische Identität gänzlich auslöscht. Es wird auch versucht, die Tatsache auszulöschen, dass es jüdische Menschen gibt, die Araber sind. Die Entmenschlichung ist ein zentraler Bestandteil dieses Prozesses. Und ich weiß nicht, ob das für das deutsche Publikum zu heikel ist, aber die Palästinenser in Gaza werden häufig mit Nazis verglichen. Die Behauptung, sie seien die „neuen Nazis“, ist ein wesentlicher Bestandteil ihrer Entmenschlichung.
Als ich das israelische Bildungssystem durchlaufen habe, war ein großer Teil meines Radikalisierungsprozesses auch mit der trivialen Erkenntnis verbunden, dass auch Nazis Menschen waren. Sie zu entmenschlichen, hilft uns nicht zu verstehen, wie Gräueltaten begangen werden. Nicht Außerirdische, sondern Menschen sind zu all diesen schrecklichen Dingen fähig, und wenn man sie ihres Menschseins beraubt, nimmt man ihnen sowohl die Verantwortungspflicht als auch die Fähigkeit zur Veränderung. Wenn man in dem Glauben aufwächst, dass Gewalt und Vergeltung die einzigen Lösungen sind, wird man nicht nach Alternativen suchen. Schauen Sie sich nur die israelischen Nachrichten an. Als der Iran Raketen abfeuerte, lautete die unmittelbare Reaktion: „Wir werden einen Weg finden, um Vergeltung zu üben. Die Armee plant bereits Vergeltungsmaßnahmen“. Soll das den Menschen ein Gefühl der Sicherheit geben? Eine echte Lösung wäre, diese Angriffe von vornherein zu verhindern – indem man keine Angriffe oder Besatzungen durchführt. Aber die Grundüberzeugung hier ist: Gewalt ist die einzige Antwort.
Darüber hinaus vermarktet sich das israelische Militär als die feministischste und LGBTQI+-freundlichste Streitkraft der Welt und auch als die inklusivste in Hinsicht auf ethnische Zusammensetzung. Aber das ist alles eine einzige Lüge. Das Militär ist auf Rassismus, Sexismus und Diskriminierung gebaut. Viele Frauen werden belästigt und missbraucht, queere Soldaten werden misshandelt, aber die Armee nutzt diese Identitäten schändlich für ihre PR aus. Sogar Veganismus – ich lebe vegan und glaube, dass es das Richtige ist –, die Armee brüstet sich damit, das „veganfreundlichste Militär“ zu sein: Du kannst dich vegan ernähren und gleichzeitig einen Völkermord begehen. Das Militär verbreitet die Propaganda: „Palästinenser töten Schwule. Palästinenser unterdrücken Frauen.“ Und ob es nun real ist oder nicht, letztendlich will die Armee uns als überlegen und die Palästinenser als Tiere und Barbaren darstellen, die nur Gewalt verstehen. Deshalb, so ihre Logik, muss Israel sie besetzen und kontrollieren – um einen weiteren Holocaust zu verhindern. Überall auf der Welt töten Menschen LGBTQI+-Personen und unterdrücken Frauen; weder Israelis noch Palästinenser sind Heilige.
etos.media: Deutsche Liberale lieben es, dass die IDF vermeintlich so divers ist. Sie lieben es, Fotos von Soldatinnen äthiopischer Herkunft zu posten.
Or: Ich weiß. Sie fallen auch auf die Idee herein, dass die Einberufung von Frauen die Armee feministisch macht. „Schaut, wie fortschrittlich sie sind! Wie schön!“ Doch ich will keine Gleichheit beim Töten.
etos.media: In den letzten 60-70 Jahren hat sich die israelische Politik zunehmend nach rechts verschoben, ein Trend, der sich in den letzten Jahren dramatisch verschärft hat, insbesondere unter der derzeitigen Regierung. Wie haben sich diese Entwicklungen – insbesondere der wachsende Einfluss rechtsextremer Figuren und offener Faschisten wie Smotrich, Goldknopf und bis vor kurzem Ben-Gvir – auf Ihre Arbeit als linke, antimilitaristische Bewegung ausgewirkt?
Or: Es hat sicherlich einen Wandel gegeben, aber Israel war nie wirklich „links“. Die Situation verschlimmert sich, und es gibt ein Erstarken faschistischer rechter Kräfte, die nicht nur New Profile, sondern die gesamte Linke in Israel in Mitleidenschaft gezogen haben – ganz zu schweigen von der radikalen Linken. Es ist immer schwieriger geworden, etwas zu unternehmen. Als ich jünger war, konnte New Profile manchmal Vorträge in Schulen halten oder vor Lehrern sprechen. Heute ist das nicht mal mehr im Entferntesten möglich. Erst kürzlich habe ich gelesen, dass eine Schule den Besuch einer Dichterin und Schriftstellerin abgesagt hat, nur weil sie sich gegen den Krieg ausgesprochen hat – das wurde als zu extrem angesehen. Das macht sich in allem bemerkbar, was wir tun. Das Demonstrieren ist aufgrund der zunehmenden Gewalt und der Tatsache, dass Ben-Gvir so viele Waffen wie möglich verteilt, gefährlicher geworden. Im Februar 2023 – erst wenige Monate nach Beginn des Völkermords – kündigte er das Ziel an, 10.000 neue Waffenscheine pro Monat auszustellen.
etos.media: Ja, ich erinnere mich. Das war eine Verfünffachung der eigentlichen Zahlen.
Or: Das bedeutet nicht nur, dass es mehr Waffen im öffentlichen Raum gibt, sondern dass man als Linker Angst hat, überhaupt auf die Straße zu gehen, geschweige denn ein Schild gegen den Völkermord hochzuhalten. Normale Zivilisten haben jetzt Waffen und sind bereit, sie zu benutzen. Viele sind auch traumatisiert und leiden unter PTBS. Und sie haben Waffen, stellen Sie sich das nur vor. Darüber hinaus gibt es eine Kultur des Anschwärzens – die Leute sind nicht nur anderer Meinung als du, sie versuchen aktiv, dich in Schwierigkeiten zu bringen. Sie rufen die Polizei an und bezeichnen dich als Verräter. Sie kontaktieren deinen Arbeitgeber, um dich feuern zu lassen. Sie setzen Veranstaltungsorte unter Druck, damit sie Veranstaltungen absagen, die es wagen, eine andere Perspektive einzunehmen. Dieser Trend ist seit Oktober 2023 eskaliert, doch hat er sich schon seit Jahren beschleunigt, und die Kombination aus Rumpetzen und eskalierender Gewalt gegen Linke hat ein erschreckendes Ausmaß erreicht. Es wird niemals mit dem vergleichbar sein, was den Palästinensern in den 67er oder 48er Gebieten widerfährt [„48“ steht für das international anerkannte Gebiet Israels selbst und „67“ für die besetzten palästinensischen Gebiete, J.R.], die Kontrolle über sie und ihr Recht zu protestieren, ist immer auf eine viel bedrohlichere und gewalttätigere Reaktion der israelischen Streitkräfte gestoßen. Neben den täglichen Gewalttaten der Siedler ihnen gegenüber ist der systematische Rassismus in der israelischen Gesetzgebung verankert.
Dieses harte Durchgreifen spiegelt sich auch in der Regierungspolitik wider – neue Gesetze, verstärkte Überwachung, Einschränkungen von Rede- und Handlungsmöglichkeiten. Im Rahmen der Arbeit von New Profile sehen wir vor allem härtere Strafen für Leute, die den Militärdienst verweigern. Die Haftstrafen für Deserteure werden immer länger, um bewusst Ängste zu schüren und Nachahmer abzuschrecken. Selbst leichte Fälle werden hart bestraft. Und natürlich gibt es diese Einschüchterungstaktiken nicht nur in Israel. Ich weiß, dass in Deutschland Einrichtungen geschlossen werden, weil sie pro-palästinensische Veranstaltungen durchführen oder einfach nur ihre Meinung äußern.
etos.media: Erst vor ein paar Monaten wurden in Berlin zwei staatlich finanzierte Einrichtungen geschlossen, die migrantische Frauen und Mädchen unterstützten. Es handelte sich um Safe-Spaces für Girls und Women of colour, die von den Behörden dicht gemacht wurden, nur weil sich die Mitarbeiterinnen für Palästina aussprachen. Herzlichen Glückwunsch! Und all das geschieht im Namen der Bekämpfung des Antisemitismus.
Or: Ich habe auch gehört, dass ein Veranstaltungsort geschlossen wurde, weil dort die 20-Jahr-Feier des deutschen Zweigs der Jüdischen Stimme stattfand.
etos.media: Ja, genau. Die Einrichtung, das Oyoun in Berlin-Neukölln, ist ein migrantischer, linker und feministischer Raum. Sie waren Gastgeber dieser Veranstaltung und wurden daraufhin aus der Förderung der Stadt gestrichen. Der Verantwortliche, der Senator für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt, Joe Chialo von der Mitte-rechts-Partei CDU, behauptete, das Oyoun verbreite „versteckten Antisemitismus“ – eine Anschuldigung direkt aus dem Playbook der Autokraten. Wie soll man sich gegen etwas wehren, das man nicht einmal sehen oder hören kann? Doch das ist die Realität in Deutschland.
Or: Und der Gipfel der deutschen Dreistigkeit ist die Verhaftung jüdischer Israelis unter der Behauptung, sie seien antisemitisch.
etos.media: Lassen Sie uns kurz auf die Entscheidung der Bundesregierung zurückkommen. Auf einer Pressekonferenz erklärte ein Sprecher von Außenministerin Annalena Baerbock, dass bei Projektanträgen immer die „außenpolitische Unbedenklichkeit“ geprüft wird. Mit anderen Worten: Es wird geprüft, ob die Haltung einer Gruppe „unbedenklich“ für die außenpolitischen Interessen der Bundesregierung ist. Offenbar hat New Profile diesen Test nicht bestanden. Was sagen Sie dazu, vor allem angesichts der angeblich starken demokratischen Werte in Deutschland, wie etwa der Meinungsfreiheit?
Or: Viele Menschen sehen Gesetze als Instrumente der Gerechtigkeit und Fairness. Aber historisch gesehen waren Gesetze immer auch Werkzeuge der Unterdrückung. Für mich ist es ein merkwürdiger Ansatz – vor allem für Aktivisten oder Linke –, etwas auf der Grundlage einer rechtlichen Ausrichtung zu beurteilen, denn sowohl in Deutschland als auch in Israel dienen Gesetze oft eher den Interessen der Machthaber als der Gerechtigkeit. Und die Heuchelei ist eklatant. Zu diesem Zweck wird die Definition von Antisemitismus manipuliert. In Deutschland gilt jede Kritik am Staat Israel als Antisemitismus. Politiker und Rechtsextremisten nutzen den Begriff, um Andersdenkende zum Schweigen zu bringen. Die Tatsache, dass das deutsche Rechtssystem Slogans wie „From the river to the sea“ als antisemitisch ansieht, ist absurd. Da Sie Deutscher sind, korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege – die erste Strophe der deutschen Nationalhymne wurde entfernt, die eine ähnliche territoriale Sprache enthielt: „From the river to the river“ oder so ähnlich.
etos.media: Ja, genau. „Von der Maas bis zur Memel, von der Etsch bis zum Belt“. Vier Flüsse, von denen nebenbei bemerkt kein einziger in Deutschland liegt. Klassiker.
(beide lachen)
Or: Wenn sie also „Vom Fluss zum Meer“ hören, wird das sofort mit der Nazizeit assoziiert und als antisemitisch bezeichnet. Die Regierung reagiert darauf mit Gewalt – sie verprügelt Demonstranten, stellt Menschen haltlos vor Gericht und vieles mehr. Der Maßstab, den sie anlegen, ist absolut lächerlich – es ist, als ob sie versuchen würden, in Bezug auf Israel nationalistischer zu sein als Israel selbst. Deshalb gehen sie auch so aggressiv vor.
etos.media: Wir haben über den Rechtsruck in Israel gesprochen, aber auch Deutschland – nach den USA der zweitgrößte Unterstützer Israels – bewegt sich immer mehr in Richtung einer autoritären Politik, indem es die Solidarität mit den Palästinensern aufkündigt und die Grundrechte beschneidet. Würden Sie der Annahme folgen, dass diese Entwicklungen eng miteinander verknüpft sind?
Or: Die kurze Antwort lautet ja, absolut. Die längere Antwort ist etwas komplexer. Aus israelischer Sicht war jede Regierung – ob rechts oder links – an der Besetzung, an der Gewalt gegen Demonstranten, an der Unterdrückung arabischer Juden, äthiopischer Juden und anderer marginalisierter Gemeinschaften beteiligt. Die Definition, ob eine Regierung rechts oder links ist, erscheint manchmal irrelevant. Auch sogenannte linke Regierungen in Israel waren schon immer faschistisch. Israel war noch nie eine Demokratie. Wir wählen, ja, aber das macht das Land noch lange nicht zu einer Demokratie.
Und das gilt nicht nur für Deutschland und Israel, sondern auch für Frankreich, die Vereinigten Staaten und Argentinien. Dieser Trend ist global. Er hat nicht erst gestern begonnen. Was wir als radikale Linke heute vermissen, ist eine breitere historische und globale Perspektive auf das, was geschieht. So wie die koloniale Gewalt Deutschlands in Namibia den Boden dafür bereitete, was sie im Zweiten Weltkrieg taten, werden die unkontrollierten Gräueltaten von heute zukünftige Gräuel ermutigen. Jahrelang haben sich nicht genügend Aktivisten für die Rechte der Menschen im Sudan, in Eritrea, Myanmar, der Westsahara und Kurdistan eingesetzt. Schreckliche Dinge geschehen, und der Westen schweigt – oder schlimmer noch, er kollaboriert, indem er Waffen verkauft und so gewalttätige Regime legitimiert. Sie verkaufen Waffen an ihren NATO-Partner Türkei, damit dieser das Leben der Kurden zerstören kann.
Der Faschismus wächst, und er wird immer dreister. Und wir tun immer noch nicht genug. Nicht nur die Regierungen – auch die Aktivisten. Wir sehen die Verbindungen zwischen den Kämpfen nicht. Wenn Aktivisten aus dem Kongo klagen: „Seht, wie wir mit Palästina verbunden sind“, wird dies weithin als Whataboutism abgetan. Das Gleiche passiert mit dem Sudan, Myanmar und so weiter. Selbst in pro-palästinensischen Kreisen habe ich gehört, dass Leute die Unterdrückung des kurdischen Volkes leugnen, nur weil Erdoğan behauptet, Palästina zu unterstützen. Das ist absurd.
etos.media: Manche Leute sind verwirrt, wenn wir jede Form der Unterdrückung anprangern, ohne die eine Ungerechtigkeit gegen eine andere auszuspielen.
Or: Wenn wir als radikale Linke nicht aufwachen und diese Zusammenhänge erkennen, wird alles nur noch schlimmer. Wir müssen gegen alle Ungerechtigkeiten kämpfen, nicht Unterdrückungen gegeneinander aufrechnen. Palästina ist nicht der einzige Ort auf der Welt, an dem innerhalb weniger Monate Zehntausende von Menschen ermordet werden. Wacht nicht erst dann auf, wenn aus den Gräueltaten ein Völkermord geworden ist.
etos.media: Wenn Sie eine Botschaft an Deutschland richten könnten, wie würde die lauten?
Or: Ich verstehe, was Schuld mit Menschen macht, und ich verstehe, dass die deutsche Schuld ein Teil der Politik dieses Landes ist. Und als Therapeutin weiß ich, dass Schuld real ist – sie kann eine Identität formen. Aber Schuld ist auch gefährlich, weil sie Verantwortung verhindert. Wenn man in einen Kreislauf von Schuldgefühlen gerät, wird man Teil des Problems. Anstatt sich in diesem Kreislauf immer wieder selbst zum Opfer zu machen, muss Deutschland Verantwortung übernehmen. Nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für das, was jetzt in Palästina und Israel geschieht. Sonst werden die Deutschen in 60 Jahren wieder aufwachen und denken: „Oh Scheiße, wir waren schon wieder auf der falschen Seite der Geschichte.“ Die Deutschen müssen verstehen, dass die Kollaboration mit Faschisten aus Loyalität zu Israel letztlich nach hinten losgehen wird. Dadurch, dass sie all die Rechte jetzt schon abgebaut haben – von der kurdischen Unabhängigkeitsbewegung, jetzt von der Palästina-Solidarität –, wird es noch einfacher, auch andere Bewegungen zu unterdrücken. Spielt also niemals dem Faschismus in die Hände, nur weil ihr euch einer Sache gegenüber zur Loyalität verpflichtet fühlt, sondern kämpft immer gegen den Faschismus an.
Or ist eine langjährige Aktivistin und Mitglied der feministischen, antimilitaristischen israelischen Bewegung New Profile.