Am 21. Juni findet in Berlin eine bundesweite Großdemonstration unter dem Motto United4Gaza statt. Der Aufruf wurde von zwei Palästinensern, Amin und Abed, gestartet. Er wird mittlerweile von über 90 Gruppen unterstützt – darunter zahlreiche basisnahe Initiativen, palästinensische und migrantische Organisationen und verschiedene Parteigliederungen der Linken. Ziel der Demonstration ist es, ein starkes Zeichen gegen den anhaltenden Genozid in Gaza und die israelische Besatzung im Westjordanland zu setzen.
In ihrer Pressemitteilung verweisen die Initiatoren auf alarmierende Zahlen: Laut einer im Fachjournal The Lancet veröffentlichten Studie könnten seit Oktober 2023 bis zu 186.000 Todesfälle auf den Krieg Israels gegen Palästina zurückzuführen sein – infolge direkter Angriffe, gezielter Zerstörung lebenswichtiger Infrastruktur, Hunger, Dehydrierung und fehlender medizinischer Versorgung. Auch in der Westbank spitzt sich die Lage weiter zu: Über 500 Palästinenserinnen und Palästinenser wurden laut UN seit Oktober getötet, die Zahl der gewaltsamen Siedlerübergriffe hat sich verdreifacht. Die Kritik der Organisatorinnen und Organisatoren richtet sich auch gegen die Bundesregierung, die weiterhin Rüstungsexporte an Israel genehmigt.
Wir haben mit den Initiatoren der Demonstration über ihre Beweggründe, politischen Forderungen und ihre Erfahrungen im Umgang mit deutschen Behörden gesprochen, das Interview führte Susanne Dzeik.
Etos.media: Amin und Abed, ihr habt in den sozialen Medien zur Demonstration „United4Gaza“ aufgerufen, die am 21. Juni in Berlin stattfinden soll. Was war eure Motivation für diesen Aufruf?
Amin: Die Motivation, die Demonstration zu veranstalten, ist in einer Zeit entstanden, in der die Gewalt in Gaza ins Unermessliche gestiegen ist. Die Frage, was wir tun können, um ein Zeichen gegen die Gleichgültigkeit gegenüber den Verbrechen zu setzen, beschäftigt uns in jedem Moment. Motiviert und inspiriert von den „Red Line“-Demonstrationen in unseren europäischen Nachbarländern mit Hunderttausenden Demonstrierenden, haben wir uns vorgenommen, eine große Demonstration und ein gesamtgesellschaftliches Zeichen in Deutschland zu setzen.
Etos.media: Könnt ihr euch bitte kurz vorstellen? Was ist euer persönlicher Hintergrund – politisch, aktivistisch oder biografisch?
Amin: Ich,bin ein palästinensischer Foodblogger und komme aus der Westbank, aus Hebron. 2014 bin ich gemeinsam mit meiner engsten Familie nach Deutschland gekommen. Mittlerweile führe ich ein Feinkostunternehmen, in dem ich palästinensische Waren aus Palästina in Deutschland vertreibe, mit dem Ziel, die angeschlagene Wirtschaft und die kleinen Bauern in Palästina in ihrer Existenz zu stärken. Mit dem Genozid habe ich zunehmend begonnen, Demonstrationen und Aktionen zu organisieren – für ein Ende des Genozids und zur Stärkung der palästinensischen Identität.
Abed: Ich bin Berliner mit Wurzeln in Palästina. Meine Eltern wurden im Gazastreifen geboren und sind dort aufgewachsen. Vor dem Gazakrieg reiste ich für mehrere Monate in den Gazastreifen, um meine Heimatverbundenheit zu stärken. Am 7. Oktober war ich mit meiner Mutter selbst in Gaza und habe so insgesamt fünf Wochen des Genozids miterlebt. Seitdem versuche ich, online Aufklärungsarbeit zu leisten, um die palästinensische Perspektive sichtbarer zu machen.
Etos.media: Menschen mit palästinensischen Wurzeln stehen in Deutschland oft vor besonderen Herausforderungen. Wie nehmt ihr das wahr?
Abed: Palästinenser sind eine der am stärksten kriminalisierten und benachteiligten Gruppen in Deutschland. Es beginnt damit, dass sie, solange sie keinen deutschen Pass besitzen, als staatenlos deklariert werden. Sie werden oft nicht anerkannt. Speziell Palästinenser, die aus Flüchtlingslagern kommen, bleiben in Deutschland teilweise ein Leben lang ohne echte Möglichkeit auf Integration und ohne Arbeitserlaubnis. Im öffentlichen Diskurs und in staatlichen Institutionen ist es nahezu ausgeschlossen zu arbeiten, wenn man sich als Palästinenser zu Palästina bekennt. In der Schule musste ich mir Dinge anhören wie: „Ihr seid alle Terroristen“ oder „Israel hat das Recht zu tun, was es will“ – während gleichzeitig Verwandte von mir durch Bombardierungen in Gaza getötet wurden. Leider ist das keine Ausnahme. Als Palästinenser müssen wir uns das Recht erkämpfen, dass die Ungerechtigkeit, die uns angetan wird, überhaupt anerkannt oder gehört wird. Unsere Lebensrealität wird heruntergespielt, Propaganda wird als Realität dargestellt, und Opfer auf palästinensischer Seite werden oft komplett unsichtbar gemacht.
Etos.media: In vielen europäischen Ländern finden regelmäßig große Demonstrationen für die Rechte der Palästinenserinnen und Palästinenser statt. In Deutschland sind solche Mobilisierungen oft kleiner geblieben. Woran liegt das eurer Meinung nach?
Abed: Das liegt an vielen verschiedenen Faktoren. Deutschland hat eine Sonderstellung in der Welt. Einer der Hauptgründe ist die Kriminalisierung palästinensischer Gruppen. Gleichzeitig scheint die breite Gesellschaft in Angst versetzt zu sein, mit Antisemitismus in Verbindung gebracht zu werden, aufgrund der starken politischen Repressionen. Israelkritik wird in Deutschland mit Antisemitismus gleichgesetzt, und wirklich niemand möchte in Deutschland als Antisemit diffamiert oder mit den Nazis in Verbindung gebracht werden.
Das Problem an der gesamten Sache ist jedoch, dass diese Zuschreibungen ihren Wert verlieren, da sie nur noch als Mittel der Repression und des Verstummens von Stimmen genutzt werden, die für ein Ende der israelischen Apartheid und Gerechtigkeit für die Palästinenser eintreten. Dieser Kampf wird in Deutschland delegitimiert, bevor er überhaupt begonnen hat. Die im Bundestag verabschiedete Antisemitismusresolution zum Beispiel zeigt eindrücklich, wie repressiv versucht wird, unter allen Umständen die Verbrechen Israels an den Palästinensern zu verdecken. Die Resolution, die angeblich Antisemitismus behandeln soll, führt als Beispiele Palästinaproteste auf, während der klarste Fall von Antisemitismus – der Angriff auf die Synagoge in Halle – gar nicht genannt wird.
In Deutschland haben Institutionen Existenzängste, denn Israelkritik bedeutet oft, dass unmittelbar alle staatlichen Mittel gestrichen werden. Es ist ein Karrierekiller. Um dem entgegenzuwirken, ist es umso wichtiger, dass so viele Menschen wie möglich ihr Schweigen brechen. Institutionen in der breiten Zivilgesellschaft müssen mutiger werden, zum Recht stehen und sich nicht einschüchtern lassen, wenn staatliche Repressionen stattfinden, die gegen Recht und Gesetz verstoßen. Um aus diesem Zyklus auszubrechen, braucht es aber den Mut aller, vor allem der Gewerkschaften, NGOs und anderer Vertreter. Stand jetzt ist es leider zum großen Teil noch nicht durchgedrungen, dass Palästinasolidarität kein Verbrechen, sondern eine Pflicht ist – und zu einer Verbesserung beiträgt. Deutschland ist vielleicht das Land mit den stärksten Repressionen und einem der ängstlichsten politischen Diskurse zu Palästina weltweit.
Etos.media: Welche Erfahrungen habt ihr im Zusammenhang mit Palästina-Demonstrationen in Deutschland gemacht – insbesondere im Umgang mit Polizei und Behörden?

Amin: Unsere Erfahrungen mit Palästina-Demonstrationen in Deutschland waren in den letzten Jahren stark geprägt von Repression, Einschränkungen und einem zunehmend feindlichen Klima. Insbesondere im Umgang mit Polizei und Behörden erleben wir immer wieder eine Ungleichbehandlung. Demonstrationen in Solidarität mit Palästina werden häufig mit Auflagen überzogen, es kommt zu willkürlichen Verboten von Parolen, Fahnen oder Symbolen, die international völlig üblich sind. Teilweise werden ganze Versammlungen unter Vorwänden untersagt – etwa mit dem pauschalen Verweis auf „Gefahr für die öffentliche Ordnung“.
Der Umgang der Polizei ist dabei oft einschüchternd. Es gibt immer wieder Fälle von Gewalt, Festnahmen oder Personalienkontrollen, die eindeutig abschreckend wirken sollen. Viele junge Menschen – gerade solche mit familiären Wurzeln in Palästina oder arabischen Ländern – berichten, dass sie sich nicht mehr trauen, auf Demos zu gehen, weil sie Angst vor Repressionen haben.
Was uns besonders beschäftigt: Während andere politische Themen selbstverständlich demonstriert werden dürfen, sehen wir bei Palästina eine politische Ausnahmestellung. Solidarität mit den Menschen in Gaza oder der Westbank wird schnell unter Generalverdacht gestellt – als wäre allein das Eintreten für Menschenrechte bereits ein Problem. Das hat mit demokratischen Grundrechten nichts mehr zu tun.
Trotzdem lassen wir uns nicht einschüchtern. Unsere Proteste sind friedlich, vielfältig und aus tiefem humanitärem Engagement getragen. Wir fordern, dass auch Palästina-Solidarität in Deutschland den gleichen Raum bekommt wie jede andere Form politischer Meinungsäußerung.
Etos.media: Was wird den Charakter der United4Gaza-Demonstration besonders auszeichnen?
Amin: Diese Demonstration wird von vielen Palästinensischen Gruppen getragen. Die Bühne am 21. Juni gehört palästinensischen Stimmen, die systematisch aus Medien, Debatten und öffentlichen Räumen ausgeschlossen werden. Dagegen setzen wir ein Zeichen und die Demonstration zieht eine rote Linie: Gegen das Schweigen, gegen Verharmlosung, gegen jede Form der Mittäterschaft am Genozid an den Palästinenserinnen und Palästinensern. Schon in London (rund 600.000 Demonstrierende) und Den Haag (über 150.000) haben Menschen klare Zeichen gegen die Komplizenschaft ihrer Regierungen gesetzt. Jetzt ist es auch in Deutschland an der Zeit, ein sichtbares Zeichen für Gerechtigkeit und den Schutzmenschliches Lebens zu setzen.
Etos.media: Mit welchen zentralen Forderungen geht ihr am 21. Juni auf die Straße?
Amin: Unsere Kernforderungen lauten:
● Stopp des Genozids, ethnischer Säuberung und Apartheid
● Sofortiger Stopp aller Waffenlieferungen an Israel
● Aufhebung der Blockade von Gaza
● Menschenwürdige humanitäre Hilfe und Wiederaufbauunterstützung
● Konsequente Einhaltung und Durchsetzung des Völkerrechts
● Entkriminalisierung der Palästina-Solidarität in Deutschland
Unsere Demonstration setzt ein klares Signal: Der Genozid muss gestoppt werden. Palästinensisches Leben muss geschützt werden. Performative Solidarität reicht nicht.
Etos.media:Danke euch für das Gespräch.