Wer gegen antipalästinensischen Rassismus auf die Straße geht – leistet demokratische „Drecksarbeit“!

Gaza Protest in Berlin - Bild: Trifulkart

Die kürzlich veröffentlichten Zahlen zu antimuslimischem Rassismus (AMR) von CLAIM (der Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit) sind erneut alarmierend. Die Zahl antimuslimischer Übergriffe und Diskri­mi­nie­rungen in Deutschland ist das zweite Jahr in Folge deutlich angestiegen.1 Schon der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt verzeichnete in seinem jährlichen Lagebild einen erheblichen Zuwachs im Teil-Phänomenbereich antimuslimischer Rassismus.2 CLAIM verwies bereits im letzten Lagebild zum Jahr 2023 auf einen Anstieg antimuslimischer Vorfälle nach dem 07.Oktober 2023. Woran liegt es, dass antimuslimische Angriffe und Diskriminierungen in Deutschland nach dem Angriff der Hamas so enorm zunahmen?

Blickt man auf die Arbeitsdefinition zu antimuslimischen Rassismus von Farid Hafez wird diese als „eine Form des Rassismus [verstanden], die sich speziell gegen Muslim*innen oder als solche wahrgenommene richtet. Antimuslimischer Rassismus beschreibt ein Dominanzverhältnis, das sich direkt gegen Individuen wie auch Gruppen und Einrichtungen richtet, die sich selbst als muslimisch sehen oder durch Fremdzuschreibung als muslimisch markiert werden. Antimuslimischer Rassismus richtet sich gleichzeitig auch gegen die Gesamtgesellschaft, weil er die Norm der Gleichheit aller Menschen infrage stellt. Antimuslimischer Rassismus dient dem Erhalt sowie der Ausweitung von Privilegien und der Ausgrenzung von Muslim*innen. Antimuslimischer Rassismus kann sich auf unterschiedliche Art und Weise manifestieren, wie etwa in der Diskriminierung, durch Hasskriminalität, im gesprochenen Wort sowie in Handlungen von Privatpersonen, Gruppen wie auch Institutionen. Damit manifestiert sich antimuslimischer Rassismus als Strukturelement einer Gesellschaft – auf institutioneller, diskursiver und individueller Ebene.“3

Antimuslimischer Rassismus manifestiert sich also individuell, institutionell, aber auch diskursiv. Nach dem 7. Oktober wurden gängige antimuslimische Tropen wie vom „muslimischen Terroristen“ im öffentlichen Diskurs wieder präsenter. Muslime wurden dabei kollektiv für den Angriff der Hamas verantwortlich gemacht. Wie stark diese antimuslimischen Mechanismen sind, belegt die Videobotschaft des ehemaligen deutschen Vizekanzlers Robert Habeck wenige Tage nach dem 7. Oktober, in der er eine Distanzierung von in Deutschland lebenden Muslimen erwartete. Der Terrorverdacht war wieder allgegenwärtig. Muslime in Deutschland waren in Talkshows, in den sozialen Medien oder am Arbeitsplatz immer wieder denselben Fragen ausgesetzt: Wie stehst Du zur Hamas? Verurteilst Du den 7. Oktober? Der beginnende Genozid in Gaza war, wenn überhaupt, nachrangig.

Die diskursiven Regeln des deutschen Diskurses machten und machen bis heute jeden Verweis auf das Sterben in Gaza erst nach einer Präambel möglich, in der der 7. Oktober verurteilt, die Befreiung der Geiseln gefordert und das Selbstverteidigungsrecht Israels festgestellt wird. Erst hiernach darf über palästinensisches Leid gesprochen werden. Das Leid in Gaza darf nur sekundär Erwähnung finden und muss unbedingt als kausale Folge des 7. Oktobers eingeordnet werden. Damit wird implizit kommuniziert, dass die Palästinenser hieran selbst schuld sind.

Worüber kaum gesprochen wurde und bislang kaum gesprochen wird, ist die Gewalt auf deutschen Straßen oder bei pro-palästinensischen Protesten an deutschen Universitäten, wo Menschen mit palästinensischen Wurzeln und solche die palästinasolidarisch sind von der Polizei gewaltsam geschlagen und festgenommen werden. In den sozialen Medien kursieren hier immer wieder Videos von unverhältnismäßiger und rassistischer Polizeigewalt gegen Protestierende. Am 08. März, zum feministischen Kampftag, dieses Jahres wurde die palästinasolidarische Demonstration am Abend in Kreuzberg gewaltsam niedergeschlagen.4 Im Netz kursierten Bilder von deutschen Polizeibeamten in voller Montur, die auf mehrheitlich junge Frauen einschlugen. Die Empörung über die Polizeigewalt am Frauenkampftag war jedoch überschaubar. Politiker der Linken äußerten Kritik, doch die Debatte über diese Gewalt erreichte nie einen kritischen Punkt oder gar den Mainstream. Sie blieb weitgehend unhinterfragt, wie so viele Male nach dem 7. Oktober. Denn über rassistische Polizeigewalt wird in Deutschland allgemein nicht gern gesprochen, leider auch nicht von Vertretern der (staatlich geförderten) Zivilgesellschaft. Denn die Gefahr ist groß. Wer über rassistische Polizeigewalt spricht, der spricht eigentlich über den Kern rassistischer Gewalt und wer dies wagt, kann schnell die eigene Förderung verlieren…

Die rassistische Polizeigewalt auf deutschen Straßen und an deutschen Universitäten wurde ähnlich wie die diplomatische und militärische Unterstützung des Völkermords an den Palästinensern in Gaza über die historische Verantwortung und die deutsche Staatsräson begründet. Und daher verwundert es auch keineswegs, dass, wenn die deutsche Staatsräson täglich Dutzende bis Hunderte getötete Palästinenser:innen im Diskurs wegrationalisieren kann, sie auch Dutzende und Hunderte Festnahmen derjenigen unsichtbar macht, die gegen eben jenen Völkermord protestieren. Die Gewalt in Gaza und die Gewalt auf deutschen Straßen sind in ihren Dimensionen kaum vergleichbar, aber die Gewalt in Gaza und die Gewalt auf deutschen Straßen, sie besitzen einen gemeinsamen Nenner – Antipalästinensischen Rassismus.

Dieser antipalästinensische Rassismus ist untrennbar mit einem allgemein bestehenden antimuslimischen Rassismus verknüpft. Wer über antimuslimischen Rassismus spricht, muss auch den antipalästinensischen Rassismus im deutschen Diskurs und Handeln benennen. Dass dies nicht geschieht, auch nicht durch Akteure der Zivilgesellschaft, liegt daran, dass dieser Rassismus so stark, so gewaltvoll und so allgegenwärtig ist. Wenn heutzutage so viel über Rassismus gesprochen wird, dann nicht unbedingt, weil der Rassismus heute so besonders brutal ist. Es bedeutet nicht, dass der Rassismus von heute den Rassismus vergangener Generationen übertrifft. Wenn heute so viel über Rassismus gesprochen wird, dann ist es paradoxerweise Beleg für eine erhöhte gesellschaftliche Sensibilität und Bereitschaft sich mit der Problematik kritisch auseinanderzusetzen.5 Es ist aber allein auch kein hinreichendes Merkmal dafür, dass die Gesellschaft im Begriff ist rassistische Gewalt zu überwinden.

Wenn in den Lagebildern der Melde- und Beratungsstellen der antipalästinensische Rassismus so wenig Erwähnung findet, dann liegt es zum einen daran, dass der antipalästinensische Rassismus in der deutschen Gesellschaft so stark verankert ist, wie die knapp zwei Jahre andauernde Unterstützung des Völkermords in Gaza auf grausame Art und Weise belegt. Zum anderen liegt es daran, dass die gängigste Form des antipalästinensischen Rassismus in Deutschland rassistische Polizeigewalt ist, wie sie bei propalästinensischen Protesten oder der gewaltsamen Räumung von Universitäten stattfindet. Dies macht es so schwer, darüber zu sprechen. Wer die Statistiken zu (antimuslimisch)-rassistischen Übergriffen liest und sich fragt, wieso steht hier nichts von den vielen gewaltsamen Festnahmen bei den Demonstrationen der letzten Monate, der oder die hat richtigerweise ein demokratisches Störgefühl. Denn ja, hier fehlt etwas und dass es noch nicht angesprochen wird, heißt, dass es noch mehr Menschen braucht, die laut sind und über das Leid der Palästinenser:innen sprechen, auf Demonstrationen unter Einsatz ihrer körperlichen Unversehrtheit diesen Staat an seine menschen- und völkerrechtlichen Verpflichtung erinnern. Kurzum, Menschen, die die demokratische „Drecksarbeit“ leisten und für die Würde palästinensischer Menschen auf die Straße gehen!

Quellen:

  1. https://www.claim-allianz.de/aktuelles/news/pressemitteilung-alarmierende-jahresbilanz-antimuslimischer-uebergriffe-und-diskriminierungen-in-deutschland-2024-ueber-3-000-dokumentierte-vorfaelle-mehr-als-8-faelle-jeden-tag/ ↩︎
  2. https://verband-brg.de/rechte-rassistische-und-antisemitische-gewalt-in-deutschland-2024-jahresbilanzen-der-opferberatungsstellen/ ↩︎
  3. Farid Hafez in: https://www.stiftung-mercator.de/de/publikationen/antimuslimischer-rassismus-eine-arbeitsdefinition/ ↩︎
  4. https://taz.de/Polizeigewalt-am-8-Maerz/!6075697/ ↩︎
  5. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/286512/alle-an-einem-tisch/ ↩︎

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