Sascha Lobo wettert im Spiegel gegen seine „falschen Ex-Freunde“, die Israels Kriegsverbrechen nicht mehr schönreden wollen. Dan Weissmann sieht darin mehr als nur persönliche Enttäuschung: ein Paradebeispiel für den deutschen Staatsräson-Diskurs – und die Angst, das Monster nicht in Israel, sondern im eigenen Spiegel zu erkennen.
Sascha Lobo ist Deutschlands liebster Internet-Erklärbär mit langsam ergrauendem Irokesenschnitt, gäbe es nicht regelmäßig einen neuen Magenta-Anstrich. Ich habe mich in diesen digitalen Seiten schon einmal mit Lobo beschäftigt, genauer gesagt mit seinem pathologischen Philosemitismus, den er kaum zu verbergen weiß, wenn er über Palästina und Israel spricht. Hier soll es deshalb nicht noch einmal um Lobos Œuvre der letzten zwei Jahre gehen, sondern um den Artikel „Das Phänomen der falschen Ex-Freunde”, den er am 18. Juni im Spiegel veröffentlichte. Der vorliegende Text sollte jedoch eher als eine Case Study eines bestimmten Typus der deutschen Erinnerungskultur und des Staatsräson-Diskurses gesehen werden als eine detaillierte Beschäftigung mit dem Innenleben des Autors, sofern vorhanden. Denn: Zu viel Lobo schadet der mentalen und kognitiven Gesundheit.
Lobos Text liest sich wie das Manifest eines ewiggestrigen Überzeugungstäters, der an einem imaginären Israel festhängt, welches es so noch nie gegeben hat und sich wundert, warum er plötzlich alleine dasteht. Wie ein Geisterfahrer, der sich wundert, wieso alle in die falsche Richtung fahren. Er beanstandet, dass ehemalige Weggefährt*innen Israel den Rücken gekehrt haben und nicht wie er komme, was wolle zu Israel stehen, bis zum bitteren Ende.
Zu Beginn seiner Abschiedsrede an die „falschen Ex-Freunde” darf Lobo es natürlich nicht versäumen, wie immer zuerst ein bisschen Israel-Propaganda, oder Hasbara zu streuen, deshalb eine kurze Exkursion: Laut Lobo, dessen Expertise, so lesen wir beim Spiegel, das „Internet und digitale Technologie” ist, will “Iran Israel vernichten”, “während Israel schlicht überleben möchte”. Wenn man sich jedoch mit der Realität beschäftigt, scheint dieses Statement alles andere als faktisch korrekt. Iran hat schlichtweg nicht die militärische oder auch allianz-strategische Kapazität, Israel zu vernichten. Es verfügt weder über nukleare Sprengköpfe für eine Vernichtung aus der Ferne, noch über ein Militär und Marine mit ausreichend Basen um Israel herum, die eine Vernichtung durch Invasion ermöglichen könnten. Natürlich kann Iran Israel konventionell enormen Schaden zufügen, von Vernichtung kann aber keine Rede sein. Die Vernichtung-Rhetorik des iranischen Regimes scheint deshalb nur das zu sein, Rhetorik, die wohl eher dem eigenen Publikum in der Region dient als Israel oder dem Westen. Wer keine Macht hat, muss wenigstens so tun als ob. Kennen wir ja alle vom Schulhof.
Bei Israel sieht die Sache etwas anders aus, denn Israel verfügt, laut der Nobelpreisträgerin International Campaign to Abolish Nuclear Weapons, über 90 nukleare Sprengköpfe und genug angereichertes Material für 200 weitere. In diesem Sinne geht die einzige existenzielle Gefahr in der Region von Israel aus und nicht umgekehrt. Nun stellt sich also die Frage, wieso Israel sich bedroht sieht, wenn von Iran keine existentielle Gefahr ausgeht und Israel, laut Lobo, nur “überleben möchte”? Die einzig logische Schlussfolgerung ist, dass Israel nicht einfach überleben, sondern expandieren möchte und Iran als größte Militärmacht in der Region neben Israel dem im Wege steht.
Primär steht Iran Israels Großmachtfantasie dadurch im Weg, da es Milizen in Israels Nachbarschaft materiell und finanziell unterstützt, darunter Hamas in Palästina (hauptsächlich Gaza) und Hisbollah im Libanon. Einen Einblick in diese Logik zeigt das Rechtsgutachten von Amichai Cohen von der Faculty of Law am Ono Academic College und Yuval Shany von der Law Faculty der Hebrew University of Jerusalem, deren Argument der präventiven Selbstverteidigung hauptsächlich daraus besteht, dass Hamas und Hisbollah ein verlängerter Arm des Iran sein sollen. Dass Iran überhaupt keine direkte Kontrolle über die Milizen in der Region hat, sei mal dahingestellt. Dieses Argument, welches auch von Netanjahu selbst gemacht wird, zeigt jedoch, dass es Israel überhaupt nicht um eine vermeintlich existentielle Bedrohung geht, sondern um eine strategische. Denn die Existenz dieser Milizen ist wiederum eine direkte Folge Israels illegaler Besatzung Palästinas und von Teilen Südlibanons. (Eine Zerlegung des Shany-Cohen-Gutachtens durch Prof. Matthias Goldmann findet sich hier.) Ein perfektes Beispiel dieses imperialen Großmachtstrebens waren die Invasion und Besetzung von Teilen Syriens über den schon ohnehin illegal besetzten Golan, genau in dem Moment, als der Sturz Assads ein Machtvakuum und kurzes Gelegenheitsfenster öffnete.
Genau hier liegt aber der Hund begraben, denn Lobo wirft seinen ehemaligen Freunden vor, all diese Tatsachen nicht mehr zu ignorieren und die Welt und Israel nicht mehr in der naivsten und fantastischsten Weise wahrzunehmen wie er selbst. Das Vergehen von Lobos “falschen Ex-Freunde[n]” (man möchte fragen, was denn echte “Ex-Freunde” sind?) ist also, dass sie ihren eigenen Augen und Ohren im Laufe der letzten 20 Monate Völkermord und Menschheitsverbrechen zögerlich mehr Glauben geschenkt haben als Israels Propagandisten und Apologenten im ÖRR und in den Seiten des Feuilletons. Lobo selbst kommt nicht umhin, seinen Leser*innen die eigene Sturheit und Unbelehrbarkeit als vermeintliche Tugend unterzujubeln, wenn er seinen ehemaligen Weggefährt*innen vorwirft durch Sätze wie “Bisher war ich der größte Freund Israels, aber jetzt hat Israel XYZ getan” seinen Israel-Fanatismus verraten zu haben.
Als Ursache dieses Sinneswandels vis-à-vis Israel diagnostiziert Lobo “das Einknicken durch sozialen Druck aus dem eigenen Umfeld”. Hier kann man Lobo zum ersten Mal zustimmen, denn so funktioniert politisches Grassroots-Campaigning nun mal: Man versucht, den sozialen Druck auf Personen des öffentlichen Lebens so zu erhöhen, dass sie entweder von einer fehlgeleiteten politischen Position ablassen oder sich – noch besser – gegen diese stellen. Ob diese Repositionierung authentisch ist oder nicht, bleibt fraglich, auch hier hat Lobo recht, positiv ist sie auf jeden Fall. Die Legitimität eines solchen Wandels wird jedoch von vornherein abgesprochen, denn dieser basiere nur auf “Fake News und Lügen”, oder „Hamas-Propaganda“, wie er an anderer Stelle unterstellt. Zudem sieht Lobo ein Ungleichgewicht im Betroffenendiskurs im Land. Es gibt viel mehr Betroffene “türkische, arabische oder auch muslimische Communitys” – scheinbar keine palästinensische Community in Deutschland – als “Betroffene auf israelischer oder jüdischer Seite”. Dass der mediale Diskurs in Deutschland kaum palästinensische Betroffene zu Wort kommen lässt und fast nur israelische Betroffenenperspektiven zeigt, scheint Lobo hier vergessen zu haben.
Letztendlich sind es Israels Taten selbst, die diesen Sinneswandel verursachen, authentisch oder nicht, denn Demos und Onlinekampagnen machen das Wegschauen zunehmend schwerer. Schließlich will niemand auf der Seite der Geschichte stehend erwischt werden, die das Morden von zehntausenden Kindern und das Aushungern von Millionen Menschen gerechtfertigt hat. Lobo kann sich mit dieser Möglichkeit nicht offen auseinandersetzen, denn es würde ihm abverlangen, sich ernsthaft mit den Opfern Israels genozidaler Politik zu beschäftigen, die ihm im für ihn schlimmsten Fall ihre Menschlichkeit näher bringen und so eine naive Israel-Fantasie für immer zerstören könnten.
Lobo ist Internet- und Technologie-Experte und weiß selbstverständlich, dass Sinneswandel das Resultat einer sich ändernden Realität ist oder einer anderen Sichtweise auf diese Realität. Niemand sollte sich damit brüsten, schon immer die gleichen Positionen gehabt zu haben, denn das würde nur eine Unfähigkeit zu lernen offenbaren. Im Diskurs der Staatsräson und Erinnerungskultur wird aber genau diese Unfähigkeit, Unbelehrbarkeit und Sturheit als Tugend verkauft: eine Kultur, in der keine neuen Erkenntnisse, egal wie grausam, schockierend und mörderisch, einen vom rechten Weg an Israels Seite abbringen können. Das ist der einsame Pfad des Israel-Fanatikers, den man zuerst aus Überzeugung und falschem Geschichtsverständnis betreten hat, weiter gegangen ist, weil man die eigene Propaganda geglaubt hat und letztendlich nur noch aus Angst weiter gehen muss. Denn die Angst der Israel-Apologeten ist nicht die, Israel plötzlich als Monster zu sehen, weil man die Menschlichkeit der Palästinenser erkannt hat, sondern die Angst davor, das Monster im eigenen Spiegel zu erkennen.