Teil II der 5-teiligen Reihe Gewerkschaften in der Zeitenwende von Ulrike Eifler, Susanne Ferschl und Jan Richter. (zu Teil I)
Deutschland als geopolitischer Akteur
Die Geschichte lehrt: Gewerkschaftliche Kämpfe in Zeiten von Aufrüstung und Krieg haben es schwer. So wird der ökologische Umbau der Industrie nur gelingen, wenn die dafür notwendigen 600 Milliarden Euro nicht im Rüstungshaushalt versenkt werden. Die Auseinandersetzung um die Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung ist zum Scheitern verurteilt, wenn die Gesellschaft um uns herum autoritärer wird. Die Daseinsvorsorge wird weiter unter Druck geraten und Stück für Stück der breiten Bevölkerung entzogen werden. Die seit mehr als einem Vierteljahrhundert andauernde Aussetzung der Vermögensteuer zeigt: Umverteilung ist schon zu Friedenszeiten schwierig, in Zeiten, in denen Krieg und Aufrüstung Konjunktur haben, ist ihre Wiedereinführung noch viel schwieriger. Und schließlich geraten all die Werte, für die die Gewerkschaften stehen – Respekt, Solidarität, Gerechtigkeit, Internationalismus, Frieden – in der Zeitenwende unter die Räder von Aufrüstung, Nationalismus und Kriegstüchtigkeit. Gewerkschaften brauchen ein Umfeld der Entspannungspolitik, damit sie ihre Rolle als Interessenvertretung ausfüllen können.
Deshalb erfordert eine Analyse der objektiven Lage der arbeitenden Klassen in der Zeitenwende auch eine Analyse der geopolitischen Veränderungsprozesse – eine Analyse, die auch Aufschluss darüber gibt, ob das historisch gewachsene Bündnis zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratie die Durchsetzung von Beschäftigteninteressen unterstützt oder hemmt. In seiner Rede an der Prager Karls-Universität im August 2022 begründete Bundeskanzler Olaf Scholz das Agieren Deutschlands im Ukraine-Krieg jedenfalls nicht zwingend damit, dass man die Ukraine dabei unterstützen müsse, sich gegen den Aggressor Russland zu verteidigen, sondern in erster Linie damit, dass Deutschland zu alter Führungsstärke zurückfinden müsse.1 Nicht zufällig also orientiert ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister – Boris Pistorius – die Bevölkerung auf eine neue „Kriegstüchtigkeit“. Und ebenso wenig zufällig fordert der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil, dass Deutschland nach „knapp 80 Jahren der Zurückhaltung (…) heute eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem“ habe.2
Hinter dem Anspruch Deutschlands auf Führungsmacht steht eine Verschiebung der Weltbeziehungen und der sich zuspitzende Kampf um die Neuordnung der globalen, wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnisse zwischen dem Norden und dem Süden. Die materielle Grundlage für diese Zuspitzung ist das wirtschaftliche Erstarken des Südens, das sich nicht zuletzt aus einer verstärkten Süd-Süd-Zusammenarbeit ergibt. Gemessen am Anteil der Weltwirtschaft überholte 2023 zum ersten Mal eine Gruppe von Schwellenländern (BRICS – Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) die G7. So lag der Anteil der Großen Sieben an der Weltproduktion zwar immer noch bei fast 30 Prozent – doch noch in den 80er Jahren hatte er 70 Prozent betragen. Der Anteil der fünf BRICS-Staaten am globalen Bruttoinlandsprodukt lag 2023 allerdings bei knapp 32 Prozent. Inzwischen sind Argentinien, Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Emirate der BRICS-Gemeinschaft beigetreten, und 40 weitere Länder haben ein Interesse an einer Zusammenarbeit geäußert.3
Im Zentrum dieses Umbruchs steht China, das sich militärisch und technologisch längst zur Supermacht entwickelt hat. Nicht zuletzt sein Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) 2001 hatte die rasche Entwicklung neuer Industriezweige vorangetrieben. Peking hat seitdem massiv in Infrastruktur und Produktion investiert und über die One Belt, One Road-Initaitive weltweit seine Handelswege ausgebaut. Das Land ist längst nicht mehr die verlängerte Werkbank der Welt, sondern produziert Technologien und High-End-Produkte in alle Welt. Während sich die US-Wirtschaft in den letzten Jahren mit dem Rückgang der Industrie zunehmend finanzialisierte, verschob sich das industrielle Zentrum der Welt nach Südostasien. Eine Entwicklung, die „materiell, politisch und psychologisch eine Provokation westlichen Überlegenheitsdenkens im Allgemeinen und des Dominanzanspruchs der USA im Besonderen“ darstellt.4
Inmitten dieser Gemengelage versuchen die USA, sich mit allen Mitteln als Weltmacht zu behaupten. Protektionismus, Einfuhrzölle und scharfe Sanktionen sollen den US-Markt schützen und die technologische und wirtschaftliche Entwicklung Chinas ausbremsen.5 Dabei wächst die Gefahr, dass die ökonomische Konkurrenz in militärische Konkurrenz umschlägt. Rohstoffe wie Lithium, Kobalt, Nickel und Graphit sind für den Übergang zu einer kohlenstoffarmen Produktion unverzichtbar. Inzwischen werden aber vier Fünftel dieser kritischen Mineralien von China verarbeitet. Die „Batterieproduktion wird zum Schlachtfeld“ und verschärft den Konflikt zwischen dem Norden und dem Süden.6 Indonesien, Simbabwe, Namibia, Chile, Brasilien, Bolivien und andere wehren sich bereits gegen die fortgesetzte Ausplünderung ihrer Rohstoffe durch die USA.
Unterschiedliche Schlüsselmomente in der jüngsten Geschichte haben dieses neue Selbstbewusstsein des Südens und seine Bereitschaft, die Vormachtstellung der USA in Frage zu stellen, auf den Weg gebracht. Dazu gehörte die globale Finanzkrise von 2008, die gezeigt hat, dass der Westen verwundbar ist. Aber auch das westliche Festhalten am Monopol der Impfstoffe während der Corona-Pandemie oder das Abwälzen der Kosten für den Kampf gegen den Klimawandel auf die Länder des Südens trugen zu Bruchpunkten und einer Schwächung westlicher Dominanz bei.7 In den beiden aktuellen Großkonflikten – dem Ukraine-Krieg und dem Krieg im Nahen Osten – muss der Westen zudem feststellen, dass sich die Länder des Südens nicht mehr disziplinieren lassen. So fand die Forschungsabteilung des Economist heraus, dass nur 52 Länder, die zusammen kaum 15 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, die Sanktionen gegen Russland unterstützen. Gleichzeitig stellen sich nur zwölf geschlossen hinter Russland, woraus der Economist schlussfolgert: „Alle anderen 127 Länder gehören nicht eindeutig zu einem der beiden Lager“.8 Und dass der Völkermord in Gaza im Hinblick auf westliche Doppelstandards zum Lackmustest wird, zeigt nicht nur die Klage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof, sondern auch die Klage Nicaraguas gegen Deutschland wegen Beihilfe zum Völkermord.
Wesentlich zu einer Verschiebung der Kräfteverhältnisse beigetragen hat schließlich auch der Ukraine-Krieg: So gelang es Joe Biden, massiven Druck für eine Gaswende in Europa zu machen. Mit Erfolg. Die Sanktionspolitik löste weite Teile des europäischen Marktes von billigem Pipelinegas aus Russland und band ihn an das amerikanische, klimaschädliche und teure Schiefergas, das sich bis dato nur schwer verkaufen lies. Ein Schritt, der innerhalb nur weniger Monate die Position der europäischen Industrie enorm schwächte und die der USA stärkte. Insbesondere in Deutschland führte dies zu einem Rückgang industrieller Fertigung. Gerade einmal 19 Prozent der Industrieunternehmen bewerteten im Herbst 2024 ihre Lage als schlecht. Im Ergebnis planen 40 Prozent der Industriebetriebe, ihre Investitionen in Deutschland zurückzufahren.9
Flankiert wird diese Entwicklung von der gezielten Strategie der USA, europäische Industrie insbesondere in den Bereichen Autobatterien, Windräder, Solarzellen und Halbleiter abzuwerben. Die hohen Energiepreise und ein umfangreiches Förderprogramm mit üppigen Subventionen – der Inflation Reduction Act – schaffen dafür die Bedingungen. 0,17 Dollar kostete 2023 die Kilowattstunde Strom in den USA – in den meisten europäischen Ländern lag der Preis beim Zwei- bis Dreifachem.10 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen wächst der Druck auf Deutschland. Das Land nähert sich dem Punkt, dass der politische und ökonomische Abstieg nur durch einen Krieg zu verhindern ist. Es ist die Angst vor dem Abstieg, die angesichts tiefer Umbrüche in der Industrie mit schmerzhaften Strukturanpassungen zum Treiber für Militarisierung und Bellizismus wird, argumentieren Brie, Crome und Deppe in einem gemeinsamen Diskussionspapier: Die Dekarbonisierung folge keiner kohärenten Strategie. Die Abkoppelung von der günstigen Gasversorgung habe zum Verlust eines Wettbewerbsvorteils geführt. Auch die wachsende Wettbewerbsstärke Chinas, das deutsche Hinterherhinken bei der Digitalisierung, Verfallserscheinungen bei der Infrastruktur, die Inflation und der immer stärkere Trend zu sinkenden Reallöhnen – all das bedrohe die Zukunft des deutschen Wirtschafts- und Sozialsystems. Und je stärker Deutschland seine ökonomische Stärke verliere, die über Jahrzehnte das Fundament für Deutschlands Rolle in der EU und der Welt bildete, desto stärker muss der geopolitische Bedeutungsverlust militärisch ausgetragen werden.11 Nicht zufällig also verstärkte die Wahl von Trump bei der Bundesregierung die Orientierung auf mehr Eigenständigkeit: „Für uns ist klar: Wir Europäerinnen und Europäer werden jetzt noch mehr sicherheitspolitische Verantwortung übernehmen müssen“, hieß es konsequenterweise in einer Stellungnahme des Auswärtigen Amtes am Tag der US-Wahl.12
Mittelstreckenraketen mit Eskalationspotential
Ein erhebliches Eskalationspotential stellt dabei die Stationierung der amerikanischen Mittelstrareckenraketen dar: landgestützte konventionelle Waffensysteme – die Rakete Standard Missile SM-6, der Marschlugkörper Tomahawk und die Hyperschallrakete Dark Eagle – sollen ab 2026 in Deutschland stationiert werden. Der ehemalige Oberst der Bundeswehr Wolfgang Richter führt aus, dass damit das nukleare Risiko für Deutschland erheblich steigt. Im Unterschied zur Stationierung der Pershing II-Raketen im Kalten Krieg, die sich nie nur auf die Raketenaufstellung begrenzte, sondern von Elementen der Rüstungskontrolle begleitet wurde, um die diplomatischen Kanäle offen zu halten und einen Krieg zu verhindern, sieht die Vereinbarung zwischen Scholz und Biden keinerlei Spielraum für Diplomatie vor. Sie sieht auch keine Mechanismen zur Reduzierung von Eskalationsgefahren vor. Sie formuliert nicht einmal ein Angebot an Russland, unter bestimmten Bedingungen die Stationierung wieder rückgängig gemacht werden würde. Putin muss also davon ausgehen, dass es sich um eine dauerhafte Stationierung von Waffen mit hoher Reichweite handelt, von den Radaren schwer zu orten und ausgestattet mit dem Potential, die russische Flugabwehr zu durchdringen. Im Konfliktfall wären damit nicht die USA, sondern Deutschland Ziel russischer Raketenangriffe.13
Es deutet vieles darauf hin, dass die Stationierung dem Ziel dient, Überraschungsangriffe im russischen Raum durchzuführen. Dabei verdeutlicht ein Blick auf die Waffen die Bedrohungslage für Russland: Der Tomahawk fliegt so tief, dass er unterhalb des gegnerischen Radars bleiben kann. Die SM-6 ist hochpräzise und selbst für die moderne Raketenabwehr schwer abfangbar. Und die Dark Eagle fliegt mit bis zu 17-facher Schallgeschwindigkeit und ist dadurch kaum zu stoppen. Mit kurzen Vorwarnzeiten eignen sich die Waffen für einen Überraschungsangriff auf russisches Territorium. Dass es bei der Stationierung um eben diesen Zugewinn an Fähigkeiten geht, machte schließlich Claudia Major von der regierungsberatenden Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) deutlich: „Die Tomahawks sollen bis zu 2.500 Kilometer weit fliegen können, könnten also Ziele in Russland treffen. Und ja, genau darum geht es (…) So hart es klingt, im Ernstfall müssen NATO-Staaten auch selbst angreifen können, zum Beispiel, um russische Raketenfähigkeiten zu vernichten, bevor diese NATO-Gebiet angreifen können“.14
Ohne jede gesellschaftliche oder parlamentarische Diskussion vereinbarten Scholz und Biden die Stationierung dieser hocheskalierenden Waffen ab 2026. Angesichts der russischen Aufrüstung sei eine „durchaus ernstzunehmende Fähigkeitslücke in Europa“ entstanden, die geschlossen werden müsse, begründete Pistorius den Schritt. In einer kürzlich erschienenen Greenpeace-Studie wird jedoch herausgearbeitet, dass die „Fähigkeitslücke“ ebenso eine Lüge ist, wie es die „Raketenlücke“ im Zusammenhang mit dem „Sputnik-Schock“ 1957 gewesen war. Vergleicht man die Militärpotentiale der NATO und Russlands miteinander, kommt man zu dem Schluss, dass die NATO-Staaten derzeit zehnmal so viel Geld für ihre Streitkräfte ausgeben wie Russland (1,19 Billionen US-Dollar zu 127 Milliarden US-Dollar). Auch im Hinblick auf die Großwaffensysteme übertrifft die NATO in sämtlichen dieser Waffenkategorien Russland mindestens dreifach. Ähnlich sieht es im Hinblick auf die Truppenstärke aus: Die NATO-Staaten verfügen aktuell über drei Millionen aktive Soldaten und ein großes Reservoir an Reservisten, während Russland über eine Truppenstärke von 1,33 Millionen Soldaten verfügt und derzeit große Rekrutierungsschwierigkeiten hat. Die NATO-Staaten dominieren zudem den weltweiten Rüstungsmarkt mit über 70 Prozent des Gesamtumsatzes, während Russlands Anteil bei lediglich 3,5 Prozent liegt. Schaut man sich dann noch die militärische Einsatzbereitschaft an, so wird deutlich: „Das russische Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg sowie der Verlauf der Invasion in der Ukraine zeigen, dass den russischen Streitkräften wesentliche Fähigkeiten fehlen, um auf dem Niveau der NATO einsatzfähig zu sein“.15 Einzig im Hinblick auf die Atomwaffen herrscht ein nukleares Patt. Es gibt also eine allgemeine militärische Überlegenheit der NATO gegenüber Russland und eine Parität bei en Atomwaffen.
Auch mit Blick auf die landgestützten Mittelstreckensysteme lässt sich keine Unterlegenheit des Westens feststellen. Vielmehr verfügen die NATO-Staaten über eine große Anzahl see- und luftgestützter Kurz- und Mittelstreckenwaffen. „So wie Iskander-Raketen bei St. Petersburg, Pskov und in Kaliningrad Ziele in den baltischen Staaten, Finnland, Polen und Deutschland bedrohen können, können umgekehrt Kampfflugzeuge wie ALCM aus west-, mittel- und nordeuropäischen Staaten auch Ziele in Kaliningrad, St. Petersburg oder Murmansk angreifen“.16 Im Kern geht es also nicht um das Schließen von Fähigkeitslücken, sondern um einen Zugewinn an operativen Fähigkeiten, die die USA in die Lage versetzen, Russland von deutschem Boden aus anzugreifen. Die beabsichtigte Stationierung hat das Potential, die strategische Balance zwischen den NATO-Staaten und Russland nachhaltig zu verändern.
Rüstungsindustrie verliert ihr Schmuddel-Image
Teil der äußeren Zeitenwende ist schließlich auch, dass die Rüstungsindustrie nach fast 80 Jahren in der Schmuddelecke wieder Teil der wirtschaftspolitischen Elite ist, die Arbeitsplätze schafft und für Wohlstand sorgt. In einer lesenswerten Studie arbeitet die Informationsstelle Militarisierung heraus, wie in den letzten zwei Jahren das durch zwei Weltkriege ramponierte Image der Rüstungsindustrie derart aufpoliert wurde, dass plötzlich normal wird, was vor einigen Jahren noch undenkbar erschien: Der demonstrative Schulterschluss von Scholz, Pistorius und dem Vorstandsvorsitzenden der Rheinmetall-AG, Armin Pappberger beim Spatenstich des Munitionswerks in Unterlüß. „Nicht nur die enge Tuchfühlung von Rheinmetall und Politik, auch die großflächige Akzeptanz dieser deuten darauf hin, dass das Unternehmen nicht nur von der herrschenden Politik, sondern auch von der öffentlichen, medial vermittelten Meinung mehr Akzeptanz und Legitimität erfährt als zuvor“, heißt es in der Studie.17
Das ist umso bemerkenswerter, weil die Rheinmetall AG eine historische Schlüsselrolle in der nationalsozialistischen Kriegsmaschinerie spielte und in den dreißiger und vierziger Jahren aufs Engste mit dem deutschen Faschismus verflochten war. Ein Blick in die Firmengeschichte Rheinmetalls lässt keinen Zweifel daran, dass sich die Rüstungsindustrie stets durch eine ausgeprägte Bereitschaft auszeichnete, an Tod und Zerstörung verdienen zu wollen. Diese Bereitschaft beschränkte sich nicht allein auf die Produktion von Rüstungsgütern, deren Export in Kriegs- und Krisengebiete hohe Profite abwarf. Nein, insbesondere in der Zeit des Faschismus umfasste sie auch das Einverständnis mit zerschlagenen Gewerkschaftsstrukturen und der Aufhebung von Arbeitsschutzrechten. Denn nur so war es möglich, dass durch den Einsatz von in jeder Hinsicht entrechteten Zwangsarbeitern, die Profite ins Unermessliche hochgetrieben werden konnten.
Auch das Agieren des Konzerns in der Nachkriegsgeschichte macht deutlich, für die Aussicht auf Profit spielten Menschenrechte keine Rolle. Rheinmetall exportierte in die schlimmsten Diktaturen der 1970er Jahre, denn hier wurden sie am dringlichsten „gebraucht“. Rüstungskontrollgesetze, die den Export von Waffen in Krisengebiete untersagten, wurden durch hohe Schmiergeldzahlungen umgangen, wie die Korruptionsskandale der 1990er Jahre belegen. Mit der zunehmenden Orientierung auf eine NATO-Osterweiterung wuchs für Rheinmetall nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch die Möglichkeit der internationalen Einbindung. Der Konzern begann Niederlassungen, Produktionsstandorte und Verbindungsbüros in den aufgenommenen NATO-Partnerländern aufzubauen. Erleichtert wurde dies auch durch einen Strategiewechsel bei Bundesverband der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie e.V. (BDSV) und Bundesregierung, die eine ganze Reihe von Maßnahmen zur Bündelung der Interessen von Verteidigungsministerium und Rüstungsindustrie in die Wege leiteten.
Gleichzeitig wird der Rüstungsindustrie in Arbeitsgruppen auf nationaler und internationaler Ebene ein Mitbestimmungsrecht gewährt, das es für die Zivilgesellschaft nicht gibt. Schumacher arbeitet dies in einer kürzlich erschienenen Flugschrift über Rheinmetall am Beispiel der NIAG heraus. Bei der NATO Industry Advisory Group (NIAG) handelt es sich um eine 1968 gegründete Arbeitsgruppe unterhalb der Konferenz der Rüstungsdirektoren (CNAD). Sie setzt sich aus Industrievertretern der NATO-Mitgliedsstaaten zusammen und beschäftigt sich mit der Beschaffung von militärischer Ausrüstung und der Netzwerkbildung von NATO und Industrie. Während sich also die Industrie einen exklusiven Zugang in die politischen Entscheidungsgremien sichert, sind die Menschen der Zivilgesellschaft von jeglichem Dialog ausgeschlossen. Dabei sind gerade sie es, die von sozialstaatlichen Leistungskürzungen betroffen sind und zugleich das höchste Risiko einer militärischen Eskalation tragen.18
Dies ist Teil II der 5-teiligen Reihe Gewerkschaften in der Zeitenwende von Ulrike Eifler, Susanne Ferschl und Jan Richter. (zu Teil I)
Ulrike Eifler ist Mitglied bei der IG Metall. Sie ist Bundessprecherin der BAG Betrieb & Gewerkschaft und Mitglied im Parteivorstand der Partei Die Linke.
Susanne Ferschl ist Mitglied der Gewerkschaft NGG. Sie war bis zur Bundestagswahl 2017 Gesamtbetriebsratsvorsitzende bei Nestlé. Von 2017 bis 2025 war sie Mitglied im Deutschen Bundestag und arbeitsmarkt- sowie gewerkschaftspolitische Sprecherin.
Jan Richter ist als gelernter Einzelhandelskaufmann Mitglied bei ver.di. Er war viele Jahre Betriebsratsvorsitzender bei H&M. In der Partei Die Linke ist er ebenfalls Bundessprecher der BAG Betrieb & Gewerkschaft und war von 2021 bis 2024 Mitglied im Parteivorstand.
1 Rede von Olaf Scholz an der Karls-Universität am 29.08.2022 in Prag, https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzler-scholz-an-der-karls-universitaet-am-29-august-2022-in-prag-2079534
2 „Für SPD-Chef Klingbeil soll Deutschland eine internationale Führungsmacht werden“, Der Spiegel, 21.06.2022.
3 Mertens, Peter (2024), 166f.
4 Brie, Michael/ Crome, Erhard/ Deppe, Frank (2024): „Friedenspolitik für die Welt des 21. Jahrhunderts“, Diskussionspapier der Initiative „Nein zu Kriegen“, 3.
5 Solty, Ingar (2020): „Der kommende Krieg. Der USA-China-Konflikt und seine industrie- und klimapolitischen Konsequenzen“, RLS.
6 Mertens, Peter (2024), 133ff.
7 Mertens zählt zu diesen drei Bruchpunkten auch den Irak-Krieg von 2003, der mit einer Verschärfung des „Freund-Feind-Diskurses“ einherging: Jeder, der nicht für uns ist, ist gegen uns. Außerdem der Ukraine-krieg, bei dem sich erste Absetzbewegungen von der Sanktionspolitik der USA beobachten ließen. Vgl.: Mertens, Peter (2004), 182ff.
8 „How to survive a superpower split?“, The Economist, 11.04.2023, Zit. nach: Mertens, Peter (2024) 193.
9 Deutsche Industrie- und Handelskammer (2024): „Konjunktur im Herbst: Deutsche Wirtschaft verliert den Anschluss“, https://www.dihk.de/de/aktuelles-und-presse/aktuelle-informationen/konjunktur-im-herbst-deutsche-wirtschaft-verliert-den-anschluss-123242
10 Statista: „Strompreise privater Haushalte in ausgewählten Ländern weltweit im Jahr 2023“, Statista, 05.07.2024, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/13020/umfrage/strompreise-in-ausgewaehlten-laendern/
11 Brie, Michael/ Crome, Erhard/ Deppe, Frank (2024).
12 Auswärtiges Amt, 06.11.2024, https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/-/2683366
13 Richter, Wolfgang (2024): „Stationierung von U.S. Mittelstreckenraketen in Deutschland. Konzeptioneller Hintergrund und Folgen für die europäische Sicherheit“, FES.
14 Major, Claudia (2024): „Europa braucht die US-Mittelstreckenraketen“, Handelsblatt, 19.07.2024.
15 Steinmetz, Christopher/ Wulf, Herbert/ Kurz, Alexander (2024): Wann ist genug genug? Ein Vergleich der militärischen Potenziale der Nato und Russlands, Greenpeace, November 2024, 3.
16 Richter, Wolfgang (2024), 7.
17 Uphoff, Jonas (2024): Von der Schmuddelecke in die Systemrelevanz. Die mediale Zeitenwende im öffentlichen Diskurs über Rheinmetall, Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V., 2, https://www.imi-online.de/download/IMI-Studie2024-1-Rheinmetall.pdf
18 Schumacher, Fred (2024): Waffen für die Welt. Rheinmetall und das Geschäft mit dem Krieg, Eulenspiegel-Verlagsgruppe, Berlin, 107ff.