Während sich unter internationalen Genozid- und Holocaustforscher*innen der Konsens herausgebildet hat, dass es sich in Gaza um einen Genozid handelt, tun sich deutsche Wissenschaftler*innen und ihre Institutionen weiterhin schwer, dieses Wort in den Mund zu nehmen. Ähnlich wie die Bundesregierung, sprechen institutionelle Vertreter*innen eher von einer “Hungersnot” oder einer “humanitären Krise”. Das jüngste Beispiel ist die gemeinsame Presseerklärung der Präsidenten der Humboldt-Stiftung und des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) vom 18. August. Auch israelische wissenschaftliche Institutionen meldeten sich in den letzten Wochen ebenfalls zu Wort, um ihre Sorgen um die humanitäre Lage in Gaza zum Ausdruck zu bringen.
Das Steuerungsgremium der “Israel Young Academy” fordert in einem offenen Brief vom 29. Juli 2025 die israelische Regierung auf, den Krieg zu beenden, die Freilassung der fünfzig verbliebenen israelischen Geiseln sicherzustellen, Zivilist*innen keinen Schaden zuzufügen, die Zufuhr humanitärer Hilfe nach Gaza zu gewährleisten und nach einer politischen Einigung zu streben. Man müsse alles tun, so die Verfasser*innen, um die “humanitäre Krise” zu stoppen. Bereits einen Tag zuvor wendeten sich die fünf Präsidenten des Weizmann Instituts, der Hebräischen Universität von Jerusalem, der Open University, der Tel Aviv University und des Technion (Haifa) an Netanjahu: Er solle das israelische Militär anweisen, die Bemühungen zur Bekämpfung der “schweren Hungerkrise” im Gazastreifen zu intensivieren. Ebenso äußerten sie ihr Entsetzen über Aussagen von Minister*innen und Knesset-Abgeordenten, Gaza zerstören und die Zivilbevölkerung vertreiben zu wollen. Darüber hinaus reflektiere, so weiter, die absichtliche Zerstörung und der Plan, eine “humanitäre Stadt” einzurichten, einen “Verlust moralischer Selbstbeschränkung”. Auch der Präsident der Israel Academy of Sciences and Humanities, David Harel, beklagt in einer Erklärung vom 14. July 2025, die „Krise des öffentlichen Gesundheitswesens“ in Gaza, die in letzter Konsequenz nicht nur eine „humanitäre Krise“ sei, sondern auch die regionale Sicherheit sowie das wirtschaftliche und wissenschaftliche Standing Israels bedrohe. Er schließt seine Erklärung mit großer Geste ab: „Dies ist ein entscheidender moralischer Moment für den Staat Israel und seinen Platz in der Gemeinschaft der zivilisierten Nationen“.
Fast aufatmend werden diese Erklärungen von deutschen wissenschaftlichen Institutionen zur Kenntnis genommen und fleißig zitiert: Die Vorstellung der israelischen Wissenschaft als liberaler Hafen und zentrale Gegenspielerin der radikalen israelischen Regierung sowie als Hort des Friedens lässt sich weiterhin aufrechterhalten. Entsprechend veröffentlichte am 8. August 2025 das Präsidium der Technischen Universität Berlin ein “Statement zum Offenen Brief von fünf israelischen Universitätspräsidenten zur humanitären Situation in Gaza”. Dort lobt das Präsidium den Mut der fünf Präsidenten, die in ihrem Brief “humanitäre Hilfe und die Einhaltung des Völkerrechts in Gaza” fordern würden. DAAD und Humboldt-Stiftung unterstützen in ihrer Pressemitteilung die Appelle der israelischen Institutionen und versichern, dass sie weiterhin “in unverbrüchlicher Solidarität an der Seite des Staates, der Menschen und der Wissenschaft in Israel” stehen.
Ethische Grundprinzipien, das geltende Völkerrecht und politisch-analytisches Denken erfordern jedoch ganz andere Maßnahmen von Seiten der israelischen und der deutschen Wissenschaft, als dies deren institutionellen Vertreter*innen wahrhaben wollen.
Am deutlichsten werden die Pflichten Israels, seiner Institutionen und der Drittstaaten im Gutachten des Internationalen Gerichtshofs vom Juli 2024 ausformuliert. Der IGH kommt dort unter anderem zur Schlussfolgerung, dass die Anwesenheit des israelischen Staats im besetzten palästinensischen Gebiet (Gaza und Westjordanland einschließlich Ostjerusalem) rechtswidrig ist und dass er ein System der Segregation und Apartheid (“Rassentrennung”) aufrechterhält. Er ist verpflichtet, seine rechtswidrige Anwesenheit sowie alle Siedlungsaktivitäten umgehend zu beenden, Reparationen für den entstandenen Schaden zu zahlen und das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser*innen zu achten. Das Gutachten benennt deutlich, welche Konsequenzen sich daraus für Drittstaaten ergeben:
Alle Staaten sind verpflichtet, die Situation, die sich aus der rechtswidrigen Präsenz des Staates Israel im besetzten palästinensischen Gebiet ergibt, nicht als rechtmäßig anzuerkennen und keine Hilfe oder Unterstützung bei der Aufrechterhaltung der Situation zu leisten, die durch die fortgesetzte Präsenz des Staates Israel im besetzten palästinensischen Gebiet hervorgebracht wird.
Das Verhalten staatlicher Universitäten wird gemäß Völkerrecht dem Staat zugerechnet. Das heißt konkret: Staatliche israelische Institutionen müssen alle Praktiken unterbinden und beenden und staatliche deutsche Institutionen alle Beziehungen zum israelischen Staat und seinen Institutionen aussetzen, die zur völkerrechtswidrigen Besatzung beitragen und diese aufrechterhalten. Das Gutachten bezieht sich auf den Zeitraum bis Ende 2022, dem Zeitpunkt, an dem das Gutachten von der UN-Vollversammlung in Auftrag gegeben wurde. Es wird, wie alle IGH-Gutachten, als Leitlinie für weiteres juristisches Handeln wahrgenommen. Deutsche und israelische wissenschaftliche Institutionen haben also weder am 6. Oktober 2023 das Völkerrecht eingehalten, noch tun sie es heute.
Wissenschaftliche Institutionen in Israel, auch diejenigen der “fünf mutigen Universitätspräsidenten”, arbeiten unter anderem eng mit dem israelischen Militär zusammen, bieten spezifische Studiengänge an, die Personal für den Besatzungsapparat ausbilden, produzieren ideologische und juristische Rechtfertigungen für Besatzung, Segregation und Apartheid und nun auch Genozid, tragen zur einseitig ethno-nationalistischen Geschichtsschreibung und zur Verschleierung palästinensischer Präsenz zwischen dem Fluss und dem Meer bei. Keine einzige israelische Institution erkennt das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes an. Israelische Kolleg*innen, die sich dagegen wenden, werden marginalisiert, bedroht oder aus den Institutionen vertrieben. Einige Universitäten unterhalten Liegenschaften auf rechtswidrig besetztem Gebiet bzw. befinden sich vollständig dort (Ariel Universität im Westjordanland, Hebräische Universität in Ostjerusalem). Die Verstrickung zwischen Kolonisation, Besatzung und Wissenschaft in Palästina/Israel ist gut dokumentiert. Und sie ist kein Einzelfall: In der Moderne hat sich Wissenschaft mehr als einmal in den Dienst hegemonialer Staatsprojekte gestellt und zu Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit beigetragen. In diesem Kontext von „humanitärer Krise“ und von einem „moralischen Moment“ zu sprechen, ist mehr als unzulänglich: Es macht die eigene Mitverantwortung und die Strukturen unsichtbar, die dem jetzigen Genozid zugrunde liegen.
Angesichts der Fördergeld-Affäre des Bundesministeriums für Forschung, Technologie und Raumfahrt vom letzten Jahr und der Staatsräson, die trotz des Gebots der Wissenschaftsfreiheit auch in der deutschen Wissenschaft herrscht und kritische Stimmen verstummen lässt, überrascht es nicht, dass völkerrechtliche und ethische Verpflichtungen ignoriert oder, wie kürzlich noch von der Hochschulrektorenkonferenz, eine Stärkung der Kooperation mit der israelischen Wissenschaft gefordert wird. Deutsche Institutionen weigern sich, die völkerrechtlich zwingend gebotenen Pflichten einzuhalten. Sie haben auf keinen der offenen Briefe palästinensischer akademischer Institutionen reagiert und sich nicht dazu durchringen können, die nachgewiesenen Verbrechen an den Palästinenser*innen anzuerkennen. Die Erklärungen sowohl deutscher als auch israelischer akademischer Institutionen blenden die systematische und gezielte Vernichtung der palästinensischen Bildungslandschaft durch den israelischen Staat vollständig aus. Seit dem 7. Oktober 2023 wurden mehr als 18.600 Schüler*innen und Studierende sowie fast 1.000 Lehrkräfte und Universitätsangestellte getötet und Zehntausende verletzt. Das israelische Militär hat 95% der Schulen sowie alle 12 Hochschuleinrichtungen zerstört. Solidaritätserklärungen von Seiten israelischer und deutscher Institutionen zur Tötung von Dr. Said Alzebda, Dr. Sufyan Tayeh oder Dr. Muhammad Eid Shabir, alle drei Präsidenten von Hochschuleinrichtungen in Gaza, sucht man vergebens. Nachdem Deutschland mit Waffenlieferungen die Zerstörung des Bildungswesens in Gaza mit ermöglicht hat, nun wie DAAD und Humboldt-Stiftung vom “wissenschaftlichen Austausch mit palästinensischen Hochschulen”, die in Trümmern liegen oder unter Besatzung zerstört werden, zu sprechen, ist im besten Falle inkohärent.
Das Problem sind nicht einzelne Akteure wie Netanyahu. Die Ursachen sind in den gesellschaftlich-politischen Strukturen der Kolonialisierung des historischen Palästinas, der illegalen Besatzung, der Segregation und der Apartheid zu suchen. Der jetzige Genozid ist daraus entstanden, auch wenn es nicht zwingend so hätte sein müssen.
Anstatt sich begeistert auf öffentlichkeitswirksame Erklärungen mitverantwortlicher, israelischer Institutionen zu stürzen, die Palästinenser*innen mit keinem einzigen Wort erwähnen und von “Hungersnot” und “humanitärer Krise” erzählen, als ob es sich um unvorhersehbare Naturkatastrophen ohne Urheber handelte, müsste eine völkerrechtskonforme, kritisch-reflektierte und den Menschenrechten verpflichtete Wissenschaft andere Prioritäten haben: Die Zusammenarbeit mit mitverantwortlichen israelischen Institutionen und dem israelischen Staat muss bis zur Einhaltung des Völkerrechts in Wort und Tat sofort ausgesetzt werden. Dieser Prozess sollte von unabhängigen Ethikkommissionen auf Basis der Verpflichtungen, die sich aus der Ethik der Menschenrechte und des Völkerrechts ergeben, transparent überprüft und begleitet werden. Darüber hinaus müssen wir unsere eigene Mitverantwortung aufarbeiten: Die einzige akademische Gruppe, die sich dieser Verantwortung ernsthaft gestellt hat, sind die vielen studentischen Kollektive für Gerechtigkeit in Palästina. Sie wurden mit Spott, Kriminalisierung und Antisemitismusvorwürfen überzogen.
Wir hoffen, dass am Ende dieses Prozesses die überfällige Etablierung von unabhängigen und durchsetzungsfähigen Ethikkommissionen an deutschen Universitäten steht. Sie müssen das Recht erhalten, die Zusammenarbeit ihrer Institutionen mit anderen Körperschaften transparent und nachvollziehbar zu überprüfen und im Falle von Völkerrechtsverletzungen der Partneruniversitäten eine institutionelle Kooperation zu untersagen. Bis dahin sollten wir, im Bewusstsein unserer eigenen Verantwortung als deutsche Wissenschaftler*innen, die Zusammenarbeit mit mitverantwortlichen Institutionen verweigern.
Carmen Becker, Sabine Broeck, Ramis Örlü & Nils Riecken als Teil des Kollektivs der Uppsala Erklärung. Die Unterzeichnenden der Uppsala-Erklärung verweigern aus Gewissensgründen die Zusammenarbeit mit mitverantwortlichen israelischen Institutionen. (uppsaladeclaration.se/germany).



