Die Al-Jazeera-Dokumentation „Gaza“ kann sich hier angeschaut werden:
TRIGGERWARNUNG: Der Film zeigt alle möglichen Formen teils extremer Gewalt.
etos.media: „Der Westen kann sich nicht verstecken. Sie können sich nicht auf Unwissenheit berufen. Niemand kann sagen, er habe es nicht gewusst.“ Der Dokumentarfilm beginnt mit diesem Zitat der palästinensischen Dichterin Susan Abulhawa, das einen Eindruck davon vermittelt, worum es in dem Film geht. Warum haben Sie sich entschieden, mit diesem Zitat zu beginnen?
Richard Sanders: Weil ich dachte, dass es den Kern dessen trifft, was wir mit dem Film aussagen wollen. Ich denke, dass die westliche Berichterstattung, wenn sie nicht direkt pro-israelisch ist, dazu neigt, sich in die Vorstellung zu flüchten, dass dies eine furchtbar komplizierte, schwierige Geschichte ist. Doch das ist sie nicht. Es ist die Geschichte einer ungewöhnlich brutalen Episode ethnischer Säuberung. Und die Frage nach der moralischen Komplexität hält sich dabei in Grenzen. Es ist auch eine Geschichte unserer modernen Zeit – und das ist der Punkt, den Susan anspricht – der sozialen Medien nämlich, wo jeder eine Kamera im Handy hat. Es ist eine Geschichte, die live übertragen wird. Niemand kann sagen, er habe nichts davon gewusst. Okay, die Berichterstattung in den westlichen Medien ist sehr dürftig, aber das ist eben die Verantwortung der westlichen Medien. Wir haben Tausende von Videos, gedreht von Palästinensern selbst, von Zerstörung und Tod. Vor allem aber, und das stellt den Kern des Films dar, haben wir Tausende von Videos, die von israelischen Soldaten gedreht wurden, auf denen sie die mutwillige Zerstörung palästinensischer Häuser und auch die Ermordung unbewaffneter palästinensischer Zivilisten abfeiern.
Sie haben eine riesige Menge an Beweisen gesammelt. Könnten Sie uns kurz erklären, wie Sie all diese Daten gesammelt haben?
Wir hatten ein ganzes Team dafür, aber es gab vor allem einen Freelancer, mit dem wir zusammengearbeitet haben und der diese Arbeit seit Beginn des Krieges gemacht hat. Jetzt haben wir ihn fest angestellt und er führt die Arbeit auch fort. Es war ein enormer Arbeitsaufwand samt stundenlangem Durchforsten des Internets, TikTok, Instagram, Facebook, YouTube. Aber in gewisser Weise war es keine besonders große Detektivarbeit. Ich dachte, wir bräuchten OSINT, Gesichtserkennung und Geolokalisierung, um diese Leute zu identifizieren. Doch dem war keinesfalls so. Ich meine, sie haben all das Material unter ihrem Namen veröffentlicht und sehr oft angegeben, wo und wann es gedreht wurde. Es gab also viel Material, deshalb wir viel Zeit investieren mussten. Aber es lag einfach alles vor uns und wollte gefunden werden. Es war keine große Kunst, es auszugraben.
Wahrscheinlich hat noch nicht jeder den Film gesehen. Könnten Sie uns einen kurzen Überblick über die wichtigsten Ergebnisse des Films geben?
Im Zentrum des Films stehen diese Videos der israelischen Soldaten und was sie enthüllen. Einiges davon ist zwar verächtlich, jedoch vergleichsweise belanglos, wie ihre Besessenheit von Frauenunterwäsche, die Demütigung palästinensischer Frauen durch die Zurschaustellung ihrer Unterwäsche und so weiter – das scheint für sie eine regelrechte Obsession zu sein. Dann die Zerstörung palästinensischer Häuser. Es ist eine Art steigendes Maß der Kriminalität und der kriminellen Energie. Sie jagen die Häuser oft mit sehr viel mehr Sprengstoff in die Luft als ‚nötig‘. Es geht ihnen offensichtlich darum, den größtmöglichen Knall zu erzeugen. Sie wetteifern um Klicks. Und in ihren Posts zu all diesen Videos machen tun sie noch nicht einmal so, als würde es eine militärische Rechtfertigung geben. Die mutwillige Zerstörung von zivilem Eigentum und Infrastruktur ist ein Kriegsverbrechen. So einfach ist das.
Und dann gibt es ein bestimmtes Video, auf das wir uns konzentrieren, auf dem, und das ist kaum zu glauben, zu sehen ist, wie drei unbewaffnete Männer von Scharfschützen erschossen werden. Natürlich können wir die genauen Umstände dieser Erschießungen nicht kennen, doch die Männer sind eindeutig unbewaffnet. Und was so außergewöhnlich ist, ist das überwältigende Gefühl der Straffreiheit. Sie fühlen sich so sicher, diese Videos ins Netz zu stellen. Die Videos der IDF-Soldaten werden dann mit den Erfahrungen von Palästinensern vor Ort zusammengeschnitten. Wir gehen auch ausführlich auf den Bericht des +972 Magazine über den Einsatz Künstlicher Intelligenz zur Beschleunigung der Tötungsrate in den ersten Monaten des Gaza-Krieges ein. Wir befassen uns auch eingehend mit der Frage der menschlichen Schutzschilde. Dieses Thema hat zwei wesentliche Aspekte. Zum einen geht es um den Einsatz von Palästinensern als menschliche Schutzschilde durch die Israelis. Das ist absolut schockierend. Darüber wurde in der Vergangenheit so gut wie gar nicht berichtet, obwohl es seit Jahren zweifelsohne eine weit verbreitete, systematische Praxis des israelischen Militärs ist. Und in diesem Konflikt ist sie so weit verbreitet und wird so systematisch angewandt, dass endlich auch die Mainstream-Medien berichten. Haaretz, The Guardian, The New York Times und CNN – sie alle haben jetzt über den israelischen Einsatz menschlicher Schutzschilde berichtet.
In den deutschen Medien wird darüber nicht berichtet. Es ist den Menschen hier völlig unbekannt.
In den internationalen Medien ist es gerade erst angekommen. Es sei den Leuten verziehen, wenn es an ihnen vorbeigegangen ist. Aber vielleicht ist in gewisser Weise das Gegenteil wichtig, nämlich die Behauptung, dass die Hamas menschliche Schutzschilde einsetzt. Und das ist zentral, denn jedes Mal, wenn westliche und israelische Politiker auf die schreckliche Zahl der Toten angesprochen werden, flüchten sie sich in das Argument, die Hamas benutze Zivilisten als menschliche Schutzschilde und sei deshalb für all die Toten verantwortlich. Doch dafür gibt es nicht den geringsten Beweis.
Und wir müssen wirklich auseinandernehmen, was die Leute behaupten. Sie sagen, dass die Hamas und die Zivilbevölkerung dasselbe sehr kleine Gebiet besetzen. Aber da kann die Hamas nun mal nicht viel machen. Für den Vorwurf menschlicher Schutzschilde in dem Sinne, dass man Menschen vor sich stellt und von hinter ihnen die Waffen schießt – dafür gibt es nicht die geringsten Belege. Menschenrechtsgruppen, die dies untersucht haben, haben keine Beweise dafür gefunden. Es wäre auch ein völliges Fehlverständnis des Wesens gegenüber der Hamas. Denn was immer man von ihr halten mag, sie ist eine demokratisch gewählte Organisation, die in der Bevölkerung von Gaza verwurzelt ist. Im Zuge dieses Krieges ist die Haltung der Menschen in Gaza gegenüber der Hamas noch deutlich komplizierter geworden. Im Großen und Ganzen neigen sie dazu, die Kämpfer zu unterstützen. Und diese Unterstützung würde keine zehn Sekunden anhalten, wenn die Kämpfer Frauen, Kinder, alte Menschen usw. als menschliche Schutzschilde benutzen würden. Und die Kämpfer der Hamas und des Islamischen Dschihad sind auf diese zivile Unterstützung angewiesen. Das würde überhaupt keinen Sinn machen.
Maha Hussaini vom Euro-Med Human Rights Monitor weist auf einen weiteren bedeutenden Punkt hin: Das Verhalten der Israelis im vergangenen Jahr deutet in keinster Weise darauf hin, dass die Anwesenheit von Zivilisten sie dazu veranlassen würde, das Feuer einzustellen, oder dass sie versuchen würden, das Töten von Zivilisten zu unterbinden. Es gäbe daher keinerlei Grund, Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu benutzen, da dies die Israelis ja eh nicht vom Schießen abhält.
„Gaza“ ist mehr als ein Dokumentarfilm. Er ist auch eine bedeutende Sammlung von Beweisen. Arbeiten Sie hier mit Menschenrechtsanwälten zusammen? Und was werden Sie mit all den Informationen anstellen, die Sie gesammelt haben?
Wir werden weiteres Material auf unsere Website stellen und die Beweise, die wir geliefert haben, ergänzen. Wir befinden uns noch immer in diesem Prozess – wegen der schieren Menge an Beweisen, die wir gesammelt haben. Wir hoffen natürlich, dass der IStGH und der IGH sich die Beweise, die wir und andere gesammelt haben, ansehen werden, ihre eigenen Nachforschungen anstellen und sie verwenden. Alles ist öffentlich zugänglich. Es ist nicht schwer, all das zusammenzutragen – man muss sich nur die Zeit dafür nehmen.
Das gezeigte Filmmaterial und alle Einschätzungen der Menschenrechtsexperten im Film liefern ausreichend Argumente, um zu erkennen, dass Israel in Gaza das humanitäre Völkerrecht verletzt und Kriegsverbrechen begeht. Wie ist es möglich, dass sich die beantragte Ausstellung der Haftbefehle gegen den israelischen Verteidigungsminister Gallant und Premierminister Netanjahu immer noch hinzieht?
Das ist in der Tat sehr merkwürdig. Die Ausstellung der endgültigen Haftbefehle hätte eine Formalität sein müssen, sobald der Antrag gestellt wurde. Dieser Vorgang dauert normalerweise nicht länger als einen Monat. Es gab also diese lange Verzögerung und das ist eindeutig beunruhigend und ein klarer Hinweis auf die politischen Kräfte und deren Arbeitsweise.
Aber halten Sie es für wahrscheinlich, dass die Haftbefehle letztendlich erlassen werden?
Ich weiß es einfach nicht. Der Druck ist natürlich enorm.
In der Dokumentation wird die Rolle Deutschlands in all dem ein paar Mal erwähnt, doch nicht so sehr wie die Großbritanniens, obwohl Deutschland wohl der größere Unterstützer Israels ist, insbesondere im Hinblick auf die Waffenlieferungen. Könnten Sie die Rolle Deutschlands in dieser Angelegenheit näher erläutern?
Der Grund, warum wir uns stärker auf Großbritannien konzentriert haben, war, dass es aktuelle belastende Berichte über die britische Beteiligung gab, über die in den Mainstream-Medien nicht berichtet wurde. Wir zitieren im Film die Statistik, dass 69 Prozent der Waffen aus den USA und 30 Prozent aus Deutschland stammen. Ja, ich war erstaunt, wie viel aus Deutschland kommt. Meiner Auffassung nach, ist die deutsche Regierung, wie auch die britische, etwas nervös, was das Völkerrecht angeht. Und in den letzten Monaten sind diese Waffenexporte zurückgegangen. Obwohl einige Minister in der deutschen Regierung versuchen, das herunterzuspielen und sagen, dass sie Israel immer noch auf die gleiche Weise unterstützen.
Wir waren der Meinung, dass die britische Sache von Bedeutung ist, weil die Briten im Großen und Ganzen zwar keine nennenswerten Mengen an Waffen an Israel liefern, doch es gibt diese völlig verborgene Rolle der RAF Akrotiri (British Royal Air Force, Anm. d. Red.), der britischen Luftwaffenbasis auf Zypern, die eindeutig eine sehr wichtige Rolle in diesem Krieg spielt. Und darüber wird überhaupt nicht berichtet, und wir hielten es für wichtig, das zu korrigieren.
Das war in der Tat ein sehr wichtiger Teil des Dokumentarfilms. Können Sie das näher erläutern?
Gerne, wir freuen uns immer, wenn wir Berichte von anderen unabhängigen Medien nehmen können, und wir schätzen deren Rolle sehr. Das Material stammt von Matt Kennard von Declassified UK, der in dieser Sache hervorragende Arbeit geleistet hat. Eine dieser sonderbaren Eigenheiten der Geschichte, ein koloniales, imperiales Überbleibsel gewissermaßen, ist, dass uns (Großbritannien, Anm. d. Red.) ein kleines Stück Zypern gehört, so wie uns auch ein kleines Stück Spanien gehört. Und auf diesem kleinen Stück Zypern, raten Sie mal? Da haben wir eine riesige Luftwaffenbasis gebaut. Dort im östlichen Mittelmeer.
Und die Arbeit von Declassified geht weit über das hinaus, was im Film zu sehen ist. Sie konnten aufzeigen, dass in den ersten Monaten des Krieges viele riesige Militärtransporter von der Akrotiri-Basis nach Israel geflogen sind. Danach gab es eine große Anzahl von Überwachungsflügen über Israel. Jüngste Recherchen einer anderen Abteilung von Al Jazeera haben sogar ergeben, dass von Akrotiri aus auch aufgetankt wurde (israelische Kampfjets, Anm. d. Red.). Wie bei all diesen Dingen zeigt sich die britische Regierung auch hier sehr bedeckt. Ich glaube, sie haben gesagt, dass die Frachtflugzeuge Medikamente und Diplomaten transportiert haben, und sie behaupten, dass die Überwachungsflüge ausschließlich der Geiselbefreiung dienten. Da kann jeder seine eigenen Schlüsse ziehen. Für mich sind diese Erklärungen völlig unbefriedigend, und die offensichtliche Schlussfolgerung ist, dass RAF Akrotiri praktisch die Drehscheibe im östlichen Mittelmeer für die westliche Unterstützung der Israelis ist.
Wir können uns vorstellen, dass es außerhalb der ohnehin interessierten Kreise, die sich des laufenden Völkermordes bereits bewusst sind, einige Widerstände gegen diesen Film gab. Was bringen Ihre Kritiker normalerweise vor?
Gar nichts. (lacht) Sie ignorieren uns. Sonst nichts. Und das ist sehr interessant. Am Ende habe ich jetzt drei Filme für Al Jazeera gemacht. Einer zeigt eine alternative Perspektive auf den Antisemitismus-Skandal in der Labour-Partei. Der zweite behandelt den 7. Oktober (2023, den Tag der Angriffe der Hamas auf Israel, Anm. d. Red.). Und der jetzt ist der dritte. Die Welt ist voller Leute, die diese Filme diskreditieren würden, wenn sie denn nur könnten. Doch sie haben es nicht einmal versucht, denn der Journalismus dahinter ist nun mal absolut solide. Da sie nicht in der Lage sind, unsere Arbeit zu diskreditieren, ignorieren sie sie einfach. Und es ist fast so, als ob eine Art Memo rausgeht. Ich meine, es ist absolut außergewöhnlich, diese Omertà der Mainstream-Medien gegenüber unseren Filmen. Sie können sie komplett ignorieren. Aber natürlich kann man so etwas in der heutigen Zeit nicht mehr so einfach unterdrücken, weil natürlich alles über die sozialen Medien verbreitet wird. Millionen von Menschen sehen sich diese Filme online an. Interessanterweise gibt es mehr Resonanz in der israelischen Presse. Haaretz hat einige sehr interessante Artikel veröffentlicht. Es gab dort ein paar interessante Meinungsartikel, die sagten: ‚Ok, wir mögen Al Jazeera nicht unbedingt und wir mögen diesen Film auch nicht wirklich, aber die Beweise sind ziemlich überzeugend. Und wir müssen uns der Tatsache stellen, dass die Welt uns jetzt so sieht.‘ Das war sehr interessant.
Sie haben den Film in verschiedenen Ländern gezeigt, es gab Vorführungen in vielen Ländern. Wie wurde er aufgenommen?
Entschuldigen Sie, ich bin sehr alt und senil. Haben wir uns bei der Vorführung in Berlin getroffen? (lacht)
Wir haben uns kurz gesehen und ein, zwei Minuten gesprochen, ja. (lachen)
Der Film macht einen großen Eindruck auf die Leute, die ihn sehen. Die Leute scheinen ihn sehr beeindruckend zu finden. Es ist zwar frustrierend, dass wir in einer Blase gefangen sind, doch mittlerweile ist es eine sehr große Blase. Der Film hat derzeit 1,7 Millionen Aufrufe auf YouTube. Er wurde auch viel auf X gesehen. Aber trotzdem ist es frustrierend, dass es sich hier nicht um ganz normale Bürger handelt, die den Film einfach in ihrem abendlichen Fernsehprogramm zu sehen bekommen. Und das ist frustrierend. Aber bei denen, die ihn sehen, hat er eine große Wirkung erzielt. Eine Sorge, die ich bei diesem Film habe, ist, dass er zu heftig ist.
Wenn man über schreckliche Dinge aus der ganzen Welt berichtet, muss man sich in der Regel etwas zurückhalten, da die Leute sonst einfach abschalten, weil sie nicht damit zurechtkommen. Ich glaube, das ist auch bei diesem Film der Fall, dass die Leute ihn, A, entweder einfach nicht anschauen, weil sie den Horror nicht ertragen können. Oder, B, sie schauen ihn sich an und nach 15, 20 Minuten können sie nicht mehr. Und ich glaube, dass das viel passiert. Andererseits bin ich mir nicht ganz sicher, was für einen Film ich über Gaza sonst hätte machen können. Ich meine, es geht nicht. Es ist nun mal, wie es ist.
Ja, der Film war wirklich hart anzusehen. Wir verfolgen den Krieg seit einem Jahr rund um die Uhr, 24/7, doch das alles so komprimiert zu sehen war an manchen Stellen wirklich kaum ertragen. Aber natürlich, was für einen Film soll man sonst machen?
Genau.
Können Sie uns etwas über die Rhetorik der großen Unterstützer Israels, insbesondere Deutschlands, der USA und Großbritanniens, in Bezug auf den Gaza-Krieg im Vergleich zum Russland-Ukraine-Krieg erzählen?
Ich denke, eine Sache, die sicherlich für Palästinenser, aber auch für Muslime und People of Color im Allgemeinen sehr schwierig ist, ist die schonungslose Brutalität der Doppelmoral, die völlig unterschiedliche Art und Weise, wie über das eine Leid im Vergleich zum anderen berichtet wird. Unsere Berichterstattung über die Ukraine ist sofort … Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin kein Unterstützer von Putin oder von Putins Operationen in der Ukraine, nicht im Geringsten, aber unsere Berichterstattung über die Ukraine ist sofort emotional und setzt als gegeben voraus, dass wir auf der einen Seite stehen und nicht auf der anderen. Während unsere Berichterstattung über Israel und Gaza, wo die Völkerrechtsverletzungen die Verbrechen in der Ukraine in jeder erdenklichen Hinsicht in den Schatten stellen, ständig als kompliziert dargestellt wird, alles müsse differenziert betrachtet werden, sei schwierig und so weiter. Und ich glaube, dass diese Verrohung, mit der westliche Medien und westliche Politiker klarmachen, dass das eine Leben, das von Weißen, mehr wert ist als das andere Leben, das von Menschen, die eben nicht weiß sind oder nicht dem Westen angehören, dass das eine mehr wert ist als das andere; ich glaube, diese Brutalität, mit der dies im letzten Jahr artikuliert wurde, ist für viele Menschen sehr, sehr schwer zu ertragen.
Aber was denken Sie? Warum können diese Länder immer wieder mit diesen Narrativen davonkommen? Diese Doppelstandards sind so offensichtlich, doch es kümmert sie nicht. Wie können sie diese Doppelmoral aufrechterhalten?
Die einfache Antwort ist Rassismus. Doch es ist ein Rassismus, der das politische Medienestablishment mehr infiziert als die breite Öffentlichkeit. Ich will freilich nicht sagen, dass es keine Islamophobie gibt und dass nicht viele Menschen in der Öffentlichkeit diese Narrative glauben. Doch die Besonderheit dieses Konflikts in jedem einzelnen Land, insbesondere in Europa, ist, dass alle Umfragen zeigen, dass dort, wo die Menschen eine klare Meinung und einen klaren Überblick haben, diese eher mit den Palästinensern sympathisieren als mit den Israelis. Und diese Zahlen ändern sich sehr schnell, die ablehnende Haltung gegenüber Israel wird zunehmend negativer. Wenn man westlichen Politikern zuhört und die westlichen Medien verfolgt, hat man allerdings nicht diesen Eindruck. Hier in Großbritannien ist es schon schrecklich. Aber ich weiß, ihr armen Schweine, in Deutschland ist es noch schlimmer. (lacht) Deutschland hört sich absolut schrecklich an.
Ja, dem kann man nur zustimmen. Könnten Sie noch etwas mehr zur Rolle der westlichen Mainstream-Medien und ihrer Berichterstattung über Gaza sagen?
Das ist ziemlich klar. Es gibt eine enorme Einschüchterung. Wenn ich versuche, Leute davon zu überzeugen, unseren Film zu sehen oder darüber zu berichten, kann man die Angst richtig riechen. Man muss vorsichtig sein mit der Sprache, die man benutzt, die Israel-Lobby ist sehr mächtig. Das ist sie einfach. Und es gibt dort all die üblichen Verdächtigen, die ihre ganz eigenen Gründe haben, verschiedene Gruppen anzugreifen. Und all die schamlos islamophoben Gruppen, die natürlich auf den Zug aufspringen. Es gibt also eine ganze Reihe von Berichterstattung, die einfach direkt die israelische Propaganda nachplappert. Häufiger wird wie gesagt jedoch versucht, die Lage als kompliziert darzustellen. Wenn Sie ein kluger Zionist sind, wissen Sie, dass es derzeit ziemlich schwierig ist, die Menschen auf die Seite Israels zu bringen, wenn man bedenkt, was Israel anstellt. Doch das Hauptziel ist es, Staub aufzuwirbeln und die Dinge so kompliziert wie möglich darzustellen.
Vor allem wollen sie, dass die Menschen die Dinge nicht mehr so sehen wie noch in den 1980er Jahren, als es in der höflichen liberalen Gesellschaft als selbstverständlich galt, auf welcher Seite man stand und auf welcher nicht (zu Zeiten Ära der Apartheid in Südafrika, Anm. d. Red.). Was sie vor allem vermeiden wollen, ist eine Situation, in der Israel eine Paria-Nation ist und der Zionismus als das gesehen wird, was er ist: ein Apartheidsystem, so wie auch das Apartheidsystem in Südafrika als solches gesehen wurde. Dabei hat man natürlich die äußerst wichtige Waffe, Antizionismus als Antisemitismus zu definieren. Und diese äußerst effektive Waffe können sie zur eigenen Verteidigung einsetzen. Es ist eine so mächtige Waffe, gerade weil die immer mitschwingende Erinnerung des Antisemitismus in der europäischen Geschichte und natürlich vor allem in der deutschen Geschichte so entsetzlich ist, dass, sobald der Begriff Antisemitismus erwähnt wird, viele liberale Menschen sofort ihr Gehirn ausschalten. Wer will bei dieser Debatte schon auf der falschen Seite stehen?
Vielleicht haben Sie die jüngsten Nachrichten über Deutschland gehört, dass der Bundestag, unser Parlament, eine Resolution „zum Schutz des jüdischen Lebens“ verabschiedet hat. Sie ist nicht bindend, aber sie ist eine Willensbekundung des Parlaments. Sie gibt vor, jüdisches Leben schützen zu wollen, doch im Grunde ist es lediglich ein äußerst repressives Regelwerk. Sie können jetzt Menschen leichter abschieben, wenn sie sich nicht in einer ihren Maßstäben genügenden Weise zum Staat Israel bekennen. Sie können Kultureinrichtungen oder wissenschaftlichen Projekten die Finanzierung streichen, wenn sie sich ihrer Definition nach antisemitisch äußern, was selbstredend der IHRA-Definition entspricht, auf die sich die Resolution gründet. Wir halten diese Resolution für sehr gefährlich. Können Sie etwas mehr spezifisch zum deutschen Kontext von all dem sagen?
Deutschland leidet unter all den Dingen, über die wir gesprochen haben, und noch mehr, natürlich wegen der Besonderheiten der deutschen Geschichte. Und mir war bis vor kurzem überhaupt nicht bewusst, bis ich in Berlin war, wie groß die palästinensische Bevölkerung in Deutschland ist. Es muss schrecklich für sie sein. Sie werden mit Gewalt zum Schweigen gebracht. Sie müssen mit ansehen, wie ihre Cousins, ihre Verwandten und wer nicht alles abgeschlachtet werden, und sobald sie dagegen protestieren, werden sie als Rassisten hingestellt. Und es gibt auch diese Besonderheit in Deutschland, wo, gerade weil jüdische Menschen so aktiv in der antizionistischen Bewegung, in der pro-palästinensischen Bewegung sind, so viele, vor allem junge jüdische Menschen, so entsetzt darüber sind, dass all das in ihrem Namen geschieht. In all den Gruppen im Westen, die sich solidarisch mit den Palästinensern zeigen, sind Juden deutlich überrepräsentiert.
Das bedeutet, dass sich diese Gesetze perverserweise besonders häufig gegen Juden richten. Wir konnten das auch hier in der britischen Labour-Partei sehr dramatisch sehen, wo ebenfalls jüdische Menschen deutlich überproportional wegen Antisemitismus diszipliniert werden als nicht-jüdische Menschen. Bei Journalisten sollte das eigentlich ein paar Alarmglocken aufschrillen lassen, doch das tut es anscheinend nicht.
Wenn man alle Veranstaltungen, Vorträge und Reden in Deutschland zusammenzählt, die wegen Antisemitismusvorwürfen oder wegen der Meinung von Menschen zu Israel und Gaza gecancelt wurden, dann sind sehr viele davon jüdisch. Und sie behaupten, das sei Kampf gegen Antisemitismus. Doch noch einmal kurz zurück zu Gaza. Seit mehr als einem Monat gibt es eine massive Kampagne im Norden der Enklave und obendrein hat die Knesset gerade effektiv die UNRWA verboten. Können Sie diese beiden Dinge miteinander verknüpfen?
Die Tatsache, dass die UNRWA für die Palästinenser zuständig ist, ist für die Israelis problematisch, wenn sie die Bevölkerung aushungern und dazu drängen wollen, das Land zu verlassen. Aber es gibt noch etwas Grundsätzlicheres. Die Tatsache, dass ein großer Teil der palästinensischen Bevölkerung unter dem Schutz der UNRWA steht, ist eine Anerkennung der Tatsache, dass die Palästinenser Flüchtlinge sind und ihre ursprüngliche Heimat daher Palästina, das heutige Israel ist. Dies ist natürlich eine theoretische Untermauerung des palästinensischen Kampfes, die die Israelis nur allzu gerne beseitigen würden. Was nun den Norden Gazas betrifft, so ist es erstaunlich, dass dies nicht jeden Tag der Aufmacher in den Abendnachrichten ist. Seit Monaten, vor allem aber im letzten Monat, ist es unübersehbar, dass das Ziel der Israelis ist, das Gebiet nördlich des Wadi Gaza, des Gaza-Flusses, vollständig zu räumen. Und die Medien, sofern sie überhaupt darüber berichten, tun dies nach wie vor nach dem Motto: ‚Oh, das sagen die Palästinenser, aber das sagen die Israelis, hey, wer weiß?‘ Es ist eindeutig, dass im Norden ein brutaler Prozess ethnischer Säuberung im Gange ist. Das weiterhin zu verschleiern und so zu tun, als sei es nicht offensichtlich, bedeutet, sich mitschuldig zu machen.
Lassen Sie uns mit einer eher persönlichen Note schließen. Wie hat sich die Arbeit an diesem Dokumentarfilm auf Sie als Profi, als Filmemacher, als Mensch ausgewirkt?
Das ist schwierig. Ich werde nicht so tun, als ob es das nicht wäre. Es war auch schwierig, all das Material vom 7. Oktober anzusehen (für Sanders‘ vorherigen Film, Anm. d. Red.). Da war viel Schreckliches dabei. Und dann das letzte Jahr, nein … es ist sehr schwierig. Man kann sich nur eine gewisse Anzahl toter Kinder anschauen. Außerdem glaube ich, dass es psychologisch hilfreich ist, ein Ventil für seine Wut und Empörung zu haben und das Gefühl, dass man sie konstruktiv kanalisieren kann. Ich glaube, hier zu sitzen und meinen Kopf gegen die Wand zu schlagen, was ja die Alternative wäre, wäre noch schlimmer.
Richard Sanders ist ein preisgekrönter Filmproduzent, der sich auf Geschichte, Nachrichten und aktuelle Themen spezialisiert hat. Er hat mehr als 50 Filme gedreht, meist für Channel 4, und hat außerdem für eine Reihe von Publikationen geschrieben, unter anderem für den Daily Telegraph und den Boston Globe, und ist außerdem Autor von zwei Geschichtsbüchern.