Ein Pfad zur Gerechtigkeit für Syrien

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Assad ist endlich weg. Nach dem Zusammenbruch des Baath-Regimes und mehr als 50 Jahren Diktatur stehen die Syrerinnen und Syrer nun vor einer ungewissen Zukunft, doch sie verdienen endlich einen Pfad zu echter Gerechtigkeit. Kritische Analyse, Einigkeit und die Weigerung, die Unterdrückung der Vergangenheit zu romantisieren, sind für den Aufbau einer gerechten und inklusiven Gesellschaft unerlässlich.

Von Nour Kanj und Haya Kanj

Innerhalb weniger Tage haben verschiedene bewaffnete Gruppen und islamistische Milizen weite Teile des Westens Syriens überrannt. Die Nachricht wurde am Sonntagmorgen bekannt: Baschar al-Assad ist gestürzt. Und am Abend bestätigten die russischen Behörden, dass Moskau ihm Asyl gewährt hat – „aus humanitären Gründen“. In syrischen Städten und auf der ganzen Welt feierten Syrer den Sturz der Assad-Dynastie nach Jahrzehnten brutaler Herrschaft. Hoffnung liegt in der Luft, doch die Zukunft unseres Heimatlandes ist mehr als ungewiss. Entscheidend ist, ob es den rivalisierenden Fraktionen gelingt, eine Einigung zum Wohle der syrischen Bevölkerung zu erzielen. Ebenso wichtig ist es, den regionalen Kontext der Revolution zu berücksichtigen.

Das vergangene Jahr war geprägt von verheerenden Ereignissen im Nahen Osten. Die Welt sah zu, wie palästinensische und libanesische Zivilisten unter Massakern und Vertreibung durch das israelische Militär zu leiden hatten. Der brutale Völkermord an der Bevölkerung Gazas ist eines der schrecklichsten Beispiele für moralisches Versagen in der modernen Geschichte. Nun hat sich das weltpolitische Rampenlicht auf Syrien verlagert. Und regionale Möchtegern-Hegemone nutzen den chaotischen und vagen Moment für ihre eigenen strategischen Ziele aus: Die Türkei und ihre verbündeten Milizen bombardieren kurdische Städte in Nordsyrien. Israel hat zwei weitere Bataillone auf den illegal besetzten Golan entsandt, ist zum ersten Mal seit 50 Jahren mit Panzern über die Demarkationslinie nach Syrien vorgedrungen und hat dort weitere Gebiete in der entmilitarisierten Pufferzone sowie die syrische Seite des Berges Hermon an der libanesischen Grenze besetzt.

Die derzeitige Lage in Syrien ist außerordentlich komplex, was es schwierig macht, sie zu verstehen und klar zu erklären. Noch vor wenigen Tagen hätte sich niemand das Szenario eines zusammenbrechenden Assad-Regimes vorstellen können. Wir können nicht den Anspruch erheben, eine endgültige Analyse der politischen Dynamik in Syrien zu liefern, auch ist es immer schwieriger geworden, sich eine kohärente Meinung zu bilden. Doch wir sind überzeugt, dass es wichtig ist, die politische Szene in Syrien weiterhin zu hinterfragen und zu analysieren. Es ist entscheidend, die Lügen jeder Partei aufzudecken, die versucht, ihre politische Agenda in vereinfachten Kategorien von Gut und Böse darzustellen, oft mit dem Ziel, die Öffentlichkeit zu manipulieren.

In den letzten Jahren waren weder das syrische Regime noch die Opposition in der Lage, ein überzeugendes Narrativ zu präsentieren. Präsident Assad selbst hat sich als Verteidiger Syriens gegen radikale islamistische Gruppen und westliche Einmischung dargestellt. Doch selbst wenn dieses Argument teilweise zutrifft, muss Assad die Verantwortung für die aktuelle Krise übernehmen. Bei politischer Führung geht es nicht nur um Macht, sondern auch um Verantwortung und Accountability. Sein Versagen, Syrien vor dem mutmaßlichen Terrorismus und ausländischer Einmischung zu schützen, legt nahe, dass er schon vor langer Zeit für jemand Fähigeren hätte zurücktreten müssen. Während das Regime stets behauptete, den Säkularismus hochzuhalten, hat es dennoch zugelassen, dass iranische radikal-religiöse Gruppen den Staat und das Militär infiltrierten und Netzwerke schufen, die nur schwer wieder zu zerschlagen sind. Ganz zu schweigen von der russischen Intervention, die zwar kulturell nicht so schädlich ist wie das iranische Eingreifen mit seinen reaktionären Ideen und religiösen Absichten, aber dennoch die syrische Souveränität erheblich untergraben hat.

Umgekehrt hat die Opposition argumentiert, dass das Assad-Regime Propaganda eingesetzt hat, um das Moment zu diskreditieren, was als säkulare und pro-demokratische Revolution für politische Freiheit und Menschenrechte begann. An dieser Behauptung ist etwas Wahres dran, insbesondere in der Anfangsphase des Aufstandes. Das Assad-Regime war für seine extreme Brutalität berüchtigt, einschließlich der Folter und Inhaftierung von allen, die auch nur daran dachten, das Regime zu kritisieren. Aber die Opposition hat es auch versäumt, eine Vision zu präsentieren, die säkularen Syrern, nicht-religiösen Muslimen, Nicht-Muslimen und insbesondere Frauen die Gewissheit gibt, dass ihre Rechte in einer Post-Assad-Regierung geschützt werden. Bedenken hinsichtlich möglicher islamistischer Maßnahmen, die in der modernen Geschichte Syriens keinen Platz im Gesetz haben, wie etwa Zwangsverschleierung, Geschlechterseparierung oder Alkoholverbote, bleiben unausgesprochen und untergraben das Vertrauen in die Fähigkeit der Opposition, Säkularismus und Inklusivität zu wahren.

Es gibt absolut keine einfache Erklärung oder Lösung für die Krise in Syrien, und es wäre irreführend, jetzt, nach dem Ende der Assad-Ära, eine solche durchzusetzen, während man sich gegenseitig die Schuld zuschiebt. Viele Menschen, insbesondere diejenigen, die direkt von Gewalt, Vertreibung oder wirtschaftlichem Zusammenbruch betroffen sind, ob sie nun Opfer der Gewalt des Regimes sind oder einer der Oppositionsgruppen angehören, die in den letzten Jahren auf der politischen Bühne Syriens aufgetaucht sind – diese Opfer mögen sich von der simplen Erzählung angezogen fühlen, dass man sich für eine Seite entscheiden muss, um sich emotional zu erleichtern. Das Fehlen eines einheitlichen und logischen Rahmens macht jedoch deutlich, wie wichtig eine kontinuierliche Analyse und kritische Hinterfragung der Entwicklungen ist. Dies ist angesichts der Komplexität und Bedeutung dieser Übergangsphase in Syrien sowie ihrer Auswirkungen auf die Region und die Welt besonders dringend. Was derzeit in Syrien geschieht, ist, so bedeutend es auch ist, nur ein kleiner Teil einer viel komplizierteren Geschichte. Und diese lässt sich in der gegenwärtigen Phase des politischen Wandels in Syrien, die von spezifischen Absprachen zwischen den zahlreichen beteiligten Parteien geprägt ist, nur schwer analysieren und klar erklären.

Eine Zeit des absoluten Chaos und der Ungewissheit ist für Syrien und seine Menschen nun fast unvermeidlich, und obwohl wir hoffen, dass sie so kurz wie nur irgendwie möglich sein wird, gibt es keine Garantie, dass sie nicht doch Jahre, viele Jahre andauern könnte. Während dieser ungewissen Zeit sollten wir einen wichtigen Begriff im Hinterkopf behalten: die „rosy retrospection“ (dt. etwa „verklärte Rückschau“). Er bezieht sich auf die psychologische Tendenz, die Vergangenheit in einem positiveren Licht zu sehen, als sie tatsächlich war. Dieses Konzept ist für die sich entwickelnde politische Situation in Syrien besonders relevant. Es könnte eine Zeit kommen, in der die Syrer die Assad-Diktatur in ihrer Nostalgie als besser in Erinnerung behalten, als sie war. Gerade dann wird es wichtig sein, sich an den Verrat des Regimes zu erinnern: den Ausverkauf der syrischen Souveränität an iranische religiöse Gruppierungen, die Folterung politischer Gefangener, den Einsatz von Waffen gegen die eigene Bevölkerung, die Vernachlässigung der Grenzsicherheit und das Versagen, der nahezu täglichen israelischen Aggression entgegenzutreten – all dies im Streben nach Machterhalt.

Es ist unwahrscheinlich, dass die Zukunft Syriens einer Utopie gleichen wird. Renommierte historische und politische Denker erinnern uns daran, dass tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen oft mit enormen, scheinbar unüberwindbaren Herausforderungen verbunden sind. Die Menschen in Syrien sollten sich daher ein klares und realistisches Bewusstsein für die Brutalität des Regimes bewahren und dabei Einigkeit, Realismus und Gerechtigkeit auf ihrem Weg in eine ungewisse Zukunft in den Vordergrund stellen. Die iranische Erfahrung – insbesondere während und nach der ‚Woman, Life, Freedom‘-Bewegung – bietet eine eindrucksvolle Lektion: Aus Frustration über die Kämpfe der Gegenwart begannen iranische Bürgerinnen und Bürger, die verzweifelt versuchten, dem radikalen Regime zu entkommen, nach und nach den Sohn des Schahs zu tolerieren. Dabei übersahen sie die Brutalität und Korruption, die mit seiner Familie verbunden war. Diese Romantisierung vergangener Regime aus Enttäuschung über die Gegenwart birgt die Gefahr, den Kreislauf der Unterdrückung zu perpetuieren.

Für Syrien ist jetzt die Zeit gekommen, wachsam und realistisch zu bleiben. Es gilt, der Versuchung zu widerstehen, Partei zu ergreifen oder sich bei politischen Entscheidungen von Hass oder Rache leiten zu lassen. Stattdessen müssen wir ein klares und realistisches Bild des heutigen Syriens bewahren, während wir uns den unvermeidlichen Herausforderungen der Zukunft stellen.

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