Seit über einem Jahr bombardiert Israel Gaza und immer häufiger auch palästinensische Städte im Westjordanland. In Deutschland wird Israel trotz des tödlichen Krieges von vielen Politikern nicht kritisiert, sondern verteidigt. Dies wird mit der deutschen Staatsräson begründet. Wir haben über die Staatsräson und die deutsche Israelpolitik mit Dr. Daniel Marwecki, Autor des Buches „Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson„, gesprochen.
Etos.media: Du hast vor knapp einem Jahr ein Buch über die Staatsräson geschrieben. Was war der Anlass, und wie beurteilst du heute die Debatte?
Dr. Daniel Marwecki: Das Buch war als Aufklärungsbeitrag gedacht. Es ging nicht darum, Positionen zu beziehen oder bei den üblichen Debatten in Deutschland mitzumachen. Eher ging es darum, zu verstehen, worauf sich die bekannten Diskurse in Deutschland gründen und wie die identitär aufgeladene, aber moralisch widersprüchliche Politik historisch zu verstehen ist.
Natürlich finde ich schön, dass das Buch eine gewisse Aufmerksamkeit bekommen hat, die aber auch dem Krieg geschuldet ist. Ich bin aber gescheitert. Denn eher habe ich das Gefühl, dass die Realitätsverweigerung bei vielen größer statt kleiner geworden ist. Deswegen bin ich auch skeptisch, was das Gespräch mit den politisch Verantwortlichen angeht. Die Fakten liegen auf dem Tisch, wer wissen will, weiß doch längst um die Kriegsverbrechen, die Zerstörung Gazas, die ethnische Säuberung im Norden. Entweder wird also die Wahrheit gescheut, oder man ist mit ihr einverstanden. Abseits der Öffentlichkeit, auf Lesungen oder im Alltag, ist das anders.
Etos.media: Kannst du das ausführen?
Dr. Daniel Marwecki: Man weiß, was in Gaza geschieht, versucht aber trotzdem, dies noch irgendwie moralisch zu rechtfertigen oder gar als Lehre aus der Vergangenheit zu verkaufen. Wobei viele Menschen in Deutschland eher erkennen, wie die Situation ist und sagen, dass man keine Waffen an Israel liefern sollte und es einen Waffenstillstand braucht.
Etos.media: Dein Buch ist nach dem 07.10. erschienen, wurde aber vorher geschrieben. Hast du den Eindruck, dass sich der Begriff Staatsräson in dieser Zeit verändert hat?
Dr. Daniel Marwecki: Du erinnerst dich: Der Begriff von der Staatsräson kam prominent 2008 in die Welt, als Angela Merkel in der Knesset sagte, dass die Sicherheit Israels teil der deutschen Staatsräson sei. Damals war unklar, was damit genau gemeint sein soll, bis auf die berühmten U-Boot Lieferungen an Israel. Wenn man sich dem Begriff aber einmal konzeptionell nähert, erscheint er im Nachhinein fast schon als prophetisch. Unter Staatsräson fällt nämlich all das, was ein Staat tut, um sich zu erhalten, sich zu reproduzieren. Sprich: Kriege, Aufstandsbekämpfungen und die Abwehr existenziell verstandener Bedrohungen. Jeder Staat hat eine Staatsräson, denn jeder Staat tut zur Not Dinge, die moralisch nicht zu rechtfertigen sind, um seine Existenz zu sichern. Nur Deutschland hat zwei “Staatsräsons”, wenn man so will, weil es keinen anderen Staat gibt, der sagt: „Die Staatsräson eines anderen Staates ist auch meine eigene.“
Was das seit dem 7. Oktober konkret bedeutet, sehen wir ja. Es heißt Waffenlieferungen. Es heißt Absicherung Israels vor dem IGH, also Einspruch gegen die Völkermordklage. Seit einem Jahr wird der Begriff also mit Leben gefüllt. Dennoch gibt es Interpretationsspielräume dafür, wie er mit Leben gefüllt werden kann. Man könnte auch argumentieren, dass ein Waffenstillstand und eine Zweistaatenlösung “Staatsräson” sind. Für manche deutsche Politiker bedeutet Staatsräson hingegen, zur Not Kampfflieger Richtung Teheran zu schicken und alles zu decken, was Israel in Gaza tut. Es gibt also eine Vielzahl an Möglichkeiten, diesen Begriff auszudeuten.
Etos.media: Du hast gerade gesagt, dass eine andere Interpretation der Staatsräson möglich wäre, so wie sie teilweise im linksliberalen Spektrum in Israel artikuliert wird. Dort wird immer wieder gesagt, dass es nur eine Zukunft für beide Völker gemeinsam gibt und keine Zukunft mit Netanjahu. Warum wird dieser Diskurs, der in Israel lebendig ist, in Deutschland nicht antizipiert und diskutiert?
Dr. Daniel Marwecki: Das ist eine gute Frage. Ich glaube, es gibt in Israel auch eine Mehrheit für den Geiseldeal und einen Waffenstillstand. Es hat mehrere Gründe, dass sich die deutsche Politik gar nicht so sehr für die israelische Wirklichkeit interessiert. Das liberale Deutschland hat gewissermaßen ein konstruiertes Israelbild: Es ist das Bild von Amos Oz und David Grossman, die im Café in Tel Aviv Bücher schreiben. Das hat mit der in Teilen rechtsextremen bis faschistischen Regierung nichts zu tun – es ist ein Wunschbild.
Es gibt eigentlich nur sehr wenige Möglichkeiten, wie dieser Konflikt ausgehen kann: zwei Gruppen, zwei Nationalismen, und entweder verdrängt die eine Gruppe die andere oder sie leben irgendwie zusammen. In der Realität sehen wir die Praxis der Verdrängung, die sowohl von der Hamas als auch der israelischen Regierung vertreten wird, mit ungleichen Mitteln. Das aber widerspricht der deutschen Bindung an das Völkerrecht oder der sogenannten wertegeleiteten Außenpolitik. Von daher müsste man sich wesentlich stärker mit der Realität auch in Israel auseinandersetzen. Aber die Debatte ist zum guten Teil projektionsgetrieben und hat wenig mit Israel oder Palästina, dafür viel mit Deutschland zu tun.
Etos.media: Du hast es gerade sehr schön zusammengefasst, dass sich das Bild Deutschlands von Israel nicht an dem orientiert, was menschenrechtlich geboten ist, noch nicht einmal an dem, was die Mehrheit der israelischen Bevölkerung will, nämlich den Geiseldeal und den Waffenstillstand, sondern an der israelischen Regierung – unabhängig davon, ob diese im Widerspruch zur sogenannten „wertegeleiteten Außenpolitik“ steht. Dass Deutschland die Politik Israels auch moralisch verteidigt, ist historisch nicht immer so gewesen. In deinem Buch beschreibst du die Adenauer-Ära. Wie war es damals?
Dr. Daniel Marwecki: In der Anfangszeit ging es um einen ziemlich klar benannten Deal. Das englische Buch heißt ja „Whitewashing and State Building“. Ich habe keinen guten deutschen Titel dafür gefunden. Für Deutschland ging es um die Reinwaschung der Sünden der Vergangenheit, für Israel hingegen darum, den Staat aufzubauen. Man muss sich die damalige Situation immer wieder verdeutlichen: Deutschland war Grenzstaat im Kalten Krieg, und deswegen musste es schnell wieder aufgebaut werden. Allerdings blieben die Altlasten der deutschen Vergangenheit erhalten. Was man brauchte, war also eine kostengünstige, effektive Art und Weise, sich ein Stück weit von der Vergangenheit zu lösen.
srael war arm und bestand zu einem großen Teil aus Geflüchteten und Überlebenden. Es brauchte Mittel, um das Land zu industrialisieren und aufzubauen. Niemand in Israel wollte Kontakte mit Deutschland, aber Deutschland war das einzige Land, das in größerem Maßstab bereit war, Industriehilfe, Waffenhilfe und Finanzhilfe zu leisten. Das ist der gesamte Grund für die israelische Hinwendung zu Deutschland, und das ist der Deal, der am Anfang stand.
In diesem Kontext ist auch Adenauers Antwort zu verstehen, die er nach seiner Amtszeit im deutschen Fernsehen auf die Frage zur Ursache der deutschen Zusammenarbeit mit Israel gab. Adenauer sprach davon, dass man “wieder Ansehen unter den Völkern der Erde gewinnen” musste und dass man “die Macht der Juden, auch heute noch” nicht unterschätzen dürfe.
Am Anfang der Israel-Politik steht also ein Rehabilitationsbestreben, vermischt mit einer klassisch antisemitischen Sicht auf vermeintlich jüdische Macht. Diese Haltung zieht sich bis in die 70er Jahre. Der Tausch, der am Anfang stand, ist ein besonderer, weil nur diese beiden Staaten einander die symbolischen und materiellen Mittel für den gegenseitigen Staatsaufbau geben konnten. Westdeutschland konnte Aufbauhilfe leisten, und Israel konnte – gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung im Land – die Hand gegenüber Deutschland ausstrecken. Das heißt: Macht war wichtiger als Moral. Auf beiden Seiten.
Etos.media: Du hast den Deal beschrieben. Der Nutzen aus deutscher Sicht ist relativ klar, aber die Aufbauhilfen aus Deutschland für Israel waren mit 3,45 Milliarden natürlich nicht klein, aber auch nicht so groß – vor allem, da ein wichtiger Teil in Waren von deutschen Unternehmen ausgezahlt wurde, womit sich Deutschland selbst gestärkt hat. War das aus israelischer Sicht zur damaligen Zeit überhaupt wert?
Dr. Daniel Marwecki: Das ist eine spannende Diskussion, dazu sollte man Tom Segev lesen. Die Summe klingt zunächst nach wenig, aber man muss sich die israelische Situation verdeutlichen. Es war ein Agrarland, das viele Überlebende aus Europa sowie Einwanderer aus der arabischen Welt zu versorgen hatte. Gleichzeitig war der Krieg von 1948 zwar gewonnen worden, aber es gab keinen Frieden, schon gar nicht mit der palästinensischen Bevölkerung, die entweder geflohen oder vertrieben worden war, und nicht mehr auf ihr Land zurückdurfte.
Es gab in diesem Kontext, wie erwähnt, drei Formen der Hilfe: zum einen die Industriehilfe über das Reparationsabkommen von 1952, zum anderen die danach einsetzende Waffenhilfe – vor ’67 waren Deutschland und Frankreich die wichtigsten Waffenlieferanten, noch vor den USA. Dazu kam dann noch großzügige finanzielle Unterstützung. Was diesen Punkt angeht, wird in der Wissenschaft schon lange spekuliert, dass die Bundesrepublik das israelische Atomprogramm mitfinanziert hat.
Etos.media: Du hast den Deal beschrieben: Deutschland bekommt Anerkennung, Israel Geld und militärische Unterstützung. Der zweite Teil ist heute noch gültig, der erste Teil hat sich für Deutschland jedoch ins Gegenteil verkehrt. Der deutsche Ruf hat nicht nur in der arabischen Welt, sondern im gesamten globalen Süden und auch in großen Teilen des Westens durch die bedingungslose Unterstützung von Israels Kriegsverbrechen massiv gelitten. Würdest du sagen, dass dieser Teil des Deals heute durch eine moralische Abgeltung in Deutschland ersetzt wird?
Dr. Daniel Marwecki: Es stimmt: Die frühe Israelpolitik war eine Investition in den eigenen Ruf, vor allem innerhalb der westlichen Welt. Auch, weil die Welt weniger westlich wird, ändert sich die Wahrnehmung von der Bundesrepublik gerade enorm.
Ich würde das Wort „Moral“ in diesem Kontext immer nur sparsam verwenden. Ich denke, „Identität“ ist das bessere Wort. Es gab drei Phasen der Israelpolitik: Die erste war „Whitewashing and State Building“, die zweite war die Normalisierung, bei der es auch um Öl-Interessen im arabischen Raum ging. Diese Phase endet etwa mit der Wiedervereinigung. Danach kam die letzte Phase, in der es erneut darum ging, zu zeigen, dass man zum Westen gehört. Dazu gehörte dann auch ein gutes Verhältnis zu Israel. Dabei wird erst in dieser Phase gesamtgesellschaftlich die Aufarbeitung des Holocausts zentral.
Das ging einher mit einem seltsamen Stolz auf die Aufarbeitung der deutschen Geschichte – einer Aufarbeitung, die sich auch in besonderer Nähe zu Israel ausdrückt. Ich schreibe zu Beginn des Buches, dass es in Deutschland eine Gleichung gibt: Je enger die Beziehungen zu Israel, desto größer die Distanz zur Vergangenheit. Diese Gleichung kam mit Adenauer in die Welt, unabhängig davon, wie stark Antisemitismus und Rassismus in der Gesellschaft verankert sind. Diese Gleichung ist heute eher stärker als schwächer geworden. Die Israelpolitik ist somit nicht nur Realpolitik oder Geopolitik, sondern auch eine Form des Nationalismus. Diese eher von oben herab konstruierte Identität findet aber nur teilweise gesellschaftliche Akzeptanz, was wiederum ein anderes Thema ist. Im Endeffekt sehen wir aber auch hier die Schwierigkeit, einen deutschen Nationalismus nach Auschwitz zu konstruieren – gerade wenn er sich auf so widersprüchliche Weise mit Außenpolitik verbindet.
Etos.media: Danke dir für das Gespräch.