Die kurdische Befreiungsbewegung: zwischen Selbstauflösung und Aufbruch

Kurdishstruggle, CC BY 2.0, via Flickr

Von bewaffnetem Widerstand zur demokratischen Gesellschaft – Abdullah Öcalans Aufruf und die neue Phase kurdischer Politik

Am 27. Februar 2025 trat Abdullah Öcalan, der seit 1999 auf der türkischen Gefängnisinsel Imralı inhaftiert ist, mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit, der einen fundamentalen Wendepunkt in der Geschichte der kurdischen Befreiungsbewegung markiert. Öcalan forderte die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) auf, sich organisatorisch aufzulösen und die bewaffnete Strategie als Mittel des politischen Kampfes endgültig zu beenden. Wenige Wochen später, am 12. Mai 2025, bestätigte der Kongress der PKK im Qendîl-Gebirge in Südkurdistan (Nordirak) diese historische Entscheidung.

Damit endet nicht nur ein Kapitel in der kurdischen Freiheitsbewegung – gleichzeitig beginnt ein neuer Prozess. Die Verantwortung des kurdischen Freiheitskampfes wird in Zukunft vollständig der gesellschaftlichen, demokratischen Organisierung der kurdischen Bevölkerung übertragen. Die PKK, die jahrzehntelang den Widerstand gegen die Assimilationspolitik der Türkei trug, erklärt sich in ihrer bisherigen Form für nicht länger notwendig. Sie habe ihre historische Mission, die kurdische Frage ins Zentrum öffentlicher Debatten zu rücken, erfüllt.

Der politische Rahmen

Öcalans Aufruf fällt nicht in ein politisches Vakuum. Seit Jahren liegen die Friedensverhandlungen mit der türkischen Regierung brach. Der letzte ernsthafte Versuch eines Dialogs endete 2015. Nun wurde der Gedanke eines möglichen Friedensprozesses erneut angestoßen. Danach herrschte zehn Jahre brutaler Krieg in Kurdistan. Devlet Bahçeli, Vorsitzender der ultranationalistischen MHP und bis dahin einer der vehementesten Befürworter des Krieges in Kurdistan, überraschte Ende Oktober letzten Jahres mit einem Vorstoß für einen Frieden. Er schlug sogar eine mögliche Rede Öcalans im Parlament vor. Bahçelis MHP ist nicht nur der kleine Partner der AKP-Regierung unter Erdoğan, sondern repräsentiert auch eine strategische Machtclique innerhalb des Staatsapparats.

Anlass für Bahçelis Worte dürfte die veränderte geopolitische Lage im Mittleren Osten sein. Der türkische Staat fürchtet im Zuge der regionalen Umbrüche seit dem 7. Oktober nicht nur um seine geostrategische Bedeutung. Es gibt auch Stimmen, die sagen, dass diese Umbrüche neben dem Iran auch die Türkei betreffen könnten. In diesem Zusammenhang wird die ungelöste kurdische Frage als strategischer Instabilitätsfaktor gesehen. Nachdem die Koalition aus AKP und MHP in den letzten zehn Jahren damit gescheitert ist, diesen Instabilitätsfaktor mit militärischen Mitteln zu „lösen”, setzt sie nun offenbar auf Gespräche und Verhandlungen.

In einem eklatanten Kontrast dazu steht die fortbestehende Kriminalisierung kurdischer Identität in der Türkei, die bis heute trotz der Friedensverhandlungen in Form repressiver Gesetze und staatlicher Gewalt aufrechterhalten wird. Solange das türkische Parlament die rechtlichen Grundlagen für eine demokratische Koexistenz nicht schafft, bleibt der Friedensprozess einseitig und gefährdet. Die PKK und Abdullah Öcalan haben zwar ihre Bereitschaft unter Beweis gestellt, dass sie diesen jahrzehntelangen Konflikt nicht durch die Einmischung externer Kräfte, sondern eben direkt mit der türkischen Regierung lösen will. Die kurdische Bewegung fordert eine neue politische Geisteshaltung, die auf Anerkennung, Gleichheit und Selbstbestimmung basiert. Dies steht im klaren Gegensatz zur bisherigen Staatsdoktrin der Türkei, die unter dem Motto „eine Flagge, eine Sprache, eine Nation, ein Staat“ steht. Diese Doktrin ist verfassungsrechtlich tief verankert, insbesondere in den ersten vier Artikeln der türkischen Verfassung. Zwar spricht Präsident Erdoğan immer wieder von „zivilen Verfassungsreformen“, doch gleichzeitig betont er, dass gerade diese vier zentralen Artikel nicht zur Disposition stünden.

Militärische Realität: Angriffe und Zerstörung trotz Friedensgesprächen

Während also von höchster politischer Ebene aus zumindest vorsichtig Signale einer neuen Gesprächsbereitschaft gesendet werden, setzt sich auf militärischer Ebene eine aggressive Kontinuität fort. Besonders angespannt ist die Situation entlang der irakisch-türkischen Grenzregionen in Südkurdistan. Dort setzt die Türkei ihre völkerrechtswidrigen Angriffe auf Gebiete fort, die von den Guerillaeinheiten der PKK kontrolliert werden. Dabei kamen laut Angaben der kurdischen Volksverteidigungskräfte (HPG) mehrere Guerillakräfte ums Leben. Zudem setzt die Türkei verbotene und geächtete Waffen ein. In der Erklärung der HPG vom 12. Juni heißt es weiter: „Wir fordern auch alle Menschenrechtsorganisationen, die sich gegen den Einsatz verbotener Waffen aussprechen, sowie alle demokratischen Friedenskreise auf, Maßnahmen zu ergreifen, um den türkischen Staat daran zu hindern, in Metîna und in der westlichen Zap Region verbotene Waffen auf unmenschliche Weise einzusetzen.“ Sollten die Angriffe nicht gestoppt werden, werde die Guerilla zu einer aktiven Haltung übergehen. Ein Waffenstillstand wäre dann hinfällig, von einem Ende des bewaffneten Kampfes ganz zu schweigen.

Ebenfalls problematisch ist die anhaltende Kooperation der Türkei mit islamistischen Milizen wie der sogenannten Syrischen Nationalarmee (SNA), die weite Teile Nordsyriens kontrollieren. Öffentliche Räume sind in diesen Gebieten verwaist, Schulen bleiben geschlossen. Frauen, einst zentrale Akteurinnen beim Aufbau basisdemokratischer Strukturen, werden zunehmend aus dem gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben verdrängt. Angst, Schweigen und kollektives Misstrauen prägen das tägliche Leben. In dieser Realität wirkt der Begriff „Frieden“ nicht nur hohl, sondern beinahe zynisch.

Ein Bedrohungsszenario, das nicht nur für die Selbstverwaltung, sondern auch für religiöse und ethnische Minderheiten eine existentielle Gefahr bedeutet. Gerade in den ländlichen Gebieten östlich des Euphrat wurden in den vergangenen Monaten erneut gezielte Anschläge auf Sicherheitskräfte und zivile Einrichtungen verübt.

Es überrascht daher nicht, dass die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), die Verteidigungseinheiten der Autonomieverwaltung, von Öcalans Aufruf zur Selbstauflösung nicht umfasst werden. In einer offiziellen Stellungnahme betont die QSD, dass sie weiterhin zur Selbstverteidigung der Region aus realer militärischer Notwendigkeit verpflichtet seien.

Die Türkei wiederum fordert in internationalen Verhandlungen regelmäßig die Entwaffnung der QSD. Dies ist eine Forderung, die den Sicherheitsinteressen der Menschen in Nord- und Ostsyrien diametral entgegensteht. Die QSD sind in diesen Regionen oft die einzige verbliebene Schutzmacht. Mazlum Abdi, der Kommandant der QSD, betont, dass die Lage in Nord- und Ostsyrien eine andere sei als die in der Türkei, und dem müsse strategisch wie ethisch Rechnung getragen werden.

Trotz allem lebt in der Region eine beharrliche Hoffnung weiter. Die Vision einer Gesellschaft, die auf Freiheit, Gleichheit und Selbstverwaltung gründet, bleibt lebendig. Diese Hoffnung steht im Widerspruch zur Vorstellung, man könne durch militärische Gewalt ein kollektives Streben nach Basisdemokratie und einer pluralistischen Gesellschaft dauerhaft brechen.

Eine strategische Neuausrichtung

Die Entscheidung zur Selbstauflösung der PKK ist nicht nur mit geopolitischen Veränderungen zu begründen. Sie ist Ergebnis jahrelanger Diskussionen innerhalb der Bewegung. In einem intensiven Austausch vor der Erklärung Ende Februar entstand ein Konzept, das auf die Stärke der Gesellschaft statt auf zentrale Parteistrukturen setzt.

Tatsächlich war dieser Wandel schon länger angelegt. Bereits Anfang der 2000er Jahre vollzog die PKK einen Paradigmenwechsel: weg von der Vision eines kurdischen Nationalstaats, hin zur Idee des demokratischen Konföderalismus – einer basisdemokratischen, ökologischen und feministischen Gesellschaftsordnung. Die bewaffnete Kraft sollte seither nur noch der Selbstverteidigung und dem Schutz der gesellschaftlichen Errungenschaften dienen. Als treibende Kraft im Freiheitskampf galt fortan die politische Kraft der Gesellschaft, nicht der bewaffnete Kampf.

Retrospektiv erscheinen die jetzige Selbstauflösung und der Entschluss für ein Ende des bewaffneten Kampfes folgerichtig. Die PKK hat ihre historische Mission erfüllt: Sie hat die kurdische Identität gestärkt, politische Bildung organisiert, internationale Aufmerksamkeit erzeugt. Nun ist es Zeit, dass die Gesellschaft selbst zum Subjekt des Wandels wird, insbesondere Frauen und Jugendliche sollen hierbei die Vorreiterrolle einnehmen.

Das Vakuum – Wer füllt die Lücke?

Ein solcher Schritt, der Rückzug der PKK als zentrale politische Struktur, hinterlässt eine Leerstelle. Viele Aktivist:innen, gerade in der Diaspora, fragen sich: Wer wird diese Lücke nun füllen? Die Antwort liegt in der Bewegung selbst, in ihren dezentralen Strukturen, den Frauenräten, Jugendorganisationen, Bündnissen, Kulturzentren. Die Verantwortung wird verteilt und damit die Chance auf tiefgreifende Demokratisierung von unten gestärkt.

Das zentrale Motiv lautet Basisdemokratie. Der Ruf „Vertraut nicht auf die Partei, sondern auf eure eigene Organisierung“ kehrt die jahrzehntelange Abhängigkeit vom „Zentrum“ um und verlangt viel. Doch gerade dieser Bruch könnte ermöglichen, was autoritäre Regime am meisten fürchten: eine selbstbewusste, lebendige, solidarische und pluralistische Gesellschaft.

Ein Prozess ohne Garantie – aber mit Geschichte

Die Entscheidung, sich neu zu orientieren, ist mutig und sie wurzelt in einer langen Geschichte des Widerstands, der Veränderung und der Selbstkritik. Schon 2002 hatte sich die PKK aufgelöst, nur um später festzustellen, dass dieser Schritt zu früh kam. Jetzt ist es erneut so weit, aber unter anderen politischen Bedingungen.

Ob die Türkei diese Chance nutzt, bleibt offen. Angesichts des anhaltenden Kriegsgeschehens, der repressiven Politik gegenüber der kurdischen Bevölkerung und der fortgesetzten Kriminalisierung demokratischer Akteur:innen wirkt der erklärte Friedenswille der Türkei widersprüchlich und lässt erhebliche Zweifel an seiner Ernsthaftigkeit aufkommen. Doch die ungelöste kurdische Frage macht die Türkei angreifbar – gerade vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen in der Region. Der Ultranationalist Devlet Bahçeli, der den Gesprächsprozess mit Öcalan initiierte, kommentierte den Ausbruch des Krieges zwischen Israel und dem Iran mit den Worten: „Das schlussendliche Ziel ist die Türkei!” Der Sinneswandel in Teilen des türkischen Staates ist also nicht einem plötzlichen Friedenswunsch mit der PKK geschuldet, sondern der Furcht, dass es hier nicht nur um die Zukunft der Kurd:innen, sondern um die Zukunft des Staates der Republik Türkei geht.

Es bleiben also Brüche und Widersprüche innerhalb des türkischen Staates bestehen. Der Appell an alle fortschrittlichen Kräfte und an die internationale Solidarität ist daher umso dringender: Es gilt, eine Lösung auf der Grundlage von Demokratie und Gleichberechtigung zu forcieren. Gerade jetzt braucht es Konfliktlösungen auf Grundlage demokratischer Politik und Dialog in Kurdistan und der gesamten Region. Diesen Prozess zu tragen und zu unterstützen, liegt auch an uns!

Ein Beitrag von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit

civaka-azad.org

civaka_azad auf Instagram

Dir gefällt der Artikel? Dann unterstütze doch unsere Arbeit, indem Du unseren unabhängigen Journalismus mit einer kleinen Spende per Überweisung oder Paypal stärkst. Oder indem Du Freunden, Familie, Feinden von diesem Artikel erzählst und der Freiheitsliebe auf Facebook oder Twitter folgst.

Zahlungsmethode auswählen
Persönliche Informationen

Spendensumme: 3,00€

Teilen:

Facebook
Twitter
Pinterest
LinkedIn
Freiheitsliebe Newsletter

Artikel und News direkt ins Postfach

Kein Spam, aktuell und informativ. Hinterlasse uns deine E-Mail, um regelmäßig Post von Freiheitsliebe zu erhalten.

Neuste Artikel

Abstimmung

Sollte Deutschland die Waffenlieferungen an Israel stoppen?

Ergebnis

Wird geladen ... Wird geladen ...

Dossiers

Weiterelesen

Ähnliche Artikel