„Nie wieder“ für alle – Studie offenbart: Staatsräson und bedingungslose Solidarität mit Israel wird nur von Minderheit unterstützt!

Wer sich in Deutschland für Palästina einsetzt, weiß: Die Polizei ist niemals weit. By Montecruz Foto, CC BY-SA 3.0.

Eine repräsentative Studie der Forschenden Prof. Christine Binzel und Prof. Thomas Richter offenbart ein klares Bild: Große Teile der deutschen Bevölkerung vertreten Positionen, die deutlich von der Linie der Bundesregierung abweichen, insbesondere mit Blick auf Völkerrecht, Menschenrechte und die Bewertung von Gewalt. So sehen 59 Prozent der Befragten in Gaza einen Völkermord. Auch die Konsequenzen, die die Befragten daraus ziehen, unterscheiden sich stark von der offiziellen Position. So fordern 66 Prozent einen Stopp aller Waffenlieferungen und eine Mehrheit auch ein Einfuhrverbot für Güter aus Siedlungen und den Stopp jeglicher militärischen und polizeilichen Zusammenarbeit.

Bewertung der Gewalt

Die Studie zeigt, dass die deutsche Bevölkerung Gewalt klar einordnet und dabei nicht unterscheidet, wer diese ausübt. Eine große Mehrheit von 68 Prozent ist der Auffassung, dass die Hamas und andere palästinensische Gruppen an diesem Tag Kriegsverbrechen an der israelischen Zivilbevölkerung begangen haben. Die Angriffe werden somit überwiegend als eindeutige Verletzung internationaler Normen bewertet. Gleichzeitig zeigt sich, dass die Befragten die Gewalt in Gaza ähnlich kritisch sehen: 65 Prozent vertreten die Ansicht, dass auch die israelische Armee in Gaza Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehe.

Besonders bemerkenswert ist, dass 59 Prozent der Befragten Israels Handeln als Völkermord beurteilen. Damit ist die deutsche Bevölkerung deutlich näher an den Erkenntnissen von Menschenrechtsorganisationen und Forschenden als die Mehrheit der deutschen Politik: Nur 21 Prozent sind der Meinung, dass es sich nicht um einen Völkermord handelt.

Im Juli 2024 erklärte der Internationale Gerichtshof die israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete für rechtswidrig. Die Bundesregierung reagierte zurückhaltend – die Bevölkerung weniger. Eine deutliche Mehrheit von 58 Prozent der Befragten stimmt der Einschätzung des IGH zu und bewertet die jahrzehntelange israelische Kontrolle über Gaza, das Westjordanland und Ostjerusalem als klaren Bruch des Völkerrechts. Nur 17 Prozent widersprechen dem. Fast die Hälfte der Befragten (47 Prozent) erachtet Begriffe wie „Apartheid“ oder „Kolonialismus“ als zutreffend, um die israelische Politik in Palästina zu beschreiben; 29 Prozent sind sich noch unsicher und 24 Prozent lehnen dies ab. Dass diese Worte in deutschen Debatten kaum vorkommen, scheint die Bevölkerung dabei nicht zu stören. Sie übernimmt vielmehr die Terminologie, die internationale Menschenrechtsorganisationen, viele Forschende und zahlreiche UN-Gremien verwenden.

Staatsräson? Für die meisten ein Irrweg

Kaum ein Ergebnis der Studie dürfte politisch so stark von der politischen Debatte in Deutschland abweichen wie die Ergebnisse zur sogenannten Staatsräson. Seit Jahren wird die Formel „Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson“ als unausweichlicher Grundsatz deutscher Außenpolitik genannt. Doch die Realität: Nur zehn Prozent halten diese Aussage für (völlig) richtig. Der Großteil lehnt sie ab oder weiß nicht einmal, was damit gemeint sein soll. Die Bevölkerung orientiert sich stattdessen an einem anderen Prinzip: 69 Prozent wollen eine Außenpolitik, die sich nicht von „Staatsräson“ leiten lässt, sondern von Völkerrecht und Menschenrechten, egal, wer sie verletzt. Und viele nehmen sehr wohl wahr, wenn die Bundesregierung doppelte Standards setzt: Eine klare Mehrheit hält es für widersprüchlich, in Deutschland vor Rechtsextremismus zu warnen, aber gleichzeitig eine israelische Regierung zu unterstützen, die selbst rechtsextreme Kräfte in ihren Reihen hat.

Keine Sonderstellung mehr: Klare Ablehnung bedingungsloser Unterstützung Israels

Deutlich wird die Distanz zur Politik der Bundesregierung, wenn es um konkrete Maßnahmen geht. Nur 18 Prozent der Befragten wünschen sich eine stärkere militärische Unterstützung Israels durch Deutschland. Eine breite Mehrheit lehnt Waffenexporte nach Israel ab: 66 Prozent der Befragten sprechen sich explizit dafür aus, keine weiteren Lieferungen mehr zu genehmigen. Darüber hinaus fordern 67 Prozent, dass Deutschland das völkerrechtswidrige Verhalten der israelischen Regierung klar benennen und verurteilen müsse. Die Mehrheit der Befragten geht also von der Erwartung aus, dass die Bundesregierung unabhängig von der jeweiligen Konfliktpartei völkerrechtliche Standards durchsetzen sollte. Etwa die Hälfte der Befragten möchte auch die militärische und polizeiliche Zusammenarbeit mit Israel aussetzen und befürwortet Sanktionen gegen Mitglieder der israelischen Regierung; nur knapp ein Viertel lehnt beides ab, ein Viertel ist sich unsicher. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung (53 Prozent) ist darüber hinaus für ein Einfuhrverbot für Produkte aus illegalen Siedlungen im Westjordanland. Auch allgemeine Wirtschaftssanktionen gegen Israel werden recht deutlich bewertet: Hier gibt es eine relative Mehrheit (44 Prozent) für entsprechende Maßnahmen, während nur 28 Prozent solche Sanktionen ablehnen.

Beim Meinungsbild zu Forschungskooperationen fällt das Ergebnis recht deutlich aus. Dort lehnen 40 Prozent einen pauschalen Stopp des Ausbaus der Zusammenarbeit mit israelischen Unis ab. Wenn die Unis hingegen mitverantwortlich sind für Besatzung und Menschenrechtsverbrechen, wie die Siedlerunis im Westjordanland, befürworten gar 47 Prozent einen umgehenden Abbruch der Beziehung zu diesen; nur ein Viertel lehnt dies ab.

Anerkennung Palästinas und Protest: Die Gesellschaft differenziert stärker

Die Frage nach der staatlichen Anerkennung Palästinas spaltet die Bevölkerung weniger stark als die Politik: 46 Prozent sprechen sich für eine sofortige Anerkennung aus, während 22 Prozent dagegen sind, und ein großer Anteil unentschieden bleibt. Dies zeigt, dass in der Bevölkerung eine Vielzahl von Menschen bereit ist, die völkerrechtliche Stellung Palästinas stärker in den Fokus zu rücken, auch wenn die Bundesregierung dies weiterhin ablehnt.

Besonders interessant sind die Ergebnisse zu politischen Protesten und der Frage, inwiefern Kritik an Israel als „antisemitisch“ verstanden werden sollte. Eine klare Mehrheit von 61 Prozent ist der Meinung, dass zwischen Israelkritik und Antisemitismus zwingend unterschieden werden müsse. Die oft pauschale Gleichsetzung beider Phänomene findet wenig Unterstützung (12 Prozent). Weniger als ein Viertel der Befragten hält es für „antisemitisch“ in Gaza von Genozid zu sprechen. Ein Viertel meint, die Bezeichnung „Apartheidstaat“ sei antisemitisch, knapp ein Viertel meint, der Boykott israelischer Produkte sei „antisemitisch“ und ein Fünftel ist der Auffassung, die Forderung nach Sanktionen sei „antisemitisch“, deutlich mehr lehnen die Gleichsetzung der jeweiligen Aussagen und Handlungen mit „Antisemitismus“ ab.

Nie wieder: Ein universeller Anspruch

Für 64 Prozent der Menschen bedeutet „Nie wieder“ nicht nur den Schutz von Jüdinnen und Juden, sondern ein universelles Prinzip, das allen Menschen gelten muss, auch Palästinensern. Diese Haltung steht in scharfem Kontrast zu den Auslegungen derer, die „Nie wieder“ nur auf eine Gruppe oder gar ein Land beziehen wollen. Die Mehrheit verbindet die Lehren aus dem Holocaust darüber hinaus nicht mit einer bedingungslosen Loyalität zum Staat Israel, sondern mit der Verpflichtung, überall dort hinzusehen, wo staatliche Gewalt und Menschenrechtsverletzungen stattfinden.

Die Studie zeigt unmissverständlich: Die Bevölkerung ist der Bundesregierung in Fragen von Völkerrecht, Menschenrechten und politischer Konsequenz weit voraus. Sie denkt differenzierter, urteilt klarer und fordert eine Außenpolitik, in der Menschenrechte der höchste Maßstab sind und die Konsequenzen für jene fordert, die sie brechen, unabhängig davon, um wen es sich handelt.

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