Israelische Ministerpräsidenten sprachen von Apartheid – sind das auch „Antisemiten“?

Judenfeind!
Israelhasser!
Antisemit!

Neben dem ausgesprochen positiven Feedback auf meinen jüngst erschienenen Artikel zur Apartheid in Israel waren die ablehnenden Reaktionen ebenso plump und niveaulos wie vorhersehbar. Auf Facebook meinte Markus Walder, ich sei ein „feiger Schreibtischtäter und Judenhasser“, sowie ein „Scheiss Antisemit“. Andere meinten „Lügen und Hetze“, „Blödsinn“, „Fuck the author!“, „Halten Sie Ihre unverschämte Fresse, Sie frecher Antisemit.“ Auf Der Freitag meinte D9R, Heinrich Himmler lebe in meinem Artikel weiter, und antisemitisch und Lüge sei er ohnehin.

Apartheid als notwendiges Übel?

Was all diese hasserfüllten Kommentare eint, ist die Tatsache, dass es ihnen an Einem fehlt: Substanz. Sie hangeln sich von einer Beleidigung und Diffamierung zur nächsten, ohne auch nur im Ansatz eine inhaltliche Kritik zu artikulieren. Für Letztere bin ich stets dankbar und bereit, mit jedem Menschen in einen konstruktiven Dialog zu treten – mögen sich unsere Ansichten auch noch so diametral gegenüberstehen. Ich bin auch bereit, über Beleidigungen hinwegzulesen, sollte es in der Folge zu einem ernsthaften Austausch kommen. Doch die Suche danach ist beim Thema Israel-Palästina allzu oft vergebens. Es kommen Beschönigungen der Brutalität der israelischen Besatzung, die Rechtfertigung der Apartheid als Notwendigkeit, oder der relativierende Hinweis, dass es auf Seiten der Palästinenser schließlich auch Gewalt gebe.

Einmal davon abgesehen, dass ich persönlich diese Gewalt von palästinensischer Seite vehement verurteile (geschehen etwa hier, hier, hier oder hier), ist es eine mehr als misanthropische und zynische Sichtweise, die Gewalt einer radikalen palästinensischen Minderheit für die Relativierung oder gar Rechtfertigung der jahrzehntelangen Unterdrückung der gesamten palästinensischen Zivilbevölkerung zu instrumentalisieren und als notwendiges Übel darzustellen. Doch ist dies leider allzu oft der Grundtenor. Weiterer Konsens der „Kritiker“ ist, dass der Vorwurf, Israel sei ein Apartheidstaat, einfach falsch und gelogen sei. Doch die Forderung nach erläuternden Erklärungen, was denn im Konkreten gelogen sei, laufen in der Regel ins Leere.

Erschießt den Überbringer der Nachricht.

Banksy-Graffiti auf der “Apartheid Wall” im Westjordanland. By Wall in Palestine, flickr, licensed under CC BY-SA 2.0.

Der auf Druck der israelischen und der US-Regierung bedauerlicherweise wieder zurückgezogene UN-Bericht, der im Zentrum der ganzen Diskussion steht, ist eine wissenschaftlichen Standards folgende Analyse, die ausschließlich das Völkerrecht als Maßstab kennt. Richard Falk – neben Virginia Tilley Koautor des UN-Berichts – wurde erneut zum Opfer einer globalen Verleumdungskampagne gegen seine Person. Zwei Universitäten in London waren gar so feige und cancelten nach Erscheinen des Berichts Falks lange geplante Lesetour in ihren Häusern. „Die Freiheit der Wissenschaft in Großbritannien,“ so Falk, „hat dieser Tage einen ziemlich heftigen Schlag eingesteckt.“

Falk benennt weiter klar das grundlegende Problem des Palästina-Israel-Diskurses: „Was die Diskussion über die Auswirkungen des Berichts offenlegt, ist die Weigerung Israels und seiner Unterstützer, sich auf eine vernünftige Diskussion über unsere zugegebenermaßen strittigen Schlussfolgerungen einzulassen. Stattdessen ist es besser, den Überbringer der Nachricht zu attackieren, als auf die Nachricht selber zu reagieren.“

Obwohl der Falk/Tilley-Bericht in seiner Analysetiefe und Klarheit in der Tat bahnbrechend ist, so ist die eigentliche Botschaft – Israel ist ein Apartheidstaat – keineswegs neu und wurde von unzähligen hochangesehenen, darunter gar vielen israelischen, politischen Persönlichkeiten über die Jahrzehnte so oder so ähnlich geäußert, was Mehdi Hasan von The Intercept zur Frage verleitet: „Hochrangige Israelis haben vor Apartheid gewarnt, warum jetzt also dieser Aufschrei wegen eines UN-Berichts?“

Israel ist ein Apartheidstaat – im politischen Mainstream angekommen

Der Staatsgründer und erster Ministerpräsident Israels, David Ben-Gurion, sagte kurz nach dem Sechstagekrieg 1967, in dem Israel die syrischen Golanhöhen, die ägyptische Sinai-Halbinsel, sowie das Westjordanland, den Gazastreifen und Ost-Jerusalem besetzte, im israelischen Radio: „Israel … muss so schnell wie möglich die [besetzten] Gebiete und ihre arabische Bevölkerung loswerden. Wenn nicht, wird Israel bald ein Apartheidstaat werden.“

Der zweifache israelische Ministerpräsident und Friedensnobelpreisträger Jitzchak Rabin äußerte sich 1976 wie folgt: „Ich glaube nicht, dass es möglich ist, eineinhalb Millionen Araber innerhalb eines Jüdischen Staats langfristig zu beherrschen, wenn wir kein Apartheidstaat werden wollen.“

Der ehemalige israelische Ministerpräsident und israelische General Ehud Barak erklärte 2010: „Wenn dieser Block von Millionen von Palästinensern nicht wählen darf, werden wir ein Apartheidstaat.“

Mindestens drei israelische Ministerpräsidenten warnten also quer durch die Jahrzehnte hinweg explizit davor, Israel werde ein Apartheidstaat, sollte die systematische Diskriminierung der Palästinenser kein Ende finden. Wird diesen bedeutenden historischen Persönlichkeiten auch Antisemitismus vorgeworfen? Ist der Staatsgründer Israels, David Ben-Gurion, auch ein „israelhassender Judenfeind“?

Drei israelische Ministerpräsidenten warnten davor, Israel werde ein Apartheidstaat, sollte die systematische Diskriminierung der Palästinenser kein Ende finden: Staatsgründer David Ben-Gurion 1967, Jitzchak Rabin 1976 und Ehud Barak 2010 (v.l.n.r.). By IDF, Wikimedia commons, licensed under CC BY-SA 3.0 (Rabin), by Adi Cohen Zedek (עדי כהן צדק), wikimedia commons, licensed under CC BY-SA 3.0 (Barak).

Viele weitere Persönlichkeiten des israelischen Politestablishments bemühten den Vorwurf der Apartheid. So bewertet der ehemalige Generalbundesanwalt Israels, Michael Ben-Yair, aus juristischer Sicht: „wir haben in den besetzten Gebieten ein Apartheid-Regime eingerichtet.“ Legendär ist die Aussage des ehemaligen israelischen Umweltministers Yossi Sarid: „Was wie Apartheid handelt, wie Apartheid geleitet wird und so diskriminierend ist wie Apartheid, ist keine Ente – es ist Apartheid.“

Auch in der Welt der schreibenden politischen Kunst ist die Analyse weitverbreitet. Insbesondere sei hier Glenn Greenwald genannt – der vielleicht berühmteste Journalist des Planeten, Edward Snowden wandte sich für die Veröffentlichung seiner geleakten NSA-Dokumente an Greenwald –, der unermüdlich gegen die israelische Apartheid anschreibt. Ebenso der renommierte US-Politologe John Mearsheimer. Noam Chomsky, der einflussreichste Intellektuelle der Welt, meint gar, die israelische Politik gegenüber den Palästinensern ist „wesentlich schlimmer als die Apartheid“ in Südafrika. Auch eine Reihe südafrikanischer Politiker und Aktivisten selbst, die die Apartheid in ihrem Land besiegt haben, nannten die Politik Israels Apartheid, etwa der Erzbischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu, oder der Geheimdienstminister Ronnie Kasrils, der sagt: „Die israelische Politik, die Brutalität, lässt [die südafrikanische] Apartheid wie ein Picknick aussehen.“

Ebenso bringen hochrangige Vertreter von Israels engsten Verbündeten – Deutschland und den USA – diese Kritik vor. So verwendeten Vizekanzler Sigmar Gabriel, der Friedensnobelpreisträger und ehemalige US-Präsident Jimmy Carter, Ex-Außenminister John Kerry und selbst Barack Obama das A-Wort.

All diese Menschen eint, dass sie wohl kaum in die Ecke der Feinde Israels gestellt werden können, oder gar die der judenhassenden Antisemiten. Es handelt sich zumeist um einflussreiche Personen, die dem „Jüdischen Staat“ im Allgemeinen wohlwollend gegenüberstehen. Auch ihre aus so unterschiedlichen politischen Backgrounds kommende Expertise zum Thema Israel kann nur schwer geleugnet werden. Selbstverständlich ist deren Urteil irrelevant für die Schlüssigkeit und Glaubwürdigkeit meiner eigenen Analyse und insbesondere für die des wissenschaftlichen UN-Berichts von Tilley und Falk. Dieser überblickartige Auszug aus einer noch wesentlich längeren Liste soll lediglich verdeutlichen, wie fest verankert im politischen Mainstream die Ansicht ist, Israel sei ein Apartheidstaat beziehungsweise auf dem besten Wege dorthin. Sie ist keineswegs eine Randmeinung, noch ist sie auf irgendeine Art radikal oder extrem.

Antisemitismus als politische Waffe

Umso verwerflicher ist daher die persönliche Diffamierung der beiden Wissenschaftler, die den historischen UN-Bericht verfassten, sowie von Leuten wie mir, die darüber berichten. Selbst die größten Anwälte Israels erklären stets, es gebe sehr wohl auch legitime Kritik an der israelischen Politik. Wenn jedoch selbst ein akkurater wissenschaftlicher Bericht von der israelischen Regierung mit dem Nazi-Propagandablatt Der Stürmer verglichen wird, ist dies ein weiteres Indiz dafür, dass sowohl die israelische Führung als auch deren weltweite Advokaten eher dem Ansatz des einflussreichen politischen Publizisten und Verlegers Joachim Bruhn anhängen, der unverblümt erklärt: „Es kann keine Kritik am Staat Israel geben, die nicht antisemitisch ist.“ Diese Aussage ist schlicht und ergreifend eine intellektuelle Bankrotterklärung. Sie stellt effektiv das Handeln eines gesamten Staates außerhalb legitimer Kritik. Wer sich dem Dogma widersetzt, wird bekämpft, nicht mit Debatte oder fairem Streit, sondern mit der vernichtendsten politischen Diffamierung, die im deutschen Sprachraum existiert: Antisemit!

Die tatsächliche Bedeutung des Antisemitismus-Begriffs wurde verstümmelt. Antisemitismus wird als politische Waffe zur Bekämpfung und zur Mundtotmachung des politischen Gegners eingesetzt. Dies ist eine zutiefst verachtenswerte Taktik und in jedem Falle abzulehnen. Nicht nur, weil sie jeglichen konstruktiven Dialog vergiftet und so im Keime erstickt, sondern weil sie insbesondere auch ein Schlag ins Gesicht all jener ist, in deren Namen sie vermeintlich erst angewandt wird: den Jüdinnen und Juden dieser Welt. Wenn legitime Kritik an der politischen Führung Israels Bruhns Dogma folgend kategorisch als Antisemitismus gebrandmarkt wird, so wird der Begriff der Bedeutungslosigkeit zugeführt. Was diesem bedeutungsschweren und historisch so unendlich wichtigen Wort damit angetan wird, ist eine Schande. Und am Ende lachen sich nur die tatsächlich judenhassenden Nazis ins Fäustchen, denn wenn selbst derart einflussreiche und respektierte Linke wie Bernie Sanders, Jeremy Corbyn, Noam Chomsky oder Jakob Augstein Antisemiten sind, so ist es anscheinend nicht allzu schlimm, selber einer zu sein.

Wenn Presse- und Meinungsfreiheit ein hohes Gut sind, so dürfen wir uns dieser schändlichen Diffamierungstaktik nicht hingeben. Wir dürfen uns keiner Selbstzensur unterwerfen und aus Angst heraus berechtigte Kritik unausgesprochen lassen. Es ist das Armutszeugnis einer demokratischen, offenen, pluralistischen Gesellschaft, wenn eine Orwell’sche Gedankenpolizei dem Diskurs zum Israel-Palästina-Konflikt ihren maximal beschränkten Interpretationsrahmen überstülpen kann.


Dieser Artikel erschien auch auf JusticeNow! – connect critical journalism!

Dir gefällt der Artikel? Dann unterstütze doch unsere Arbeit, indem Du unseren unabhängigen Journalismus mit einer kleinen Spende per Überweisung oder Paypal stärkst. Oder indem Du Freunden, Familie, Feinden von diesem Artikel erzählst und der Freiheitsliebe auf Facebook oder Twitter folgst.

Zahlungsmethode auswählen
Persönliche Informationen

Spendensumme: 3,00€

Teilen:

Facebook
Twitter
Pinterest
LinkedIn
Freiheitsliebe Newsletter

Artikel und News direkt ins Postfach

Kein Spam, aktuell und informativ. Hinterlasse uns deine E-Mail, um regelmäßig Post von Freiheitsliebe zu erhalten.

Neuste Artikel

Abstimmung

Sollte Deutschland die Waffenlieferungen an Israel stoppen?

Ergebnis

Wird geladen ... Wird geladen ...

Dossiers

Weiterelesen

Ähnliche Artikel

No Other Land – Besatzung ohne Ende

Etwa 700.000 israelische Siedler halten das Westjordanland besetzt. Ein völkerrechtswidriger Sachverhalt, der sogar von Vertretern israelischer Lobbyorganisationen in Deutschland nicht geleugnet wird. Manche verurteilen den

Der Blick zurück weist den Weg vorwärts!

Die frühen 1980er-Jahre waren eine Zeit großer Friedensdemonstrationen: Im Bonner Hofgarten kamen zwischen 1981 und 1983 jährlich Hunderttausende (!) zusammen, um gegen die Stationierung von