Die vergessene Revolution: Was Oktober 1917 für uns bedeutet

Viele der großen Revolutionen der Neuzeit werden bis heute gefeiert. Dies gilt beispielsweise für die amerikanischen und französischen Revolutionen, die Nationalfeiertage sind (4. bzw. 14. Juli), für den irischen Osteraufstand, dessen hundertjähriges Jubiläum im letzten Jahr umfangreich, wenn auch scheinheilig zelebriert wurde, und für die chinesische Revolution von 1949, die der herrschenden Kommunistischen Partei ihre Legitimität verleiht. Aber die Russische Revolution vom Oktober 1917 ist ein Waisenkind. Selbst ihr hundertjähriges Jubiläum in diesem Jahr findet kaum Beachtung. Das ist deutlich anders als bei ihrem 50. Jahrestag 1967, an den ich mich noch erinnern kann. Selbst im Westen gab es damals eine widerwillige Anerkennung dieser Revolution als Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung.

1967 war die Zeit des Kalten Kriegs. Die Relevanz des Oktober 1917 war offensichtlich, da einer der beiden Antagonisten in diesem Konflikt, die Sowjetunion, ihre Legitimität aus dieser Revolution schöpfte. 25 Jahre danach gab es die UdSSR nicht mehr. Wladimir Putin, einer der Hauptakteure ihres Nachfolgestaats, der Russischen Föderation, sagte der Duma im Jahr 2005: „Der Zusammenbruch der Sowjetunion war die größte weltpolitische Katastrophe des Jahrhunderts“. Für das Ereignis, dem sie ihre Entstehung verdankt, kann er sich allerdings nicht begeistern.

Owen Matthews zufolge verehrt Putin die Sowjetunion, der er als Mitglied der Kommunistischen Partei und KGB-Offizier gedient hat, lehnt aber den Volksaufstand ab, der sie ermöglicht hat.

In den letzten Jahren hat Putins Kreml verschiedene Versatzstücke der russischen Geschichte bemüht, um die eigene Legitimität zu unterstreichen, Statuen von Fürst Wladimir von Kiew und Iwan dem Schrecklichen wurden errichtet und Geschichtsbücher neu geschrieben, um Stalin als heldenhaften Kriegsführer darzustellen, ohne den von ihm verübten Mord und Genozid zu erwähnen. Es gibt jedoch in der heutigen Partei keine „offizielle“ oder „patriotische“ Meinung zu 1917. Der konservative vorrevolutionäre Ministerpräsident Pjotr Stolypin – berühmt dafür, Revolutionäre an „Stolypin-Krawatten“ hängen zu lassen – kommt wahrscheinlich einem offiziellen Helden der Revolutionszeit am nächsten. Stolypin wurde 2008 von Anrufern einer Fernsehsendung zum „größten Russen der Geschichte“ gewählt (eine manipulierte Umfrage, wie sich herausstellte – in Wirklichkeit hatten die meisten für Stalin gestimmt).

Putin ist, wie Stolypin, in erster Linie ein russischer Imperialist, der abweichende Meinungen gewaltsam unterdrückt. Er hat deutlich gemacht, dass er die Bolschewiki, die das Russische Kaiserreich gestürzt haben,  als gefährliche Verräter ansieht. Lenin und seine Revolutionäre hätten „die nationalen Interessen Russlands verraten“, erzählte er 2015 Teilnehmern des alljährlich vom Kreml organisierten nationalen Seliger-Jugendforum. Die Bolschewiki „wollten ihr Vaterland besiegt sehen, während heldenhafte russische Soldaten und Offiziere an den Fronten des ersten Weltkriegs ihr Blut verloren“. Nach Putins Ansicht hat die Revolution „Russland als Staat zusammenbrechen lassen, so dass es sich ergeben musste“

In der Tat ähnelt Putins Russland in vielerlei Hinsicht dem Land, das wohl entstanden wäre, wenn die Weiße Garde anstelle der Roten den russischen Bürgerkrieg gewonnen hätte. Putins sozialer Konservatismus, sein Einsatz der Kirche zur Legitimierung seiner Herrschaft und seine Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen sind eine aktualisierte Version der zaristischen Formel von „Autokratie, Orthodoxie und Volkswille“. Boris Jelzin hat die Revolution rückgängig gemacht, indem er die Kommunistische Partei gestürzt hat. Aber Putin hat Russland auf den Stand vor 1917 zurückgeworfen. Putin hat das Heilige Russland wiederhergestellt: eine Gesellschaft, in der Staat und Kirche vereint sind, wo abweichende Meinungen Hochverrat sind und wo die Geheimpolizei auf jegliches Aufflackern von Unzufriedenheit in der Bevölkerung lauert.

Im Westen ist die russlandbezogene Paranoia des Kalten Krieges noch immer gegenwärtig, wie die Hysterie um Donald Trumps Verstrickungen mit Moskau gezeigt hat. Richard Painter, leitender Ethik-Anwalt für George W. Bush (mit diesem Job blieb ihm bestimmt viel Zeit für ein Studium historischer Fakten…), führt diese auf das Jahr 1917 zurück: „Wir wissen, was die Russen vorhaben, sie machen das schon seit der Revolution von 1917, als die Kommunisten begannen, alle westlichen Demokratien zu destabilisieren… und das hat sich bis 2017 fortgesetzt.“ Für solch direkte Rückfälle in den Kalten Krieg gab es jedoch im Oktober 1917 wenig Interesse.

Kundgebung der Arbeiter- und Soldatenräte auf dem Verkündigungsplatz in Nischni Nowgorod. Oktober 1917.

In akademischen Kreisen wird mittlerweile jegliche positive Interpretation der Revolution, um die man in den ‚radikalen‘ 1960er und 1970er Jahren noch bemüht war, weitgehend unterdrückt. Der akademische Konsens schildert den Oktober 1917 als einen regressiven Staatsstreich, der Russland zu Chaos und Totalitarismus verurteilt hat, ob in ’sozial’geschichtlichen Machwerken wie Orlando Figes ‚A People’s Tragedy‘ oder populärwissenschaftlich wie beim altgedienten Leninhasser Richard Pipes.

Gut zu erkennen ist dieser Konsens in einem aktuellen Sammelband mit dem Titel „Historically Inevitable? Turning Points of the Russian Revolution“ („Historisch unvermeidlich? Wendepunkte der russischen Revolution“) Herausgegeben vom ehemaligen britischen Botschafter in Moskau Tony Brenton, ist die Haltung der Autoren von Anfang an klar: Vorangestellt ist ein Zitat des großen Dichters Aleksandr Puschkin: „Russische Revolte, hirnlos und gnadenlos“ Der Tiefpunkt ist tatsächlich nicht der Beitrag von Richard Pipes, sondern ein Essay von Edvard Radzinsky, der das Martyrium des elenden Zaren Nicholas II und seiner Familie beweint. Orlando Figes widmet sein Kapitel der Tatsache, dass eine Polizeipatrouille in Petrograd am 24. Oktober 1917 den verkleideten Lenin auf dem Weg zur Sowjetversammlung im Smolny-Institut für „einen harmlosen Betrunkenen“ hielt; Hätten sie ihn erkannt, „hätte die Geschichte eine ganz andere Wendung genommen“ . In ihrer Rezension dieses Buches kritisierte Sheila Fitzpatrick, herausragende Historikerin der Sowjetära, an Brentons eigenem Beitrag einen „Triumphalismus des Freihandels“, der wie Francis Fukuyamas ‚Ende der Geschichte,‘ vielleicht doch noch irgendwan von der Realität widerlegt werden könnte. Brenton erwiderte, dies sei, als ob Fitzpatrick ihm ‚Round earth triumphalism‘ vorferfen würde. (Dass die historische Überlegenheit des Kapitalismus/Neoliberalismus also genau so evident sei wie die Tatsache, dass die Erde eine Kugel ist. AdÜ) So arrogant gibt sich die neoliberale extreme Mitte, während sich bereits ihr Untergang abzeichnet.

Aber dieses Schweigen, was den Oktober 1917 betrifft, ist auch auf Seiten der Linken zu finden: David Harvey ist zweifellos einer der herausragendsten marxistischen Intelektuellen unserer Zeit, seine Schriften und Online-Vorträge haben viel zum öffentlichen Interesse an Karl Marx Kritik der politischen Ökonomie beigetragen. Aber wenn wir in seiner aktuellen, populären Darstellung dieser Kritik nachschlagen, die nicht nur untersucht, was Harvey die „siebzehn Widersprüche“ des Kapitalismus nennt, sondern darüberhinaus auch versucht zu zeigen, wie sich eine politische Alternative entwickeln könnte, finden wir dort eine Diskussion von Frantz Fanons revolutionärem Humanismus, aber Lenin und 1917 beiben unerwähnt. Harvey beschreibt kurz ein Szenario, in dem unter wachsender Ungleichheit „eine bewusst organisierte, antikapitalistische, revolutionäre Bewegung (geführt, in leninistischen Begriffen, von einer Avantgarde-Partei) an die Macht kommt“, nur um dies dann als „zu vereinfachend, wenn nicht sogar grundsätzlich falsch“ abzutun.

Harvey hat sich schon immer vom Leninismus distanziert, aber andere führende marxistische Intellektuelle, die sich in der Tradition des Oktober 1917 verorten, haben darauf hingewiesen, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Partnerstaaten 1989-91 eine Trennlinie zwischen der zeitgenössischen Linken und dem Erlebnis der russischen Revolution gezogen hat. Der große Historiker Eric Hobsbawm, ein Mitglied der Communist Party of Great Britain bis zu ihrem Niedergang in den späten 1980er Jahren, schrieb einen Epilog zu seiner berühmten Trilogie „The long 19th century“ mit dem Titel „Age of Extremes: The Short Twentieth Century 1914-1991“. Diese Jahreszahlen implizieren, dass das historische zwanzigste Jahrhundert mit der Oktoberrevolution beginnt und mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion endet. In der Tat argumentiert Hobsbawm: „Die Welt, die am Ende der achtziger Jahre auseinanderfiel, war die Welt, die von der russischen Revolution von 1917 geprägt war“ und beschrieb unsere Gegenwart als „die Welt, die das Ende der Oktoberrevolution überlebt hat“. Hobsbawms eigentliches Subjekt bleibt dennoch der globale Kapitalismus mit seinen großen Krisen im frühen und späten 20. Jahrhundert und der ständigen Expansion dazwischen, neben dem „Die Geschichte der Konfrontation von ‚Kapitalismus‘ und ‚Sozialismus‘ auf längere sicht nur für Historiker interessant sein wird, vergleichbar mit den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts oder den Kreuzzügen“.

Dieser Widerspruch hängt wahrscheinlich mit Hobsbawms problematischer Beziehung zu seiner eigenen kommunistischen Vergangenheit zusammen – reflektiert in seinem endgültigen Urteil über die russische Erfahrung in ‚Age of Extremes‘: „Die Tragödie der Oktoberrevolution war gerade, dass sie nur diese Art von rücksichtslos-brutalem Kommandosozialismus hervorbringen konnte“. Im Gegensatz dazu ist die Überzeugung, dass der Oktober 1917 nicht unvermeidlich zum Stalinismus führen musste, eines der bestimmenden Merkmale des Trotzkismus. Daniel Bensaïd war bis zu seinem frühen Tod 2009 einer der herausragendsten Vertreter dieser Tradition, daher ist es interessant zu sehen, dass er Hobsbawms Darstellung des ‚kurzen zwanzigsten Jahrhunderts‘ teilt:

„Es war offensichtlich, dass die deutsche Wiedervereinigung, der Zerfall der Sowjetunion, das Ende des Kalten Krieges usw. das Ende eines großen Zyklus markierten, der mit dem Ersten Weltkrieg und der Russischen Revolution begann. Akzeptiert man das Konzept des „kurzen zwanzigsten Jahrhunderts“, dann war dieses Ende ein historischer Wendepunkt, der notwendigerweise mehr oder weniger sofort zu einer Neuordnung der geopolitischen Karten, aber auch zu neuen Definitionen und Gruppierungen innerhalb der Arbeiterbewegung führen musste.“

Was ist von der Revolution geblieben?

Aber was genau ist gemeint, wenn von „dem Ende der Oktoberrevolution“ oder „dem Ende eines großen Zyklus, der mit dem Ersten Weltkrieg und der Russischen Revolution begann“ die Rede ist? Es ist klar, dass, wie Bensaïd sagt, 1989/91 eine geopolitische Transformation stattfand: der Zusammenbruch des kommunistischen Blocks als rivalisierende Supermacht gegenüber dem westlichen Kapitalismus, durch den die letzten Hindernisse für eine globale Hegemonie der Vereinigten Staaten beseitigt waren. Dies wiederum ermöglichte die Konsolidierung des neoliberalen wirtschaftspolitischen Regimes, das Anfang der achtziger Jahre von Margaret Thatcher und Ronald Reagan ins Leben gerufen worden war. Gleichzeitig wurde der Neoliberalismus in die Dritte Welt exportiert, dank einer Schuldenkrise, die Paul Volcker, der Vorsitzende der US-Notenbank, ausgelöst hatte, indem er im Oktober 1979 hohe Zins- und Dollarkurse festlegte.

Bensaïd spricht auch von „Neuen Definitionen und Gruppierungen innerhalb der Arbeiterbewegung„. Die Bildung der Kommunistischen Internationale im Jahre 1919 war der Versuch der Bolschewiki, die Oktoberrevolution zu einer weltweiten Bewegung zu machen. Das Scheitern dieser Strategie erleichterte Stalins Machtübernahme in der Sowjetunion und die Umwandlung der kommunistischen Parteien in Instrumente der Moskauer Außenpolitik. Bedeutende Teile der Arbeiterbewegung, viele ihrer besten Kämpfer, waren so an das Schicksal des sowjetischen Staates gebunden. Der Niedergang der Sowjetunion – und die Konflikte zwischen Moskau und Peking um die Führung der internationalen kommunistischen Bewegung – trugen zum Zerfall dieser Bewegung bei, obwohl dieser Zerfall zunehmend durch die Annäherungen der kommunistischen Parteien an eine reformistische Politik mitgetragen wurde, die sich kaum noch von der ihrer sozialdemokratischen Rivalen unterschied. Der Zusammenbruch der UdSSR beschleunigte diesen Prozess, insbesondere mit dem Selbstmord der Kommunistischen Partei Italiens, der wichtigsten westlichen KP. Heute gibt es nur eine Handvoll KPs, die noch relevant sind – die ultra-stalinistischen griechischen und portugiesischen Parteien, die Kommunistische Partei Indiens (Marxisten), die aber inzwischen ihre ehemaligen Hochburgen verloren hat, und die südafrikanische Kommunistische Partei, die seit 50 Jahren eng an den ANC (Afrikanischer Nationalkongress) gebunden ist, der sich in einer schweren Krise befindet.

So können wir mit Sicherheit sagen, dass 1989-91 eine deutliche Verschiebung in zwei grossen Prozessen stattfand – die neoliberale Reorganisation des globalen Kapitalismus unter US-Hegemonie und der Niedergang der kommunistischen Bewegung. Heißt das, der Oktober 1917 hat uns nichts mehr zu sagen? Hat die Implosion des sowjetischen Blocks das Licht blockiert, das jener Oktober ausstrahlte? Wie man diese Frage beantwortet, hängt zum Teil davon ab, ob man wie Hobsbawm die russische Revolution mit dem Stalinismus gleichsetzt. Es ist bekanntlich ein Grundprinzip dieser Zeitschrift (International Socialism, AdÜ), eine solche Gleichsetzung abzulehnen. Für uns bedeutet die stalinistische Transformation der UdSSR in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren – erzwungene Industrialisierung und Kollektivierung der Landwirtschaft – nicht den Aufbau des Sozialismus, sondern den Anfang einer Konterrevolution. Eine neue herrschende Klasse, die zentrale politische Bürokratie von Partei und Staat, beherrschte eine geteilte und entrechtete Arbeiterklasse, beutete sie aus, unterwarf sie unter dem Druck der militärischen Konkurrenz mit den westlichen imperialistischen Mächten der Logik der Kapitalakkumulation. Die Umwälzungen von 1989-91 repräsentieren für uns also nicht die Wiederherstellung des Kapitalismus, sondern, wie Chris Harman es ausdrückte, einen Seitwärtszug, von einer Form des Kapitalismus – bürokratischer Staatskapitalismus – zu einer anderen – der Marktkapitalismus der neoliberalen Ära.

Diese Analyse geht davon aus, dass der Oktober 1917 eine echte Arbeiterrevolution war, und dass daher der Konsens der Eliten, ihn als einen Staatsstreich darzustellen, falsch ist. Doch welche Art von Licht erreicht uns dann heute noch von jenem Oktober? Ist es nur eine allgemeine revolutionäre Inspiration oder ist da eine spezifischere strategische Bedeutung? Trotzki screibt 1924 in seinem Buch Die Lektionen des Oktober:

„Es ist wünschenswert, daß die gesamte Partei und besonders die junge Generation Schritt für Schritt den Oktoberumsturz erfaßt; die Erfahrungen dieser Revolution stellen die tiefste und unbestrittenste Prüfung der Vergangenheit dar und öffnen weite Perspektiven für die Zukunft…. Zum Studium der Gesetze und Methoden der proletarischen Revolution gibt es bis heute keine wichtigere und tiefere Quelle als unser Oktober-Experiment..“

Die ‚Lehren des Oktobers‘ hatten einen polemischen Zweck: Trotzki versuchte, seinen politischen Rivalen in der bolschewistischen Partei das Versagen der Kommunistischen Partei Deutschlands im Oktober 1923 anzuhängen, insbesondere Grigori Sinowjew, dem Präsidenten der Komintern. Aber die Argumente, die er in dem Buch vorbringt, haben eine breitere Relevanz, und es ist unleugbar, dass Trotzkis eigene politische Praxis von dieser Sichtweise des Oktober 1917 als Prüfstein revolutionärer Strategien und Taktiken geleitet wurde. Seine eigene Geschichte der Russischen Revolution ist unübertroffen als Erzählung des gesamten Prozesses, mit seinen Siegen und Niederlagen, Fortschritten und Rückzügen, die  Zeugnis von Trotzkis theoretischer Brillianz geben. Die Faszination der frühen Jahre der Komintern (Dritte KOMmunistische INTERNationale) liegt in den Bemühungen der Führer der russischen Revolution – allen voran Lenin und Trotzki -, ihre Erfahrungen weiterzugeben und das Gelernte mit den Führern der neuen kommunistischen Parteien, vor allem in Deutschland, zu teilen.  Spätere Generationen revolutionärer Marxisten haben die Bedeutsamkeit dieser Erfahrung verstanden. Tatsächlich war ihre Reflexion, besonders in Lenins Schriften, entscheidend für Bensaïds eigenes Denken, trotz dem, was er über das Ende des 20. Jahrhunderts schreibt.

Es gibt heute ein Wiedererstarken des marxistischen Interesses an Lenin, beginnend mit Lars Lihs umfangreicher Neubearbeitung von Lenins  „Was tun?“, dann eine interessante Studie von Alan Shandro, Tamás Krausz großartige ‚Intellektuelle Biographie‘ (Gewinner des 2015 Isaac und Tamara Deutscher Memorial Prize), Tariq Alis elegante Überlegungen und John Molyneux Präsentation eines ‚Lenin for Today‘. Molyneux Buch steht fest in der international-sozialistischen Tradition. Aber in dem Rest dieser Werke geht es vor allem darum, Lenin von der Karikatur zu befreien, auf die er durch den akademischen Konsens reduziert wurde, und ihm seinen verdienten Platz in der Geschichte des Marxismus und der Russischen Revolution zurückzugeben, weniger um seine heutige Relevanz. Die jüngste Ausnahme hiervon, neben Molyneuxs ‚Lenin for Today‘, kommt von Slavoj Žižek, aber Žižeks „Leninismus“ ist so eigenwillig und durchdrungen von endlosen philosophischen Betrachtungen, dass darin nur wenig verwertbare Politikansätze zu finden sind.

US-Truppen marschieren in Russland 1918 ein. By De la Necunoscut, Wikimedia Commons, published under public domain.

Hat die Revolution vom Oktober 1917 also immer noch eine universelle Bedeutung und enthält wichtige Lektionen für Sozialisten, wie Trotzki argumentierte? Es gibt einen fundamentalen Grund, warum wir mit ‚Ja‘ antworten sollten. Eine noch ältere Debatte innerhalb der Linken, die auf die Revisionismuskontroverse in der deutschen Sozialdemokratie am Ende des 19. Jahrhunderts zurückgeht, betrifft die Frage, ob der Kapitalismus nach und nach wegreformiert werden kann. Mit den Worten von Rosa Luxemburg: „Reform oder Revolution?“ Wir erleben derzeit eine Wiederbelebung des linken Reformismus, der in Großbritannien besonders ausgeprägt ist. Ihre Führer, Jeremy Corbyn und John McDonnell, beantworten die Frage Luxemburgs mit „Reform!“. Voll Mut und Eifer argumentieren sie, dass die britische Gesellschaft problemlos im Rahmen der Verfassung der parlamentarischen Demokratie umgewandelt werden kann. So sehen es auch die Führer der anderen großen neuen linken Strömungen in Europa – Jean-Luc Mélenchons La France Insoumise, Podemos und Syriza.

Das Problem ist, dass es nicht ein einziges historisches Beispiel einer erfolgreichen linken reformistischen Regierung gibt. Die wichtigste Labour-Regierung – die Regierung von Clement Attlee (1945-51) – führte zwar große Reformen durch, aber sowohl die Konsolidierung des Wohlfahrtsstaates als auch die Verstaatlichungen wichtiger Industriezweige vollzogen sich im Einklang mit dem Konsens der Elite, dass der britische Kapitalismus erneuerungsbedürftig war. Ganz ähnliche Reformen gab es 1944/46 in Frankreich unter Charles de Gaulle, der gewiss kein Kommunist war. Die allgemeine Tendenz sozialdemokratischer Regierungen ist, dass sie unter dem Druck der Finanzmärkte und der Sabotage durch staatliche Bürokratie und Großunternehmen gezwungen sind, die (oftmals bescheidenen) Reformen, für die sie gewählt wurden, wieder aufzugeben. Sollten sie standhaft bleiben, droht ihnen Gefahr. Das finsterste Beispiel dafür bietet der chilenische Militärputsch vom September 1973, gegen die demokratisch gewählte Unidad Popular von Salvador Allende. Die Niederlage von Syriza im Juli 2015 zeigt eine neue Möglichkeit, eine linke Regierung zu zerstören: ihr Bankensystem wird von aussen lahmgelegt, um sie zur Zusammenarbeit bei der Verarmung der eigenen Bevölkerung zu zwingen.

Wenn also der reformistische Weg nicht möglich ist, müssen wir die revolutionäre Alternative ernst nehmen. Die russische Revolution vom Oktober 1917 ist der erste erfolgreiche Sturz einer kapitalistischen Regierung. Tatsächlich halten wir es in der internationalen sozialistischen Tradition für die einzige erfolgreiche sozialistische Revolution: Die anderen großen Revolutionen des 20. Jahrhunderts – vor allem China, Vietnam und Kuba – brachen die koloniale Herrschaft, aber sie endeten mit bürokratischem Staatskapitalismus nach dem Vorbild des stalinistischen Russland. Umso wichtiger ist es heute, zu untersuchen, was wir vom Oktober 1917 lernen können.

Mit verschiedenen intellektuellen Schachzügen versucht man, die Erfahrung des Oktobers 1917 von uns fernzuhalten. Der offensichtlichste ist, dass das Russland von 1917 nichts mit dem globalisierten Kapitalismus von 2017 zu tun hat. Russland war eine riesige, vorwiegend landwirtschaftliche Gesellschaft, deren überwältigende Mehrheit Bauern waren, die von der zaristischen Autokratie, Landbesitzern und Adel, unterdrückt und ausgebeutet wurden. Die Rückständigkeit des späten imperialen Russlands ist nicht zu leugnen, aber das bedeutet nicht, dass sich das Land außerhalb des globalen Prozesses der kapitalistischen Entwicklung befand. Lenin und Trotzki verstanden das sehr gut. Wie Krausz es ausdrückt:

„Schon vor 1905 hat Lenin diese besondere Entwicklung erwähnt, dass nämlich Russland durch einen Prozess in das kapitalistische Weltsystem eingebettet wurde, den wir heute als „semi-periphere Integration“ bezeichnen: in diesem Prozess bleiben einige präkapitalistische Formen innerhalb des Kapitalismus erhalten, um die Unterordnung unter westliche Kapitalismusinteressen zu verstärken. Der Kapitalismus integriert präkapitalistische Formen in seine Funktionsweise.

Deutsche und russische Soldaten feiern zwischen den Stellungen. Bundesarchiv, Bild 183-S10394 / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de], via Wikimedia Commons
Die wissenschaftliche Entdeckung dieser Vermischung verschiedener Produktionsformen und divergierender historischer Strukturen hat Lenin in seiner Überzeugung gestärkt, dass Russland eine Region „überdeterminierter Widersprüche“ (Althusser) sei. Solche Widersprüche können nur auf dem Weg der Revolution gelöst werden. Es brauchte mehr als zehn Jahre wissenschaftlicher Untersuchung und politischer Praxis, bis Lenin dieses Netz aus Beziehungen verstanden hatte, in dem die lokalen Besonderheiten des russischen Kapitalismus und die Voraussetzungen für den Sturz der zaristischen Monarchie zusammenliefen. Diese Untersuchungen führten ihn einer bedeutenden Entdeckung, die in seiner These von Russland als dem „schwächsten Glied in der Kette der imperialistischen Länder“ zusammengefasst wurde.“

Trotzki kam auf einem etwas anderen Weg zu derselben Erkenntnis. In seinen großen Studien der Revolutionen von 1905 und 1917 legt er mehr Gewicht auf die Rolle des zaristischen Staates. Die geopolitische Konkurrenz mit den fortgeschritteneren europäischen Mächten im Westen zwang die Autokratie von Peter dem Großen zu Beginn des 18. Jahrhunderts, fortschrittlichere Technologien (zusammen mit dem Kapital, um diese zu finanzieren und oftmals auch dem Personal, um sie zu betreiben) von diesen Rivalen zu importieren. In diesem Kontext formuliert er seine Theorie der ungleichmäßigen und kombinierten Entwicklung:

Ungleichheit, das allgemeinste Gesetz des historischen Prozesses, offenbart sich am schärfsten und komplexesten im Schicksal der rückständigen Länder. Unter der Peitsche der äußeren Notwendigkeit wird ihre rückständige Kultur zu Sprüngen gezwungen. Aus dem allgemeinen Gesetz der Ungleichheit leitet sich daher ein anderes Gesetz ab, das wir mangels eines besseren Namens, das Gesetz der kombinierten Entwicklung nennen können – womit wir eine Zusammenziehung der verschiedenen Etappen der Reise meinen, eine Zusammenlegung der einzelnen Schritte, ein Amalgam aus archaischen und zeitgenössischen Formen.

Dieser Prozess führt zu dem „Privileg historischer Rückständigkeit“, das der rückständigen Kultur „erlaubt oder vielmehr sie zwingt, Errungenschaften fortgeschrittener Kulturen sofort zu übernehmen, indem sie eine ganze Reihe von Zwischenstufen überspringt“. Dieses „Privileg“ ermöglichte dem zaristischen Staat, der bemüht war, seine Position gegenüber den anderen Großmächten beizubehalten, die schnelle Industrialisierung des Landes im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, finanziert durch Kredite seines Verbündeten Frankreich. 1913 war Russland bereits die fünftgrößte industrielle Wirtschaftsmacht mit der am stärksten konzentrierten Arbeitskraft in Europa. So entstanden Inseln der fortgeschrittenen Industrie, aus denen schliesslich die militante Arbeiterklasse hervorging, die die Revolutionen von 1905 und 1917 antrieb. Die Widersprüche der russischen Entwicklung – was Krausz als „Netz aus Beziehungen, in dem die lokalen Besonderheiten des russischen Kapitalismus und die Voraussetzungen für den Sturz der zaristischen Monarchie zusammenliefen“ bezeichnet – waren bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgeprägt genug, um die Explosion von 1905 zu erzeugen. Die Abhängigkeit der lokalen Bourgeoisie von staatlichem und ausländischem Kapital und die Militanz der neuen Arbeiterklasse, führten zu diesem ersten aufleuchten proletarischer Aktion, wenn auch die brutale Reaktion nicht lange auf sich warten liess und in antijüdischen Pogromen den kommenden Faschismus vorwegnahm.

Diese widersprüchliche Kombination von fortgeschritten und rückständig gab es nicht nur im spätkaiserlichen Russland: auch andere Schwellenländer des ausgehenden 19. Jahrhunderts – zum Beispiel Italien und Österreich-Ungarn – hatten jeweils ihre eigenen Versionen davon. Der konservative Historiker Norman Stone argumentiert, dass in den Jahren vor 1914 in ganz Europa ein allgemeiner Anstieg des Klassenkampfes zu verzeichnen ist, der die Auswirkungen der Großen Depression von 1873-1895 widerspiegelt, insbesondere bei der Verelendung von Bauern und (in ihrer Erholungsphase) steigenden Preisen:

Als nach 1895 die Preise stiegen oder im Jahrzehnt davor, als sich die Agrarländer immer weniger leisten konnten, gab es starke Anreize, die Industrie auszubauen. In Deutschland und Großbritannien mussten die Kosten gesenkt werden, es wurde in Maschinen investiert. In Italien und Russland löste die Agrarkrise die Industrialisierung aus… In den 1890er Jahren wurde durch ausländische Investitionen neue Technologie von den fortgeschrittenen Ländern auf diese schwächeren Länder übertragen, die dementsprechend in wenigen Jahren dramatische wirtschaftliche Veränderungen erfuhren. Proletarische (und bäuerliche) Armeen erschienen in den Fabriken. In den 1880er Jahren hatten sie sich an niedrige Preise und hohe Reallöhne gewöhnt. In den späten 1890er Jahren und wieder nach 1906 stiegen die Preise beträchtlich. Das Ergebnis war überall eine gewisse Militanz der Arbeiter, die einige Beobachter schlussfolgern liess, dass eine Revolution kurz bevor stand.

Sogar in der stärksten imperialistischen Macht, Großbritannien, verursachten diese Gegensätze die große Unruhe der Jahre bis 1914. Russland, dessen sozio-politische Strukturen durch übereilte Industrialisierung destabilisiert waren, war noch viel anfälliger, wie Lenin 1917 in seinen „Briefen aus der Ferne“ schrieb. Insbesondere das Streben der Autokratie nach einer aggressiven und expansionistischen Außenpolitik brachte sie auf dem Balkan in Konflikt mit dem österreichisch-ungarischen Kaiserreich und damit mit dessen Verbündeten, dem Zweiten Deutschen Reich; Dieser Todeskampf zweier verfallender Kaiserreiche löste den interimperialistischen Konflikt aus, der sich seit Jahren in den Streitigkeiten zwischen Großbritannien und Deutschland aufgeladen hatte und die meisten europäischen Mächte und ihre Kolonien in den Ersten Weltkrieg trieb. Stone argumentiert, dass „nach 1909 fast alle europäischen Länder in eine Periode des politischen Chaos gerieten“, nach der der Krieg zumindest den Rechten als eine Befreiung erschien. In der Tat fegte der Große Krieg viel von den alten Regimes in Europa hinweg. In Rußland vergrößerte das Inferno des Krieges die industrielle Arbeiterklasse beträchtlich und unterwarf sie neuen Entbehrungen, während Millionen Bauern von ihren verstreuten Höfen verschleppt und zu einer riesigen Wehrpflichtarmee zusammengezogen wurden, deren Niederlagen das Urteil der Geschichte über die Autokratie fällten.

Der neue revolutionäre Prozess, der im Februar 1917 seinen Anfang nahm, gab der Arbeiterklasse, die bereits 1905 eine führende Rolle gespielt hatte, noch mehr Spielraum. Die vorwiegend bäuerliche Armee, deren Meutereien den Romanows den Todesstoß versetzten, bildete die Brücke zwischen den Fabriken und den Dörfern. Aber die Avantgarde der Revolution – die gelernten Metallarbeiter von Petrograd und Moskau – sah sich mit Problemen konfrontiert und entwickelte Organisationsformen, die denen von Arbeitern in fortgeschrittlicheren kapitalistischen Zentren entsprachen – in Berlin, Turin, Sheffield und Glasgow. Politisch waren die russischen Arbeiter sogar noch weiter fortgeschritten – bereits 1905 hatten sie den Sowjet (russisch für ‚Rat‘, AdÜ) entwickelt, eine Form proletarischer Selbstorganisation, die die gesamte Klasse bei der Durchführung sowohl wirtschaftlicher als auch politischer Kämpfe vereinte und damit die Grundlage für eine Alternative zu dem bestehenden kapitalistischen Staat geschaffen hatte. Militante Arbeiter in Mittel- und Westeuropa fanden in den russischen Arbeiterkämpfen eine Lösung für die Probleme, mit denen sie sich konfrontiert sahen. Es ist daher kein Zufall, dass sich viele Metallarbeiter in den kommunistischen Parteien versammelten, um die bolschewistische Revolution nach Westen zu bringen.

Formal ist die Oktoberrevolution keinesfalls ein Rückfall in traditionell russischen Autoritarismus oder primitiv-populäre Instinkte, wie Pipes und Figes argumentieren. Im Gegenteil, im urbanen Schmelztiegel sehen wir, was Trotzki als „die aktive Orientierung der Massen durch eine Methode der sukzessiven Annäherung“ bezeichnet hat: die moderne Arbeiterklasse

und ihre Verbündeten in der Armee erprobten verschiedene politische Lösungen, bewegten sich schrittweise nach links, während die Politik der moderateren Parteien als Bankrott entlarvt wurde. Das Bolschewistische Ideal der Sowjetrepublik (Räterepublik) war der Endpunkt dieses Radikalisierungsprozesses, weil es den Bedürfnissen der Situation entsprach und weil die Partei das genaue Gegenteil der geschlossenen totalitären Sekte war, als die sie in der Mainstream-Wissenschaft dargestellt wird.

In seiner grundlegenden Studie der Oktoberrevolution in Petrograd, in der das Märchen von der Revolution als Putsch einer kleinen Gruppe von Bolsheviken ein für allemal widerlegt wird, schreibt Alexander Rabinowitch:

Der phänomenale bolschewistische Erfolg ist in nicht geringem Maße der Natur der Partei im Jahre 1917 zu verdanken. Ich denke dabei weder an Lenins mutige und entschlossene Führung, deren historische Bedeutung niemand leugnen kann, noch die sprichwörtliche, wenn auch enorm übertriebene, organisatorische Einheit und Disziplin der Bolschewiki. Vielmehr würde ich die relativ demokratische, tolerante und dezentrale Struktur und Arbeitsweise der Partei hervorheben, sowie ihren grundlegend offenen und massentauglichen Charakter – in markantem Gegensatz zu dem, wie der Leninismus gewöhnlich dargestellt wird.

Das Besondere an 1917

Bedeutet das, dass der Oktober 1917 keine spezifischen Merkmale enthielt? Natürlich nicht: die Revolution repräsentiert wie jedes historische Ereignis eine eigentümliche Verschmelzung des Allgemeinen und des Besonderen. Zwei Unterscheidungsmerkmale lassen sich ausmachen. Das erste ist allen Gesellschaften dieser Epoche gemeinsam – der Große Krieg selbst. Die provisorische Regierung, die im Februar 1917 das zaristische Regime ablöste, war darauf bedacht, den Ententemächten Frankreich und Großbritannien sowie dem neuen, mächtigen Verbündeten, den USA, ihre Loyalität zu versichern und Russlands weitere Teilnahme am Krieg zu garantieren. Trotzki hat den Krieg als eine der Hauptantriebskräfte der Radikalisierung der Massen bezeichnet: Arbeiter und Soldaten zog es zu den Bolschewiki, weil diese als einzige Partei entschlossen waren, den Krieg zu beenden, dass es ihnen ernst damit war, zeigt der Vertrag von Brest-Litowsk. Die Opposition der Bolschewiki gegen den Krieg, zusammen mit ihrer Unterstützung für die Beschlagnahmung der Besitztümer des Adels durch die Bauern war für das Überleben der Oktoberrevolution in einer überwiegend ländlichen Gesellschaft von entscheidender Bedeutung.

Lenins eigene prägnante Analyse des bolschewistischen Erfolgs betont, dass die Machtergreifung mitgetragen wurde von „(1) einer grossen Mehrheit des Proletariats; (2) beinahe der Hälfte der Streitkräfte; und (3) einer überwältigenden Überlegenheit der Kräfte im entscheidenden Moment an den entscheidenden Punkten, nämlich: in Petrograd und Moskau und an den Kriegsfronten in der Nähe des Zentrums“, und dass das die sozialrevolutionäre Praxis, den Landbesitz des Adels zu enteignen, „die Bauernschaft neutralisierte“.

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs eröffnete eine Epoche der Kriege, Revolutionen und Konterrevolutionen, die bis zum August 1945 anhalte sollte. Der konservative deutsche Historiker Ernst Nolte fasste diese Epoche treffend als „europäischen Bürgerkrieg“ zusammen. Das industrialisierte Gemetzel in den Schützengräben hatte geholfen, viele Arbeiter und Intellektuelle von ihren Loyalitäten gegenüber den bestehenden herrschenden Klassen zu befreien. Außerhalb Russlands war das dramatischste Beispiel die deutsche Revolution von 1918-23. Aber die Erfahrung des Krieges hatte auch eine brutalisierende Wirkung: Viele Veteranen der Schocktruppen wurden von den faschistischen Bewegungen rekrutiert, die nach 1918 als die Speerspitze der Konterrevolution auftauchten. In Russland nahm die konterrevolutionäre Offensive die Form eines blutigen Bürgerkriegs an, der von 1918 bis 1921 wütete. Dieser trug nicht nur wesentlich zum Zerfall der russischen Industriewirtschaft und zur Zerschlagung der Arbeiterklasse bei, die die Revolution gemacht hatte, sondern führte auch zu einer Militarisierung der Gesellschaft. Die Partei selbst hat einen Großteil ihrer Arbeiterwurzeln verloren. Sie wurde zu einer Partei der Waffengewalt, forderte von ihren Mitgliedern heldenhafte Selbstaufopferung und führte strenge Hierarchien ein.

Die zweite Besonderheit des Oktober 1917 – und eine, die Rußland von seinen westlichen Gegenstücken unterscheidet – war das Fehlen einer starken reformistischen Tradition. Lenin selbst bezieht sich darauf in der berühmten Passage des „Linken Radikalismus“: „es war für Russland in der konkreten, historisch außerordentlich eigenartigen Situation von 1917 leicht, die sozialistische Revolution zu beginnen, während es für Russland schwerer als für die europäischen Länder sein wird, sie fortzusetzen und zu Ende zu führen.“ Mit anderen Worten, die Stärke der Sozialdemokratie hängt vom Entwicklungsstand der jeweiligen Gesellschaft ab: die tief verwurzelte Macht der reformistischen Gewerkschaftsbürokratie und ihrer parlamentarischen Verbündeten stellt ein Haupthindernis für jeden revolutionären Kampf dar, aber wenn die Revolution in einer fortgeschrittenen Gesellschaft schliesslich die Macht ergreift, kann sie von dem relativ hohen Niveau an Produktivität und Bildung profitieren.

Dieser Punkt ist zweifellos richtig. Antonio Gramsci wies bekanntermaßen auf die viel stärker entwickelten Institutionen der Zivilgesellschaft in Westeuropa hin, die als Verschanzungen gegen die Revolution fungierten. Aber er sollte nicht überbewertet werden. Selbst zu Lenins Zeiten konnte die Sozialdemokratie mit einem gewissen Maß an Rückständigkeit koexistieren. Gramsci selbst musste sich mit einer spezifischen Form von ungleicher und kombinierter Entwicklung in Italien auseinandersetzen, wo ein relativ entwickelter industrieller Kapitalismus im Norden den Führern der Arbeiterbewegung wirtschaftliche Zugeständnisse bot, im Austausch dafür, dass sie die südliche Bauernschaft in ihrem Kampf gegen Landbesitzer und Kirche nicht unterstützten. Darüber hinaus finden sich in allen grossen Revolutionen Beispiele für die schnelle Entstehung reformistischer Kräfte nach der Krise des alten Regimes. Lenin selbst weist in „Die Radikale Linke“ darauf hin:

„Die Menschewiki und die „Sozialrevolutionäre“ eigneten sich in wenigen Wochen alle Methoden und Manieren, alle Argumente und Sophismen der europäischen Helden der II. Internationale, der Ministerialisten und des sonstigen opportunistischen Gelichters vortrefflich an. Alles, was wir jetzt über die Scheidemänner und Noske, über Kautsky und Hilferding, über Renner und Austerlitz, über Otto Bauer und Fritz Adler, über Turati und Longuet, über die Fabier und die Führer der Unabhängigen Arbeiterpartei in England lesen, alles das scheint uns eine langweilige WiederhoIung, ein Nachleiern bekannter und alter Melodien zu sein (und ist es in der Tat). Alles das haben wir schon bei den Menschewiki gesehen. Die Geschichte hat sich einen Scherz erlaubt und die Opportunisten eines rückständigen Landes genötigt, den Opportunisten einer Reihe von fortgeschrittenen Ländern zuvorzukommen.“

In späteren Jahrzehnten war vielerorts zu beobachten, wie schnell in weniger entwickelten Gesellschaften eine revolutionäre Massenbewegung zum Reformismus verkommen kann. Als in den 1980er Jahren neue, unabhängige Arbeiterbewegungen in Schwellenländern entstanden, entschied sich Solidarnosc in Polen für eine „selbstbeschränkte“ Revolution; proletarische Aufstände in  Brasilien endeten mit der Eingliederung der neuen Arbeiterpartei in die Wahlpolitik; in den letzten Tagen der Apartheid entwickelte sich die Afrikanische Kommunistische Partei mit erstaunlicher Geschwindigkeit zu einer sozialdemokratischen Massenpartei.

In jüngerer Zeit, während der ägyptischen Revolution von 2011-13, nahm die Muslimbruderschaft die Funktion einer reformistischen Partei an und versuchte sich als Vermittler zwischen dem Staat und den Massen, mit katastrophalen Konsequenzen für die Bruderschaft und die Revolution. Diese Beispiele zeigen eine Tendenz von Arbeiterbewegungen, sich selbst zu begrenzen, aus Mangel an Selbstvertrauen seitens der Arbeiter, die noch tief geprägt sind von der Erfahrung von Ausbeutung und Unterdrückung im Kapitalismus und daher schnell bereit, Kompromisse mit der bestehenden Ordnung zu schliessen.

Wie 1917 gezeigt hat, kann dieser Mangel an Selbstvertrauen überwunden werden: Zum einen in der revolutionären Praxis, in der Erkenntnis, dass die reformistischen Kompromisse unzulänglich sind und dass die Arbeiter selbst bessere Lösungen finden können; Zum anderen durch die Präsenz einer revolutionären Volkspartei, die den Arbeitern ihnen hilft, die notwendigen politischen Lektionen zu lernen.

Auch in Westeuropa sind wir heute weit entfernt von den hochstrukturierten und relativ stabilen reformistischen Arbeiterparteien aus der Zeit Lenins oder nach dem Zweiten Weltkrieg. Es lassen sich zwei scheinbar gegensätzliche, tatsächlich aber eng verwandte Phänomene beobachten.  Einerseits lösen sich einstmals mächtige und erfolgreiche Parteien auf (die Italienische  Kommunistische Partei PCI) oder werden marginalisiert (Pasok in Griechenland, die Parti Socialiste in Frankreich oder die Arbeiterpartei in Brasilien). Auf der anderen Seite können sehr schnell neue reformistische Formationen entstehen – Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien sind die klassischen jüngsten Beispiele, aber es gibt auch das Beispiel von Labour in Grossbritannien, einer der etabliertesten sozialdemokratischen Parteien, die sich mit neuen Führungskräften neu erfindet, im Rahmen der Proteste gegen Kürzungen.

Beide Phänomene sind Folgen des langfristigen Niedergangs der Sozialdemokratie, der durch den Sozialliberalismus in der Ära von Tony Blair und Gerhard Schröder noch verschärft wurde, und der Auflösung von bürgerlichen politischen Strukturen in zehn Jahren Krise und Sparpolitik. Das bedeutet, dass selbst in den Zentren des fortgeschrittenen Kapitalismus die Revolutionäre nicht länger den stabilen reformistischen Formationen gegenüberstehen, die für Lenin und Gramsci ein Haupthindernis für die sozialistische Revolution im Westen darstellten. Natürlich sind die Gründe für die relative Instabilität der gegenwärtigen Sozialdemokratie sehr verschieden von den Gründen (Unterdrückung demokratischer Strukturen durch die Autokratie) die die Entwicklung eines stabilen Reformismus im vorrevolutionären Russland verhinderten. Nichtsdestotrotz, die fünfjährige Entwicklung von Syriza – von der großen Hoffnung der internationalen Linken zum Kollaborateur mit der EU – zeigt, dass die gegenwärtige reformistische Politik eine Fluidität und Instabilität aufweist, in der sich Möglichkeiten für revolutionären Aktivismus auftun, wenn man angemessen handelt.

In diesem Zusammenhang lohnt es sich, die beiden wirklichen politischen Neuerungen der Oktoberrevolution zu betrachten. Die erste  – die Sowjets und die Logik der Doppelherrschaft, das Nebeneinander und Verflechten zweier antagonistischer politischer Formen, bürgerlich und proletarisch, die ihre Entstehung nach dem Februar 1917 hervorgebracht hat – erwies sich als universalgültig. Im Laufe des 20. Jahrhunderts brachte der Arbeitskampf Formen demokratischer Selbstorganisation hervor, die sich von Kampfstrategien zu einer neuen Form politischer Macht entwickelten, die die Souveränität des kapitalistischen Staates in Frage stellte. In verschiedenen Formen und unter verschiedenen Namen – von den Arbeiterräten in Deutschland 1918 über die Cordones in Chile 1973 bis zu den Arbeiter-Shoras in Iran 1978-79 – boten diese organisatorischen Improvisationen Einblicke in die selbstverwaltete Gesellschaft, die aus erfolgreichen Arbeiterrevolutionen hervorgehen würde. Die durch die gegenwärtige Krise hervorgerufenen Massenbewegungen – vor allem die Besetzungen der Plätze im Jahr 2011, von Tahrir bis zur Puerta del Sol, Syntagma und Zuccotti Park – zeigten ein ähnliches Streben nach direkteren Formen der Demokratie, als sie uns innerhalb des kapitalistischen Rahmens angeboten werden, obwohl sie nicht von der Dynamik des Massenstreiks angetrieben wurden, der die ursprünglichen Sowjets und ihre Pendants anderswo hervorbrachte.

Sturm auf den Petersburger Winterpalast 1917. Nachstellung von 1920

Die zweite große Neuerung war die bolschewistische Partei selbst. Dies zu sagen widerspricht der ungeheuren Anstrengung, die Lars Lih unternommen hat, um die politische Eigenständigkeit des Bolschewismus zu diskreditieren. Lih zufolge ist Lenin ein loyaler Anhänger Kautskys gewesen, der versucht habe, dessen Konzept einer sozialistischen Bewegung auf die russischen Verhältnisse anzuwenden. Ohne im Detail auf Lihs kontroverse Thesen eingehen, möchte ich anmerken,  dass er sich auf ein naives vormarxistisches Geschichtsverständnis stützt, in dem das, was geschieht, eine Verwirklichung der Absichten einzelner Personen ist. Nehmen wir kurz an, Lenin hätte tatsächlich seit „Was Tun?“ beabsichtigt, im zaristischen Russland eine Version der deutschen Sozialdemokratie zu schaffen. Das Problem ist, dass dieses Projekt einfach nicht realisierbar gewesen wäre, weil schlicht die Bedingungen fehlten – insbesondere die Entwicklung eines fortschrittlichen und expandierenden Kapitalismus, der Reformen und ein quasi-parlamentarisches bürgerliches Regime anbieten konnte – was es der SPD erlaubte, als Volkspartei an die Macht gewählt zu werden. Die Notwendigkeit der Revolution, wie Lenin sie sich vorstellte – zunächst eine bürgerliche Revolution, um die Autokratie zu vertreiben, dann eine populäre, in der die russische Bourgeoisie von unten durch Massenbewegungen von Arbeitern und Bauern vertrieben wurde – erforderte eine ganz andere Art von Partei: die Art von Partei, deren Erscheinen von Tony Cliff im ersten Band seiner Lenin-Biographie nachgezeichnet wird. Lenin und seine Kameraden machten eine Partei unter Umständen, die sie sich nicht ausgesucht hatten, und schufen, ohne es zu wollen, etwas Neues.

Eine Möglichkeit, den Unterschied zu erklären, besteht darin, eine Formulierung von Kautsky zu leihen. Er sagte bekanntlich:

Die sozialistische Partei ist eine revolutionäre Partei, nicht aber eine Revolution machende Partei. Wir wissen, dass unser Ziel nur durch eine Revolution erreicht werden kann. Wir wissen auch, dass es ebenso wenig in unserer Macht liegt, diese Revolution zu kreieren, wie es in der Macht unserer Gegner liegt, sie zu verhindern. Es gehört nicht zu unserer Arbeit, eine Revolution anzuregen oder den Weg dafür zu bereiten. Und da die Revolution nicht willkürlich von uns erschaffen werden kann, können wir überhaupt nichts darüber sagen, wann, unter welchen Bedingungen oder welchen Formen sie kommen wird. Wir wissen, dass der Klassenkampf zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat nicht enden kann, bis diese in vollem Besitz der politischen Mächte ist und sie benutzt hat, um die sozialistische Gesellschaft einzuführen. Wir wissen, dass dieser Klassenkampf sowohl extensiv als auch intensiv wachsen muss. Wir wissen, dass das Proletariat weiter an Zahl wachsen und an moralischer und wirtschaftlicher Stärke gewinnen muss und dass daher sein Sieg und der Sturz des Kapitalismus unvermeidlich sind. Aber wir können nur die vagen Vermutungen haben, wann und wie die letzten entscheidenden Schläge im sozialen Krieg geschlagen werden.

Eine revolutionäre Partei im Sinne Kautskys ist somit eine Partei, die in den Tiefen der Geschichte treibt, ein organisches Produkt der Entwicklung des Kapitalismus und des Klassenkampfes, der die fortschreitende Verschmelzung der sozialistischen Ideologie und der Arbeiterbewegung darstellt. Wie Alan Shandro es ausdrückt, nahm der Marxismus der Zweiten Internationale an, „dass das Wachstum der Produktivkräfte die Richtung der Geschichte bestimmt, dass sich das Material und die intellektuellen Bedingungen des Sozialismus parallel entwickeln und dass die marxistische Theorie und die Arbeiterbewegung sich harmonisch vereinigen.“ Die Praxis des Bolschewismus beinhaltet einen Bruch mit gerade dieser Annahme der „harmonischen Vereinigung“: wie Lenin rückblickend im „linken Radikalismus“ schildert, hängt der Erfolg der wahren Revolutionäre von genau der Art von unerbittlichem Konflikt verschiedener politischer Tendenzen ab, die Kautsky in der SPD vermeiden wollte – einschließlich, wie Trotzki in den Lektionen des Oktober betont, der heftigen Debatten, die unter bolschewistischen Aktivisten und innerhalb der Parteiführung während und nach der Revolution stattfanden.

Aber darüber hinaus waren die Bolschewiki eine Revolution machende Partei in dem Sinne, daß sie aktiv in den Klassenkampf eingreifen, um den revolutionären Prozeß mitzugestalten und zu lenken. Das wird am deutlichsten, wenn sie Aufstände organisieren – zuerst der Aufstand von Moskau im Dezember 1905 und dann natürlich die Machtergreifung im Oktober 1917. Lenins Schriften vom Herbst 1917 zeigen keine Sicherheit, dass „der Sturz des Kapitalismus unvermeidlich ist“. Im Gegenteil, er warnt eindringlich, dass, wenn die Bolschewiki den Moment nicht ergreifen, sie und die Arbeiterklasse von der konterrevolutionären Katastrophe überwältigt werden. Noch wichtiger war aber in vielerlei Hinsicht der Zeitraum zwischen April und Oktober, als die Bolschewiki systematisch die Mehrheit der Arbeiterklasse für ihre Sache gewinnen konnten. Lenin erklärte in seinen Aprilthesen, worauf es ankam:

Die Massen müssen begreifen, dass die Sowjets der Arbeiterdeputierten die einzig mögliche Form der revolutionären Regierung sind und dass daher unsere Aufgabe, solange sich diese Regierung von der Bourgeoisie beeinflussen läßt, nur in geduldiger, systematischer, beharrlicher, besonders den praktischen Bedürfnissen der Massen angepasster Aufklärung über die Fehler ihrer Taktik bestehen kann.

Der Bolschewik, Ölgemälde von Boris Kustodijew

Um die Mehrheit in den revolutionären Räten zu gewinnen, gebrauchten die Bolsheviki auch das, was später als ‚Einheitsfront‘ bezeichnet wurde. Zum Beispiel schlossen sich die Bolschewiki im August 1917 mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären zusammen, um den versuchten Militärputsch General Kornilows zu stoppen. Das demokratische und offene Leben der bolschewistischen Partei ermöglichte es, die zunehmende Radikalisierung der Arbeiter und Soldaten widerzuspiegeln und sie in Richtung der Machtergreifung zu lenken. Genauso wichtig waren die Debatten innerhalb der Partei. Die zentrale Frage, die im Herbst 1917 auf dem Spiel stand, war, ob man sich organisieren sollte, um die Macht an sich zu reißen. Lenins und Trotzkis Argumente für den Aufstand (über die genaue Taktik hatten sie verschiedene Ideen, Trotzkis Urteil erwies sich allgemein als besser) wurden öffentlich von einer Gruppe unter Führung von Sinowjew und Lew Kamenew abgelehnt. Schließlich wurde ihre Opposition von einem Ultimatum der Mehrheit des Zentralkomitees überwunden, das sie mit Disziplinarmaßnahmen bedrohte. Eine Revolution machende Partei kann nur funktionieren, wenn Konflikte in den Debatten zumindest vorläufig gelöst werden und die Minderheit die Mehrheitsentscheidungen respektiert.

Die intellektuelle Grundlage für die von den Bolschewiki verfolgte Strategie war die Theorie des Imperialismus, die Lenin während der Kriegsjahre entwickelt hatte. So schrieb er im April 1917: „Wir wollen Schluss machen mit dem imperialistischen Weltkrieg, in den Hunderte Millionen von Menschen hineingezogen, mit dem die Interessen von Hunderten und aber Hunderten Milliarden Kapital verstrickt sind, der ohne die gewaltigste Umwälzung in der Geschichte der Menschheit, ohne die proletarische Revolution nicht durch einen wirklich demokratischen Frieden beendet werden kann..“

Wie Tamas Krausz bemerkt, verlagert diese Analyse den Konflikt von den Widersprüchen innerhalb der russischen Gesellschaft, auf die Formen, die der Kapitalismus auf globaler Ebene angenommen hatte – monopolistische Blöcke, die in ihrer Konkurrenz zueinander interimperialistische Rivalitäten erzeugten, die jederzeit zu Weltkriegen eskalieren konnten, und zu denen die sozialistische Revolution der einzige Gegenpol war. Dies rechtfertigte den Drang nach sowjetischer Macht in Russland als den Beginn eines globalen revolutionären Prozesses, in dem eine neue kommunistische Internationale versuchen würde, die Aufstände der Arbeiter und nationalistische Aufstände in den Kolonien zu verbinden. Diesen Prozess zu verfolgen, erforderte die Verallgemeinerung des bolschewistischen Modells einer Revolution machenden Partei.

Das Problem ist, dass diese Innovation viel schwerer zu exportieren war als die Organisationsform der Sowjeträte, die die Arbeiter immer wieder spontan neu entdeckt hatten, indem sie einfach der Logig ihres Arbeitskampfes folgten. Die frühe Komintern stellte einen heldenhaften Versuch dar, unter enormem Zeitdruck genau das zu tun. Aber wie Tony Cliff in seiner Biographie von Lenin zeigt, war es äußerst schwierig, das, was an der bolschewistischen Strategie und Organisation wirklich neu war, auf die nationalen Besonderheiten verschiedener sozialistischer Traditionen zu übertragen. Es gab keinen leichten Ersatz für den langen und harten Prozess, durch den sich die Bolschewiki durch Arbeitskampf und Reaktion, Repression und Exil, geformt und jene Traditionen gemeinsamen Handelns, solider Debattenkultur und gegenseitigen Vertrauens geschaffen hatten, die sich 1917 bewährten. Die Macht und das Prestige der Bolschewiki nach der Revolution erwiesen sich als entscheidendes Hindernis für eine wirkliche Internationalisierung, da sie eine Tendenz der nationalen Führungen förderten, sich eher nach Moskau zu richten als kreativ die für ihre Situation geeignete Strategie und Taktik zu bestimmen. Ratschläge der Bolsheviki wurden wie Befehle gesehen. Diese Tendenz wurde durch die „Bolschewisierung“ der Komintern unter Sinowjew in der Mitte der 1920er Jahre institutionalisiert und dann in die systematische Unterordnung der nationalen kommunistischen Parteien unter die außenpolitischen Bedürfnisse des Sowjetstaates unter Stalin umgewandelt.

Da die Revolution sich nicht wie erwartet nach Westen ausbreiten konnte, wirkte der Prozeß der ungleichmäßigen und kombinierten Entwicklung, der die Bedingungen für die Revolution in den Jahren 1905 und 1917 geschaffen hatte, jetzt in die umgekehrte Richtung und begünstigte die Konterrevolution. Die Logik der zwischenstaatlichen Konkurrenz im Zentrum von Trotzkis Analyse der Besonderheiten der russischen Entwicklung erforderte weiterhin eine rasche Industrialisierung. Um diesen Imperativ wieder in Kraft zu setzen, mussten die Errungenschaften der Oktoberrevolution zerstört werden. Dies nahm eine sehr spezifische Form an, die die Linke für zwei Generationen desorientierte – nicht der sichtbare Sturz des Sowjetstaates, sondern die Transformation des bolschewistischen Regimes, das in den frühen 1920er Jahren eine Parteidiktatur war, deren Führer gefangen waren zwischen ihrem subjektiven Engagement für die Arbeiterklasse und ihrer objektiven Lage als die Manager eines Staates, der mit imperialistischen Großmächten konkurrieren musste. Wie Marx vorausgesagt hätte, triumphierte das soziale Sein über das Bewußtsein: Die erzwungene Industrialisierung Rußlands in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren unterwarf die Arbeiter und Bauern den Prioritäten der Kapitalakkumulation und verwandelte die UdSSR in eine eigene imperialistische Macht, gefangen im globalen Prozess der wirtschaftlichen und geopolitischen Konkurrenz – unter dem Banner der „Konstruktion des Sozialismus“.

In seiner präzisen und gut recherchierten ‚jüngeren Geschichte der russischen Revolutionszeit‘ schlägt Steve Smith vor, dass dieses Ergebnis darauf hindeutet, dass das bolschewistische Projekt fehlgeleitet war. Er zitiert zustimmend die Warnungen des französischen Sozialistenführers Jean Jaurès und Kautsky gegen die Erwartung, dass die sozialistische Revolution aus dem Krieg hervorgehen könnte, und fügt hinzu:

Angehörige des Frauenbataillons, das den Winterpalast verteidigte

Die Bolschewiki bezweifelten nie, dass das dekadente kapitalistische System eher früher als später zusammenbrechen würde … Einhundert Jahre später … ist klar, dass die russische Revolution nicht durch die finale Krise des Kapitalismus entstanden ist … Im 20. Jahrhundert zeigte der Kapitalismus eine enorme Dynamik und Innovation … auch wenn sie in wenigen Händen immensen Reichtum konzentrierte und neue Formen der Entfremdung schuf.

Dieses Argument scheint sich auf eine andere Idee von Kautsky zu stützen, nämlich dass der Erste Weltkrieg selbst kein unabwendbares Resultat der Entwicklung des Kapitalismus war, der sich auch friedlich zu einem global integrierten „Ultra-Imperialismus“ hätte entwickeln können. Ignoriert wird die Tatsache, dass der Kapitalismus in den Jahren nach der Oktoberrevolution die bis heute schlimmste Krise seiner Geschichte durchlief – die Große Depression von 1929-39. Im Jahr 1934 schrieb der liberale Ökonom Lionel Robbins, dass 1914 und 1929 eng miteinander verbunden seien: „Wir leben nicht im 4. sondern im 19. Jahr der Weltkrise“. Auf diese Krise folgte ein weiterer, noch destruktiverer imperialistischer Weltkrieg, in dem der Holocaust die menschliche Natur an ihrem Tiefpunkt zeigte. Wäre Lenins Plan, durch die sozialistische Revolution den globalen imperialistischen Koloß zu stürzen, aufgegangen, wäre diese Orgie der Barbarei verhindert worden. Er zitierte gern das deutsche Sprichwort: „Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende“.

Steve Smith selbst ist bereit, solche alternativen Geschichtsmodelle ernst zu nehmen. Die folgende Kritik an Lenin hat eine interessante Wendung:

Entscheidend war, dass er eine Machtstruktur hinterliess, die einen einzelnen Führer bevorzugte, und in der die Ideen und Fähigkeiten des Führers weitaus wichtiger waren als in einer Demokratie. Was daraus folgt – obwohl es oft von jenen übersehen wird, für die der Stalinismus nahtlos aus dem Leninismus hervorgeht – ist: mit Bucharin oder Trotzki als Generalsekretär hätte es die Schrecken des Stalinismus nicht gegeben, obwohl auch sie durch wirtschaftliche Rückständigkeit und internationale Isolation eingeschränkt gewesen wären.

Und was wäre gewesen, wenn die Revolution aus den Grenzen des Russischen Reiches ausgebrochen wäre? Vor allem, wie, wenn die deutsche Revolution sich nicht mit dem Sturz des Kaisers und der Einführung einer demokratischen Republik begnügt hätte? 1918-23 wurde auch in Deutschland für einen Oktober gekämpft, erfolglos, wie wir wissen. Aber wenn wir uns weigern, eine deterministische Sicht der Geschichte zu akzeptieren und bereit sind, alternative Szenarien für das bolschewistische Regime ins Auge zu fassen, dann gibt es logischerweise keinen Grund, die Möglichkeit eines revolutionären Durchbruchs außerhalb Russlands auszuschließen. Und wäre das geschehen, dann wäre die Geschichte des 20. Jahrhunderts ganz anders verlaufen. Das Fehlen von Konsumkapitalismus wäre ein geringer Preis, um Auschwitz und Hiroshima zu vermeiden und eine warhaft kommunistische Gesellschaft aufzubauen.

Fazit

Aber leider ist die Revolution gescheitert. Das bringt uns zurück zum Anfang, zu Bensaïds „Ende eines großen Zyklus“. Die Sowjetunion ist schließlich der Logik der wirtschaftlichen und geopolitischen Konkurrenz zum Opfer gefallen, gegen die sie sich überhaupt erst geformt hatte. Ein Grossteil der Linken – sogar viele Stalinkritiker – hatte sich bis zuletzt den Glauben an die UdSSR als eine – wenn auch deformierte und verzerrte – Alternative zum Kapitalismus bewahrt, so dass die Revolutionen von 1989/91 der globalen neoliberalen Offensive weiteren Aufwind verschafften. Doch inzwischen befindet sich der neoliberale Kapitalismus selbst in einer tiefen Krise – nicht nur wegen des Crashs von 2007-8 und seiner Folgen, sondern auch wegen der Revolten gegen herrschende Klassenparteien. Vor diesem Hintergrund lässt sich leicht bestätigen, dass die Oktoberrevolution auch noch in unserer Zeit von Bedeutung ist.

Und das nicht nur, weil sie bis heute der grösste Schlag ist, den das kapitalistische System jemals hinnehmen musste. Nein, die gesamte Erfahrung des Bolschewismus muss ein grundlegender Bezugspunkt für diejenigen bleiben, die danach streben, die revolutionäre marxistische Tradition fortzusetzen. Dies impliziert nicht die Art mechanischer Nachahmung, die Lenin selbst vor allem auf dem Vierten Kongress der Kommunistischen Internationale 1922 verurteilte. Trotzki, der Verfechter der „Lektionen des Oktober“, bestand stets darauf, dass die Fortsetzung einer Tradition einen Prozess der Auswahl von dem, was aus der Vergangenheit noch brauchbar ist, voraussetzt. Die großen revolutionären Erfahrungen am Ende des Ersten Weltkrieges – nicht nur Russland 1917, sondern auch Deutschland 1918-23 und Italien 1918-20 – erfordern eine gründliche kritische Untersuchung, nicht als antiquarische Übung, sondern um die wahren Ursachen der Triumphe und Misserfolge jener Jahre zu ermitteln und damit zu besseren Revolutionären in der Gegenwart zu werden.

Im Fall Russlands ermöglichte das Wirken der ungleichen und kombinierten Entwicklung im Kontext des imperialistischen Weltkriegs eine Verschmelzung des Allgemeinen und des Besonderen, vor allem die allgemeine Tendenz der Massenarbeitskämpfe, alternative Machtstrukturen zu erschaffen und die besondere Existenz einer revolutionären Partei, die in der Lage war, diese Situation auszunutzen. Kann solch eine einzigartige Konvergenz wiederholt werden? Es ist die Überzeugung der revolutionären marxistischen Politik, dass das möglich ist. Das Zusammentreffen von populärer Selbstorganisation und einer revolutionären Volkspartei wird sicherlich unter ganz anderen Bedingungen und Formen stattfinden als in Rußland im Jahre 1917. Aber wie gross die Siege dieser kommenden Revolutionen auch sein mögen, sie werden nicht das Licht überstrahlen, das vom 25. Oktober 1917 ausgeht, dem Tag, als die russische Arbeiterklasse zeigte, dass – und wie – das Kapital gebrochen werden kann.

Dieser Beitrag erschien zuerst im Quartalsmagazin International Socialism Ausgabe 156. Übersetzt von San Holo.

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