In Deutschland gibt es ein langfristig und nach 2015 beschleunigt wachsendes links-progressives Potential und eine inzwischen existenziell gefährdete Partei DIE LINKE und beide können bisher nicht recht zueinander finden. Die Resultate der Bundestagswahl 2021, das Beinahe-Scheitern der LINKEN und die Bildung einer Ampel-Koalition spitzen dieses strategische Dilemma weiter zu. Was ist das Problem, gibt es eine Lösung und welche Perspektiven eröffnen sich? In sechs aufeinander bezogenen Beiträgen bearbeitet unser Autor Fiete Saß das Thema. Fiete ist stellvertretender Sprecher der Kölner LINKEN.
Teil 1 war der Frage gewidmet „Was ist links-progressiv?“. Fiete zeigte auf, dass es weniger eine Frage der subjektiven Bewusstheit als eine Folge ungleichzeitiger ökonomischer und sozialer Entwicklung im Umbruch des kapitalistischen Weltsystems ist, dass sich zur Rechten wie zur Linken progressive und zurückbleibende Klassensegmente herausbilden, die sich ganz unterschiedlich politisch positionieren.
Teil 2 zeichnete nach, wie sich seit etwa 2015 ein erneuertes und verbreitertes links-progressiven Potential in Deutschland herausbildete. Dabei spielten die zahlreichen Bewegungsaktivitäten und die Zunahme gewerkschaftlicher Kämpfe eine zentrale Rolle. Auch die Kapitalseite hat neue, zum Teil gegenläufige Zukunftsperspektiven im Blick und aus dieser Gemengelage entstand der Möglichkeitsraum, den nun die Ampel-Koalition versucht zu füllen. Dabei wird sie sich in diverse Widersprüche verstricken und Bewegungen und Gewerkschaften können daraus erweiterte Handlungsmöglichkeiten gewinnen.
In diesem Beitrag wird es nun empirisch. Wie positionieren sich linke und progressive Kräfte an den Wahlurnen? Welche Probleme hat gerade das links-progressive Spektrum und welche Probleme hat die Partei DIE LINKE – zwei, die sich so schwertun, zueinander zu finden. Welches Potential hätte die links-progressive Partei?
Das progressive Potential in Deutschland entwickelt sich ausgehend von den Großstädten. Dies sind in Deutschland die Orte, wo progressive politische Trends zuerst deutlich sichtbar werden. Der Aufstieg der SPD – damals eine progressive Kraft – in den 60er und 70er Jahren ging von den Großstädten aus, ebenso wie die Etablierung der Grünen und später der neugegründeten WASG/DIE LINKE in Westdeutschland. Auch die hier zu diskutierenden neuen Entwicklungen in den Großstädten werden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als Trendindikatoren für das ganze Land erweisen.
Die mit einem Aufschwung progressiver Bewegungen einhergehende Herausbildung eines links-progressiven Potentials in den letzten Jahren in Deutschland werde ich im nächsten Beitrag dieser Reihe betrachten. Dieser Prozess zeigt sich auf der parteipolitischen Ebene bisher vor allem als Ausdifferenzierung des bisherigen Umfeldes von Grünen und LINKEN, das in der Wahlstatistik meist ein eng verbundenes Cluster bildet. Hier geht es darum, zunächst dieses bisherige grün-links-progressive Cluster, dem auch die Wähler*innen weiterer kleinerer Parteien zuzurechnen sind, in seinem Zusammenhang und seinem relativen Abstand zu anderen Parteien einzuordnen.
Das progressive Cluster in den Großstädten
Im Folgenden verwende ich vor allem Ergebnisse der EU-Wahl 2019. Da es bei der EU-Wahl keine Sperrklausel gibt, sind dort die hier interessierende politische Differenzierungen klarer erkennbarer als bei Bundes- und Landtagswahlen.
Die Wahlergebnisse der Top 20 Großstädte in Deutschland bei dieser Wahl werden als trendanzeigendes Sample betrachtet. In diesen 20 größten Großstädten lebten 11.058.123 Wahlberechtigte, ca. 18 Prozent aller Wahlberechtigten. In den insgesamt 9.390 Wahlbezirken mit durchschnittlich 1.178 Wahlberechtigten (Min. 70, Max. 3.393) und 518 Urnenwähler*innen (Min. 23, Max. 1.761) gaben 4.872.761 Wähler*innen ihre Stimme an der Urne ab. Das waren ca. 13 Prozent aller Wählenden in Deutschland.
Die dort in denselben Stimmbezirken abstimmenden Menschen sind einander buchstäblich nahe durch den in räumlicher Nähe gelegenen Wohnort. Damit gehen natürlich vielfach ähnliche Klassenlagen und Milieus einher, ohne dass dies anhand der hier verwendeten Daten direkt analysiert werden könnte. Die angetroffenen positiven Korrelationen zwischen der Wahlhäufigkeit bestimmter Parteien deuten also auf eine gemeinsame soziale, lokal vermittelte Basis der betreffenden Parteien; negative Korrelationen deuten auf das Gegenteil hin. Eine politisch-inhaltliche Nähe zwischen den betreffenden Parteien ist damit nicht impliziert.
Zusammenfassen lassen die Daten erkennen, dass AfD und CDU/CSU in den TOP 20 Großstädten deutlich unterdurchschnittliche Ergebnisse erzielten, während Volt, Diem25, DIE PARTEI, Piraten, LINKE und Grüne in diesem städtischen Raum weit überdurchschnittlich repräsentiert sind. SPD und FDP erzielten durchschnittliche Anteile. Die übrigen an der EU-Wahl beteiligten Parteien waren alle erfolglos und sind irrelevant für die Zwecke dieses Textes.
Progressives Cluster in den Top 20 Großstädten
Die statistische Analyse der Wahlergebnisse der EU-Wahl 2019 auf Stimmbezirksebene in den Top 20 Großstädten zeigt zwei durchgängig präsente Cluster. Die soziale Basis von CDU und FDP überschneidet sich stark (vgl. auch Neu/Pokorny 2021), was wir hier aber nicht näher verfolgen werden. Was uns eigentlich interessiert, ist die sich ebenfalls deutlich überlappende soziale Basis von Grün, LINKE und Co.
Ein durchgängiges Korrelationscluster in den Top 20 Großstädten umfasst neben den Grünen und DIE LINKE auch die kleineren linken, grünen oder links-liberalen Parteien: Piraten, Volt, Die PARTEI, Diem25, denen sich bei Kommunalwahlen mancherorts weitere lokale, grün-links-liberale Wähler*innengruppen zugesellen.
Mit anderen Worten: Wo überdurchschnittlich viel Grün gewählt wird, erzielen auch die übrigen genannten Parteien zumeist überdurchschnittliche Wahlergebnisse und umgekehrt.
Die Korrelationskoeffizienten zwischen den Grünen und den übrigen Parteien dieses Clusters in den einzelnen Städten sind der Abbildung 1 zu entnehmen. In der Abbildung sind die Städte nach den Korrelationskoeffizienten zwischen Grünen und LINKEN sortiert und es zeigt sich ein „Kanal“ tendenziell zunehmender Korrelationen auch mit den anderen grün-linken Parteien (zu Ost-Berlin s.u.), durch dessen mittleren Bereich die Korrelationen mit der LINKEN verlaufen. Volt und Die PARTEI sind meist näher an den Grünen als DIE LINKE, die Piraten ferner.
Ein ähnlicher „Kanal“ erscheint in Abb. 2, wenn man die Sache von der LINKEN aus betrachtet. Hier ist es Die PARTEI, die der Linken stets näher ist als die Grünen. Die Piraten sind der LINKEN ferner als die Grünen, während Volt und Diem25 innerhalb des so bezeichneten Kanals variieren. Die Analyse zeigt, dass diese kleinen Konkurrenten der LINKEN so nahe sind, dass es gar nicht erstaunlich ist, wenn sie ihre Zuwächse auf deren Kosten erzielen. Andererseits wird auch erkennbar, dass DIE LINKE heute in den Großstädten nicht die „bessere SPD“ ist, sondern für ihre Wähler*innen vielmehr zur linken Hälfte des progressiven Clusters zu rechnen ist. Die soziale Verankerung in diesen Milieus, in denen auch die Grünen und die Kleinparteien unterwegs sind, ist heute das Kraftzentrum der LINKEN in den Großstädten. Deren ehem. Vorsitzender Riexinger spricht in dem Zusammenhang von einer „neuen Arbeiter*innenklasse“, auf die er sich und die Partei bezieht (Riexinger 2018).
Ein Sonderfall ist Ost-Berlin. Hier bilden SPD, CDU und FDP mit der AfD ein Cluster wechselseitiger, meist hoher Korrelationen. Andererseits sind Grüne, Die PARTEI, Volt und Diem25 mit sehr hohen Korrelationen (um r=0,8) verbunden. DIE LINKE steht der ersten Gruppe deutlich näher, zur zweiten hat sie kaum soziale Nähe. Die Korrelation zwischen DIE LINKE und AfD beträgt r=0,35, ist also unerwarteter Weise positiv und der höchste Wert zwischen den beiden Parteien unter den Top20 (vgl. Abb. 4). Ein irritierender, atypischer Befund, den ich hier nicht vertiefen kann.
Die Grünen korrelieren ansonsten besonders stark mit Volt, und DIE LINKE mit Die PARTEI und Diem25. Sehr hohe Korrelationen verbanden Die PARTEI und DIE LINKE bei der EU-Wahl im Westen Berlins (r=0,85), Hannover (r=0,82), Leipzig (r=0,77), und bei der Kommunalwahl 2020 in Wuppertal (r=0,81) und Bielefeld (r=0,78).
Auch unter den kleinen Parteien – mit Einschränkungen nur für die Piraten – bestehen wechselseitig hohe Korrelationswerte, sie bilden tatsächlich ein lückenloses Cluster (ohne Abb.). Die Piraten sind positiv, aber weniger stark mit den anderen Parteien des grün-linken Clusters korreliert, aber auch mit der SPD. Ihre noch verbliebene soziale Basis ist also meist zwischen SPD und dem grün-linken Cluster verortet.
Gegenpositionen im grün-linken Cluster zu CDU/CSU und AfD
Der relative politisch-soziale Zusammenhang des progressiven Clusters wird auch deutlich in der gemeinsamen Gegenposition zu CDU/CSU und AfD.
Die Unionsparteien – ein Unikum bürgerlicher Hegemonie – waren seit 1945 die zentrale politische Kraft, die die Herrschaft bürgerlicher Eliten in der BRD gewährleistet. Die soziale Distanz zu ihr ist deshalb ein relevantes Kriterium des „Linksseins“ der grün-linken Parteien. Wie die Grafik zeigt, weisen die Parteien DIE LINKE, Die PARTEI, Volt, die Piraten und Diem25 in den meisten Top 20 Großstädten negative Korrelationen mit der CDU auf. Dies gilt besonders deutlich für DIE LINKE und Die PARTEI, etwas weniger ausgeprägt für Diem25 und
Volt und noch schwächer bei den Piraten. Bei den Grünen dagegen ist die Korrelation zur CDU nur in drei Orten negativ, in der Regel leicht positiv und in drei Orten deutlich positiv, also insgesamt eher positiv.
Zur AfD weisen alle grün-linken Parteien bis auf die Piraten eine in der Regel negative Korrelation auf. Am ausgeprägtesten ist das bei Volt und Diem25 zu beobachten, weniger stark bei DIE LINKE und die Grünen ordnen sich dazwischen ein.
Die FDP – ein Fall für sich
Ein Fall für sich ist die FDP, das Chamäleon unter den Parteien (Abbildung 5). Oben wurde bereits erwähnt, dass ihre soziale Basis der CDU mit Abstand am nächsten steht, nicht allerdings der CSU in Bayern. Wie verhält es sich mit den progressiven Parteien? Die Grünen weisen eine unverkennbare soziale Nähe zur FDP auf und auch DIE LINKE und Volt zeigen deutlich positive Korrelationen, die bei Diem25 nur noch schwach ausgeprägt sind und bei den Piraten in Indifferenz übergehen. Die FDP erreicht neben selbstständigen Mittelschichten auch qualifizierte, gut situierte Lohnabhängige und junge Leute. Bei der Bundestagswahl konnte sie 400.000 Erstwählende gewinnen und der LINKEN im Vergleich zu 2017 immerhin 160.000 Wählende abspenstig machen. Die Grünen wiederum konnten der FDP 370.000 Wählende abwerben (Infratest dimap 2021). Die FDP nahm also aktiv an der Konkurrenz im progressiven Spektrum teil. Die Daten legen den Schluss nahe, dass es ein sozial-liberales Potential gibt, das sogar die Lindner-FDP teilweise erreicht. Das bietet der FDP bei einer möglichen weiteren Linksverschiebung des Kräfteverhältnis noch unerschlossene strategische Optionen.
SPD – von der Volkspartei zur Allerweltspartei
Ist die SPD nicht doch irgendwie auch eine linke oder progressive Partei? Die Wähler*innen-Basis der SPD ist in den Top 20 Großstädten meist der der CDU am nächsten, dicht gefolgt von FDP und AfD. Auch die Korrelation mit den Grünen ist positiv, aber meist etwas geringer ausgeprägt. In Bezug auf DIE LINKE und die Nichtwähler ergibt sich kein einheitliches Bild. In Duisburg und Köln findet sich die soziale Basis der SPD sehr dicht an der AfD und den Nichtwählern. Insgesamt ist die SPD den anderen Parteien einschließlich der AfD in der Regel näher als der LINKEN.
Bei der Gelegenheit sei nochmals darauf hingewiesen, dass es hier um die Einschätzung der sozialen Wähler*innenbasis geht. Will man die Parteien selber analysieren, dann ergänzt die hier präsentierte statistische Analyse die politische und partei-soziologische Analyse, ersetzt sie aber nicht. Im Falle der SPD ist beispielsweise von Bedeutung, dass ein beträchtlicher Teil der Mitgliedschaft von immer noch über 400.000 Menschen manche der progressiven Überzeugungen der grünen und linken Konkurrenz durchaus teilt. Dies wird auch in sozialdemokratischen Wahlprogrammen regelmäßig angedeutet. „Oft kann man bei der Linken und den Grünen nachlesen, wie ein SPD-Plan gelingen könnte“ (SZ 19.09.2021). Allerdings wird sozialdemokratische Politik nach der Wahl von pragmatischen Parlamentarier*innen und Minister*innen gestaltet. Viele der heute der SPD noch treuen Wähler*innen wiederum scheinen genau diesen „sozial-konservativen“ Politikstil mehr zu schätzen als progressive Angebote, die anderswo glaubwürdiger serviert werden.
Zwischenfazit
Das Stimmenpotential des progressiven Clusters wächst langfristig, aktuell vor allem erkennbar am Zuwachs der Grünen und der kleinen Parteien. Das ist vermutlich ein Indikator für die politische Tendenz der ganzen Gesellschaft. Bei der EU-Wahl 2019 hat das grün-linke Cluster in den TOP 20 Großstädten 42,5 Prozent der Stimmen erzielt, bei der Bundestagswahl 2021 32,17 Prozent.
Zusammenfassend halten wir fest, dass Grüne, DIE LINKE und die kleinen Parteien Volt, Die PARTEI, Diem25, in geringerem Maße die Piraten in stark überlappenden, grün-links-progressiven Wähler*innengruppen ihre soziale Basis finden. Die Grünen unterscheiden sich etwas durch eine größere soziale Nähe zu CDU und FDP. DIE LINKE steht mit ihrer Wähler*innenbasis der SPD trotz historischer Bezüge nicht näher als andere Parteien, sie ist Teil der linken Hälfte eines grün-linken, progressiven Clusters.
Der Vormarsch der kleinen grün-linken Parteien – praktische Kritik von Grünen und LINKEN
Seit 2005 konnten sich neben den Grünen und der Partei DIE LINKE nach und nach mehrere kleine, bundesweit agierende Parteien im grün-links-liberalen Spektrum formieren. Das belegt, dass das aktuelle Angebot von Grünen und LINKEN erhebliche Lücken aufweist, die diese neuen Mitspieler erschließen. Dies möchte ich zunächst mit drei Beispielen aufzeigen.
Beginnen wir mit Freiburg im Breisgau, die grüne Hochburg schlechthin. In Freiburg gab es 2002 den ersten Grünen Oberbürgermeister in einer deutschen Großstadt. Bei den Bundestagswahlen im gleichen Jahr hatten die Grünen mit 25 Prozent den bundesweit besten Wahlkreis. Und das gleich nochmal in 2005 mit 22,5 Prozent. Das sind Werte, die die Grünen bundesweit bei Bundestagswahlen auch heute noch nicht erreicht haben. Was ist daraus geworden bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg 2021?
Inzwischen stehen die Grünen bei 42 Prozent. Und was ist das da? DIE LINKE erzielte 12,2 Prozent. Nanu, ist das nicht Baden-Württemberg? Was ist denn da passiert? Dazu sagt das Amt für Bürgerservice und Informationsmanagement: „…am stärksten hinzugewinnen konnte DIE LINKE. Mit einem im Vergleich zum Landesschnitt deutlich überdurchschnittlichen Plus von 3,8 Prozentpunkten, kommt diese nun auf 12,2 Prozent, ein Ergebnis auf Augenhöhe mit der Freiburger CDU und der SPD. (…) Der Erfolg der Linken geht vor allem auf Jungwähler und ehemalige Grünen-Wähler zurück.“ (Analyse der Landtagswahl 2021, Stadt Freiburg im Breisgau, Amt für Bürgerservice und Informationsmanagement).
Es sei noch ergänzt: Vor allem bei den Jahrgängen unter 35 Jahren und besonders bei den jungen Frauen konnte DIE LINKE punkten, wie auf der nächsten Abbildung ersichtlich.
Das gibt es also, mitten in Baden-Württemberg. Und neben Grünen und LINKEN konnten sich unter den „Sonstigen“ auch noch DIE PARTEI, die Klimaliste und Volt mit weiteren 5,7 Prozent behaupten. Insgesamt hat hier das grün-linke Cluster ca. 60 Prozent erzielt.
Die bei der Landtagswahl geltende 5-Prozent-Hürde maskiert dabei ein in Freiburg noch weit größeres links-progressives Differenzierungspotential. Bei der Kommunalwahl 2019 gab es dort eine ganze Anzahl weiterer, lokaler Listen, insgesamt 17,1 Prozent der Stimmen, deren Wähler*innen sich bei Landtags- und Bundestagswahlen überwiegend Grünen und Linken zuwenden (siehe Abb.).
Bei der Bundestagswahl 2021 in Freiburg konnten SPD und FDP Boden wieder gut machen. Die Grünen erzielten nur noch 36 Prozent, DIE LINKE 8,4 Prozent, Die Partei 1 Prozent, Piraten 0,3 Prozent und Volt 0,5 Prozent, insgesamt also immer noch 46,2 Prozent für das grün-linke Cluster.
Ist Freiburg ein Sonderfall? Das schien bereits 2002 so und 20 Jahre später scheint es immer noch so. Man kann das mit lokalen Bedingungen erklären: Hochschulstandort, erneuerbare Energiewirtschaft und so weiter. Der andere, ergänzende Erklärungsansatz heißt ungleichzeitige Entwicklung. In Freiburg sind gesellschaftliche und sozialökonomische Trends wirksam, die den Rest des Landes erst später erfassen. In Wahlergebnissen gemessen beträgt der Abstand 15-20 Jahre.
Freiburg ist eine eher kleine Großstadt. Schauen wir also mal auf eine „richtige“ Großstadt, nämlich auf die Ergebnisse der Europawahl 2019 in Berlin.
Das Resultat der EU-Wahl 2019 in Berlin weist durchaus strukturelle Ähnlichkeiten mit dem kleinen Freiburg auf. Die Grünen sind nicht ganz so stark, sie sind aber mit Abstand die stärkste Partei. Und DIE LINKE ist nicht ganz auf Augenhöhe mit CDU und SPD, aber auch nicht weit weg. Gemeinsam mit den kleinen links-progressiven Parteien Piraten, DIE PARTEI und Diem25 mit insgesamt 6,8 Prozent – ergeben sich eindrucksvolle 47,7 Prozent für das grün-linke Cluster.
Bei den Wahlen 2021 verschiebt sich das Bild durch Zugewinne von SPD und FDP und den Umstand, dass die kleinen Parteien unter der 5-Prozent-Hürde sehr viel schlechter abschneiden. Erzielten sie bei der EU-Wahl 6,8 Prozent, waren bei der Abgeordnetenhauswahl noch 3,7 Prozent und bei der Bundestagswahl 2,6 Prozent. Das ist nicht überraschend. Es wäre voreilig, daraus schließen zu wollen, dass die durch ihr Aufkommen signalisierte Unzufriedenheit mit Grünen und LINKEN verschwunden wäre.
Als drittes Beispiel schauen wir nun noch nach Köln. Dort wurde zwischen der EU-Wahl und der Bundestagwahl in 2020 eine Stadtratswahl ohne Prozenthürde durchgeführt. Das gibt uns interessante Vergleichsmöglichkeiten.
Bei der EU-Wahl 2019 erzielten die Grünen ein Kölner Rekordergebnis mit 32,7 Prozent und 156.000 Stimmen. DIE LINKE mit 6,1 Prozent war nicht so zufrieden. Volt trat erstmals an, damals mit 1,6 Prozent und Die PARTEI sehr stark mit 3,3. Und was ist dann 16 Monate später bei der Kommunalwahl passiert?
Die Grünen haben gegenüber der EU-Wahl bei etwas geringerer Wahlbeteiligung 37.000 Stimmen, fast jede vierte Stimme, verloren. DIE LINKE konnte davon nicht profitieren, sondern hat in absoluten Stimmen selber etwas Federn gelassen. Die Piraten sind gar nicht angetreten. Volt dagegen ist auf 5 Prozent hochgeschnellt. Und die wurden vorrangig in Hochburgen der LINKEN erzielt, besonders in der Innenstadt, wo letztere dann enttäuschend abschnitten. Die PARTEI hat deutlich verloren. Ihnen kam die OB-Kandidatin abhanden. Ist das ein Sonderfall oder hat diese Partei ihren Zenit überschritten? Die lokalen Klimalisten „Klimafreunde“ und „GUT“ konnten ihren Anteil gegenüber der letzten Ratswahl verdoppeln. Insgesamt verfehlt auch in Köln das grün-linke Cluster ähnlich wie in Berlin nur knapp die Mehrheit.
Insgesamt haben die kleinen links-grünen Parteien 2020 in Köln 11,5 Prozent erzielt, größtenteils aus dem vormals grünen Potential, während DIE LINKE von dem Abschmelzen der seit 2015 in einer schwarz-grünen Koalition gebundenen Grünen überhaupt nicht profitieren konnte. Da lief offenkundig etwas an der LINKEN vorbei. Bei der Bundestagswahl gewannen SPD und FDP im Vergleich wie andernorts hinzu. Das Spektrum der kleinen links-grünen Parteien erzielte nur 2,45 Prozent, also 9 Prozent weniger als bei der Kommunalwahl. Davon konnte DIE LINKE überhaupt nicht profitieren, die Dynamik im grün-linken Spektrum lief erneut an ihr vorbei.
Diese drei Beispiele mögen genügen, um die Ausdifferenzierung des grün-linken Clusters zu illustrieren.
Quantitative Abschätzung des links-progressiven Potentials
Wie groß ist das links-progressive Potential in den Top20 Großstädten? 39 Prozent der Grünen-Wähler*innen hatten 2020 Sympathien für DIE LINKE und umgekehrt 57 Prozent der LINKE-Wähler*innen für die Grünen (Neu/Pokorny 2021). Ich nehme an, dass die Wähler*innen der Grünen in den Großstädten etwas weiter links sind und die der LINKEN deutlich progressiver und zähle hier 45 Prozent der Grünen und 80 Prozent der LINKEN-Wähler*innen zum links-progressiven Potential. Weiter hatten im Jahr 2020 57 Prozent der SPD-Wähler*innen Sympathien für die Grünen und 29 Prozent für DIE LINKE und 10 Prozent konnten sich vorstellen, DIE LINKE zu wählen (Alle Werte aus Neu/Pokorny 2021). Tatsächlich gelang es der SPD bei der Bundestagswahl 2021 in großem Umfang Stimmen bei Grünen und LINKEN abzuziehen, so dass ihr links-progressiver Anteil stieg. Deshalb schätze ich den links-progressiven Anteil an den SPD-Wählern für die EU-Wahl 2019 mit 10 Prozent ab und für die Bundestagswahl 2021 mit 20 Prozent. Die Wähler*innen von Die PARTEI und Diem25 (EU-Wahl) rechne ich komplett, die von Volt zu 50 Prozent und die der Piraten zu 30 Prozent dem links-progressiven Potential zu.
Gemittelt über die EU-Wahl 2019 und die Bundestagwahl 2021 ergibt sich die folgende quantitative Abschätzung für das links-progressive Potential in den Top20 Großstädten:
Das durchschnittliche Potential beträgt also 24 Prozent und damit etwa das dreifache der aktuellen Wahlergebnisse der LINKEN in diesen Städten. Selten gelingt es einer Partei, ihr Potential auszuschöpfen, doch zweistellige Ergebnisse in den meisten Top20 Großstädten sind einer klar links-progressiven Partei offenbar zuzutrauen.
Was sagt das über die Größe des links-progressiven Potentials in ganz Deutschland?
Grüne und LINKE erzielten bei den beiden letzten bundesweiten Wahlen, der EU-Wahl 2019 und der Bundestagswahl 2021, jeweils etwa 25 Prozent ihrer Stimmen in den TOP20 Großstädten. Nehmen wir das als Indikator für die Verteilung der links-progressiven Stimmen, dann ergibt sich ein Potential von aktuell ca. 7 Mio. links-progressiven Stimmen bei bundesweiten Wahlen. Das entspricht 15 Prozent bei der Bundestagswahl und 18,5 Prozent bei der Europawahl. Auf Grund der geringeren Anzahl progressiv orientierter Menschen in den kleineren Städten und auf dem Land ist dieses Potential nicht ganz so groß wie in den Großstädten, sollte aber bei konsequenter Adressierung reichen, um 10 Prozent und mehr zu erreichen, sicherlich aber über 5 Prozent zu landen.
Womit nun gezeigt ist: Das links-progressive Potential in Deutschland, dessen jüngstes Anwachsen im letzten Beitrag dieser Serie nachgezeichnet wurde, ist groß genug, um eine links-progressive Partei zu tragen. Um zwei konkurrierende Parteien über die 5-Prozent-Hürde und in den Bundestag zu bringen, ist es wahrscheinlich noch nicht groß genug. Dies gilt ganz sicher für drei oder mehr konkurrierende links-progressive Parteien. Eine Feststellung, die vielleicht nicht überrascht, aber mit Blick auf die bereits vorfindliche Vielfalt des Angebots und die munter laufenden weiteren Parteigründungsprojekte im links-progressiven Spektrum durchaus angebracht scheint.
Teil 4 der Serie wird sich der Frage nach den Inhalten der links-progressiven Alternative widmen. Die Themen der Bewegungen und der kleinen Parteien geben deutliche Hinweise, welche unerfüllten Erwartungen die Wählenden an eine links-progressive Kraft hegen, und welches Profil aus dieser Sicht erfolgversprechend scheint.
Abschließend frage ich: Wo stehen wir und was ist zu tun? Welche Perspektive bietet sich den vielen Menschen, die jetzt in der Klimabewegung, bei „Deutsche Wohnen enteignen“ und „Recht auf Stadt“, in der Frauenbewegung und natürlich in den Gewerkschaften für eine wirklich andere Politik streiten? Wo steht DIE LINKE? Mit welchen Projekten kann sie eine links-progressive Ausrichtung vorantreiben? Wie kann jetzt das links-progressive Potential politisch wirksam werden?
Literatur und Quellen
Viola Neu/Sabine Pokorny: Vermessung der Wählerschaft vor der Bundestagswahl 2021, Juli 2021, https://www.kas.de/de/monitor/detail/-/content/vermessung-der-waehlerschaft-vor-der-bundestagswahl-2021
Die Wahlergebnisse und die daraus vom Autor berechneten Kennzahlen beruhen auf Angaben auf den Webseiten der kommunalen Wahlämter der Kommunen, bzw. Länder Berlin, Bielefeld, Bochum, Bonn, Bremen, Dortmund, Dresden, Duisburg, Düsseldorf, Essen, Frankfurt a.M., Freiburg i.Br., Hamburg, Hannover, Köln, Leipzig, München, Münster, Nürnberg, Stuttgart, Wupppertal.
Eine Antwort
Hervorgehoben werden muß an dieser Stelle die ebenfalls zum links-progressiven Milieu gehörende Deutsche Kommunistische Partei, die DKP.
Obwohl die 1968 gegründete Partei vor allem lokal Wahlerfolge in Vergangenheit und Gegenwart feiern konnte, wie zum Beispiel in Bottrop (5,8%), Mörfelden-Walldorf (14,0%), Reinheim-Ueberau (39,0%), Gladbeck, Heidenheim, Püttlingen, jeweils 2016 bzw. 2020, so spiegelte sich das vor allem bei Kommunalwahlen wieder, während sie bei Landtagswahlen weniger (vor allem Anfang der 70er Jahre mit bis zu 3,1% wie in Bremen) und bei Bundestagswahlen nur 0,3% 1972 bzw. 1976 erhielt.
Es ist zu konstatieren, das die DKP interessanterweise vor allem in den 70er und auch 80er Jahren sehr erheblichen Einfluß im Kultur- und Kunstbereich hatte, wo sehr viele DKP-Mitglieder bzw. Sympathisanten waren und/oder weiterhin sind. Renommierte Schriftsteller und Autoren ( Uwe Timm, Peter Schütt, Max von der Grün, Gisela Elsner, Gerd Fuchs, Günter Herburger, Martin Walser, Erika Runge, Ronald M. Schernikau, Erasmus Schöfer, Erich Köhler, usw.), Künstlern, Musikern (die Rockband Floh de Cologne, die Rockband Lokomotive Kreuzberg (SEW), Dieter Bohlen, Franz Josef Degenhardt, Hannes Wader, Dieter Süverkrüp, Esther Bejarano, Kai Degenhardt usw.), den Kulturschaffenden, viele bekannte Journalisten (Tissy Bruns, Florence Herve, Lorenz Knorr, Franz Sommerfeld, Gero von Randow, Georg Polikeit, Ulrich Sander, Arnold Schölzel, Conrad Schuhler u.a.), Wissenschaftler (Georg Fülberth, Günter Amendt, Jörg Huffschmid, Axel Troost…), Maler (Hans Rogalla) usw. usw.
Die Studentenorganisation der DKP, der Marxistische Studentenbund MSB Spartakus, war mit die stärkste Oeganisation unter den Studenten an den Universitäten und Hochschulen.
Dabei muß man bei der Betrachtung der Wahlergebnisse noch zusätzlich berücksichtigen, das gerade auch in den 70er und 80er Jahren der Antikommunismus damals stark verbreitet war (und noch ist), viele wegen der Berufsverbote im Öffentlichen Dienst, bei Post und Bahn („Radikalenerlaß“) und aus der Meinung heraus, das sie ihre Stimme nicht an eine Partei verschenken wollen, die unter die5%- Klausel fällt und zähneknirschend demgemäß immer wieder jahrzehntelang „das kleinere Übel wählen.
All das oben genannte soll darlegen, das nicht allein die Wahlergebnisse dementsprechend bei der Betrachtung ausschlaggebend sind.
Und aus unserem eigenen Freundes- und Bekanntenkreis wissen wir, das viele aus Enttäuschung über die Entwicklung der Partei Die Linke sich der DKP zuwenden.