Der Zusammenbruch der sogenannten sozialistischen Staatenwelt zu Beginn der 1990er Jahre hat nicht nur das Verschwinden von politischen Systemen zur Folge gehabt. Auch die Organisationsstrukturen, die kulturellen Traditionen der sozialistischen und kommunistischen Arbeiterbewegung, der Solidaritätsbegriff, das sozialistische Projekt und seine Gesellschaftskonzeptionen durchlebten einen Prozess des Niedergangs, der im Grunde erst mit Beginn des 21. Jahrhunderts langsam gebremst, und schließlich aufgehalten werden konnte.
In der Bundesrepublik beispielsweise schaffte es die Linke erst mit der Fusion von WASG und PDS zur Partei DIE LINKE – trotz aller mehr als berechtigter Kritikpunkte – wieder zu einer gesellschaftlich hörbaren Stimme zu werden. Auch die marxistische Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie musste erst durch ein Tal des intellektuellen Schweigens schreiten, ehe sie wieder zu einem auch vom bürgerlichen Feuilleton nicht mehr zu ignorierendem Faktor werden konnte. Eklatant war in diesem Kontext die Niederlage des jugoslawischen Sozialismusmodells. Nicht nur brach der Staat in blutigen Bürgerkriegen auseinander, auch der einst für seinen Mut und Eigensinn international geachtete Bund der Kommunisten Jugoslawiens zerfiel in separatistische nationale Parteien. In Kroatienbeispielsweise trat ein großer Teil des Bundes der Kommunisten in die nationalistische Kroatische Demokratische Gemeinschaft (HDZ) von Franjo Tuđman ein. Die Sozialdemokratische Partei Kroatiens (SDP), offizielle Nachfolgeorganisation des Bundes der Kommunisten, verlor sich zwischen Nationalismus und Reformismus. In Serbien formierte sich unter Führung von Slobodan Milošević die Sozialistische Partei Serbiens (SPS). Sie war einer der hauptverantwortlichen Akteure im jugoslawischen Bürgerkriegund, mit Ausnahme der Zeitspanne zwischen 2000 und 2008, ständig an der Regierung beteiligt. Auch in Slowenien, Bulgarien und Rumänien konvertierten nach 1990 die Kommunistischen Parteien zu im besten Falle Vertreterinnen des „Dritten Weges“. Die sozialistische Linke blieb heimatlos, ohne jegliche Infrastruktur und an den gesellschaftspolitischen und medialen Rand gedrängt.
Der Beginn des Aufbaus einer „Neuen Linken“in Südosteuropa,[1] von Staat zu Staat in seiner Nachhaltigkeit sehr unterschiedlich, lässt auf die Finanzkrise von 2008 datieren. Diese Krise hat, nach zwei Jahrzehnten ideologischer Hegemonie neoliberaler und neokonservativer politischer Akteure, langsam aber kontinuierlich den Raum für eine öffentliche Artikulation antikapitalistischer Kritik im postsozialistischen Balkan eröffnet. Die Bandbreite der entstandenen, teilweise weiterhin entstehenden linken politischen Akteure reicht dabei über eher informelle Zusammenschlüsse im Kontext von konkreten politischen und sozialen Kämpfen, über linksradikale Nichtregierungsorganisationen, die aus der in Südosteuropa agilen Studierendenbewegung hervorgegangen sind, über kleinere parteiähnliche Organisationen bis hin zu mehr oder weniger stabilen Parteien und Parteienkoalitionen – vor allem auf lokaler Ebene. Wir versuchen hier einen Überblick zu bieten.
Politische Grundprämissen
Die „Neue Linke“ in Südosteuropa ist mehrheitlich kritisch gegenüber dem bestehenden Parlamentarismus, und sie tritt überwiegend für eine direkte, partizipatorische und horizontale Demokratie ein. Sie artikuliert Kritik an der sogenannten postsozialistischen „Transition“, die zu enormen Ungleichheiten und massiver Arbeitslosigkeit und Armut geführt hat, und weiterhin führt. Sie stellt sich gegen die dominierende konservative, religiöse, patriarchalische und nationalistische Ideologie. Sie verteidigt gemeinsame und öffentliche Güter, einschließlich natürlicher Ressourcen, und sie verteidigt die Überreste des sozialistischen Wohlfahrtsstaates gegen die fortschreitende Privatisierung und Ausbeutung. Schließlich vertritt sie einen internationalistischen, d.h. antinationalistischen und antifaschistischen Ansatz.
Trotz ihres internationalistischen Grundansatzes nimmt sie gegenüber der Europäischen Union eine reservierte, bisweilen auch ablehnende Position ein. Die inzwischen mehr als abgedroschen wirkende Erzählung von „europäischen Werten“ wie Frieden, Gerechtigkeit, Toleranz und Wohlstand für Alle verfängt nicht mehr unwidersprochen in der öffentlichen Debatte. Weder in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union wie Bulgarien, Kroatien, Rumänien und Slowenien, noch in der Gesellschaft eines Beitrittskandidaten wie Serbien wirkt dieser in der Praxis unzählige Male ad absurdum geführte Diskurs noch sonderlich überzeugend. Die wachsende Skepsis der gesellschaftlichen Linken gegenüber der EU und ihren Institutionen ist dabei nicht nur auf die autoritäre Troika-Politik gegenüber der 2013-2015 auch in Südosteuropa mit vielen Hoffnungen verbundenen griechischenSyriza-Regierung zurückzuführen. Viel einschneidender sind die sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen, denen die Gesellschaften Südosteuropas selbst ausgesetzt waren und die durch die Mitgliedschaft in der EU noch verstärkt worden sind. Auch die Gefahr durch neokonservative, rechtspopulistische, teilweise sich auch auf den historischen Faschismus berufende politische Akteure wurde durch die Mitgliedschaft in der EU nicht eingedämmt. Im Gegenteil, das politische Establishment arrangiert sich wie im Fall von Bulgarien (Rechtsaußen Krasimir Karakachanov als Verteidigungsminister) oder Kroatien (großer Einfluss faschistoider Veteranenverbände und neokonservativer Nichtregierungsorganisationen) zusehends mit demokratiefeindlichen Bewegungen, und dies nicht nur in Südosteuropa. Sozioökonomische Verwerfungen, ein instrumentelles Demokratieverständnis und das Anwachsen rechtspopulistischer Bewegungen – die Bilanz der EU-Integrationspolitik in Südosteuropa liest sich mehr als ernüchternd und folgerichtig ist es keine Überraschung, dass linke Akteure ein bestenfalls ambivalentes Verhältnis zur Europäischen Union haben (vgl. auch Ćurković 2014).
Organisatorische Formierungsphase
In den letzten zehn Jahren sind mehrere spontane Bewegungen gegen die grassierende soziale Ungerechtigkeit und gegen konkrete Regierungspolitiken entstanden, wie etwa gegen Privatisierungen, Korruption, Armut, Kommodifizierung, Vernachlässigung oder gar Zerstörung von Gemeingütern. Diese Bewegungen und Proteste drückten zunächst Empörung aus, ohne notwendigerweise eine artikulierte linke Agenda zu besitzen. Die Radikalisierung von Teilen der DemonstrantInnen sowie von Teilen der Öffentlichkeit hat aber dazu beigetragen, dass in den letzten Jahren neue linksgerichtete Organisationen, Gruppen, Medien, ja sogar Parteien entstanden sind. In Slowenien beispielsweise bildete bei den Parlamentswahlen 2014 die aus der Studentenbewegung entstandene Partei „Initiative für demokratischen Sozialismus“ mit zwei weiteren Parteien ein linkes Wahlbündnis, um unter dem Namen „Vereinigte Linke“ sechs Parlamentssitze zu erringen (vgl. Cerjak u.a. 2014). Aus dieser Koalition wiederum entstand die Partei „Levica“ (Die Linke), die bei den 2018 abgehaltenen Wahlen über neun Prozent der Stimmen erhielt.[2] Aufgrund der ihrer Wahlergebnisse in Slowenien sah sie sich zudem in der Position, bestimmte sozialpolitische Forderungen (ab 2019 sukzessive Erhöhung des Mindestlohns) als Bedingung einer Unterstützung der Minderheitenregierung zu stellen. In Kroatien bildeten sich im Zuge der Protestbewegungen zahlreiche linke NGOs, die sich, wie etwa die „Organisation für ArbeiterInneninitiative und Demokratisierung“ und „Vereinigung für Mediendemokratie“ mit Fragen von Wirtschafts- und Mediendemokratie beschäftigen.[3] Ähnliche Gruppierungen entstanden auch in Rumänien, wie etwa das linke Internetportal Critic Atac, oder in Bulgarien das „Kollektiv für Gesellschaftsinterventionen“. Im weiteren Verlauf des Textes sollen anhand der markantesten Widerstandspraktiken und Mobilisierungsstrategien die Potenziale und Herausforderungen dieser „Neuen Linken“ nachgezeichnet werden.
Straßenproteste und soziale Frage
Anfang 2011 sind in Kroatien bis zu 10.000 Menschen, die meisten über Facebook mobilisiert, gegen die damalige konservative Regierung unter Premierministerin Jadranka Kosor auf die Straße gegangen. Dieser Protestmarsch wiederholte sich jeden Abend über einen ganzen Monat lang, die Hauptforderungen richteten sich gegen die Krisenpolitik der Regierung und die erlassenen Kürzungsmaßnahmen, welche die ohnehin angespannte sozioökonomische Lage der meisten BürgerInnen Kroatiens noch einmal verschärft hatten. Im November und Dezember 2012 protestierten in der slowenischen Stadt Maribor tausende Menschen gegen ihren korrupten Bürgermeister Franc Kangler, aber auch in anderen Städten des Landes regte sich Widerstand gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik des politischen Establishments.
In Bulgarien gehen seit November 2018 in über 30 Städten jede Woche Menschen auf die Straße um, ähnlich den Gelbwesten-Protesten in Frankreich, zunächst gegen die Erhöhung von Benzinpreisen, bald darauf aber gegen die allgemeine soziale und ökonomische Deprivation zu demonstrieren. Solchen Protesten fehlte und fehlt zwar – bis auf den Sonderfall Slowenien, auf den wir noch zu sprechen kommen – eine linke Erzählung, doch linke Organisationen und Gruppen sind zumindest an den Rändern zu einem wichtigen Bestandteil sozialer Erhebungen geworden.
Der Kampf um Gemeingüter
Der freie Zugang zum öffentlichen Raum betrifft große Teile der Gesellschaft. Aus Opposition gegen ein großes Stadtentwicklungsprojekt in der Zagreber Fußgängerzone und einem der am meisten frequentierten Innenstadtplätze (Cvjetni trg), gründete sich in Kroatien 2010 die Bewegung „Recht auf Stadt“ (Pravo na grad). Die Protestierenden prangerten Korruption, Gentrifizierung und Einzäunungen, sowie den Zusammenhang zwischen Privatkapital und Stadtregierung an. Zwar konnten die AktivistInnen die Zerstörung des Parks nicht verhindern, doch wirkten die Proteste nachhaltig auf die Formierung eines links-grünen Milieus, aus dem heraus bis heute Widerstand gegen die Kommodifizierungstendenzen in der kroatischen Hauptstadt organisiert und auch öffentlichkeitswirksam kommuniziert wird.
Ähnliche Szenarien konnten auch in Belgrad beobachtet werden, wo örtliche AktivistInnen unter dem Slogan „Wir lassen Belgrad nicht absaufen/Wir geben Belgrad nicht her“ [Ne da(vi)mo Beograd] seit Jahren versuchen, die Durchsetzung des Megaprojektes „Belgrade Waterfront“ zu verhindern (Christoph 2016). Das städtebauliche Großprojekt wird politisch und finanziell von der serbischen Regierung unterstützt, umfasst ein riesiges Gebiet um das innenstadtnahe Save-Ufer, und beinhaltet den Bau luxuriöser Wohnungen, einer Shopping-Mall, eines Kasinos etc. Dieses undurchsichtige Projekt, von einer Reihe Unregelmäßigkeiten und illegaler Machenschaften begleitet, provozierte einen breiten öffentlichen Widerstand und Massenproteste auf Belgrads Straßen.
Auf sehr ähnliche Art und Weise bildeten sich auch mehrere Basisinitiativen gegen die Zerstörung natürlicher Ressourcen. Die Bewegung „Srđ gehört uns“ (Srđ je naš) aus Dubrovnik versuchte zwischen 2010 und 2013, die Privatisierung von Teilen des Hügels „Srđ“ und seine Umfunktionierung in einen elitären Golfplatz zu verhindern. Gegenwärtig organisieren sich zudem in mehreren südosteuropäischen Staaten lokale Initiativen, die sich, unterstützt durch linke AktivistInnen, gegen den angekündigten Bau von hunderten Kleinwasserkraftwerken entlang kleinerer Flüsse in der gesamten Region wenden.
In Rumänien protestierten – am Ende erfolgreich, das Projekt wurde gestoppt – im Herbst 2013 über Monate hinweg zehntausende Menschen gegen den geplanten Goldabbau im hochgiftigen Zyanidverfahren in Roșia Montana. Auch hier wirkten linke Aktivist*innen, wenn auch ohne signifikante politische Einflussmöglichkeiten, an den Protesten mit.
Der Kampf um Bildung
Die wohl wichtigste Bewegung für die „Neue Linke“ ist jedoch mit dem Widerstand gegen die Kommerzialisierung und Privatisierung des Hochschulwesens verbunden. In Verteidigung des allgemeinen und kostenlosen Bildungszugangs, entwickelten sich etwa in fast allen post-sozialistischen Staaten mehr oder minder starke Studentenbewegungen, die mit Formen direkter Demokratie experimentierten. Ein bedeutendes Ereignis diesbezüglich war die Besetzung von Universitäten in Kroatien im April und November 2009, wo studentische Plenen als allgemeine Versammlungen von Studierenden, Lehrenden und BürgerInnen gebildet wurden. Die Besetzungen formten sowohl die politischen als auch organisatorischen Instrumente für die kommenden Studentenkämpfe in der Region (vgl. Milan 2013). Ähnliche Bildungskämpfe fanden 2011 in Ljubljana, 2011 und 2014 in Belgrad, 2012 in Bukarest sowie 2013 in Sofia, 2015 in Skopje und aktuell 2018 in Tirana statt. Auch wenn die Bildungspolitik, bzw. der Widerstand gegen die fortschreitende Kommerzialisierung und Kommodifizierung von Bildung, im Mittelpunkt stand, wäre es verkürzt zu behaupten, die Studierenden hätten lediglich bildungspolitische Belange adressiert. Diese Bewegungen verstanden sich nicht minder als kritische Stimmen im grassierenden neoliberalen Mainstream, und aus ihnen heraus formierten sich die meisten der gegenwärtig bestehenden und aktiven linksradikalen Organisationszusammenhänge.
Der Kampf um Arbeit
Auch eine neue Phase des ArbeiterInnenaktivismus kann im letzten Jahrzehnt beobachtet werden, einige ArbeiterInneninitiativen taten sich mit den Studenten- und Stadtbewegungen, linken Gruppen, prominenten Einzelpersonen, KünstlerInnen, und Intellektuellen zusammen. Die Beschäftigten einiger privatisierter oder bankrotter Firmen und Fabriken protestierten öffentlich, um die Öffentlichkeit auf ihre Probleme aufmerksam zu machen.
So besetzten ArbeiterInnen der Fabrik Itas-Prvomajska in Nordkroatien ihr bankrottes Unternehmen, nahmen die Produktion selbständig wieder auf und experimentierten mit Elementen von Selbstverwaltung und direkter Arbeiterkontrolle. In anderen Fällen, wie der Petrochemie-Fabrik im kroatischen Kutina, kämpfen die dortigen Beschäftigten darum, den Staat als Mehrheitseigentümer zu erhalten. Unterstützt werden diese Kämpfe durch linke Basisorganisationen, die zumeist aus dem Kontext der Studierendenbewegung entstanden sind. Die ArbeiterInnen der erwähnten Fabrik Itas-Prvomajska beispielsweise wurden durch das „Zentrum für die Entwicklung von ArbeiterInnenpartizipation“ (CRRP) darin unterstützt, Modelle der Selbstverwaltung für ihre Fabrik zu entwickeln. In Slowenien arbeitet das „Zentrum für Gesellschaftsforschung“ (CEDRA) intensiv mit ArbeiterInnenkollektiven und linken Gewerkschaftern daran, anhand von Bildungsseminaren und kooperativen Untersuchungen (AktivistInnen zusammen mit ArbeiterInnen) den Organisationsgrad und die politische Artikulationsfähigkeit von Gewerkschaften zu erhöhen.
Wahlen und Wahlkämpfe
Die Umwandlung dieser oft kurzlebigen, wenn auch teilweise spektakulären Bewegungen in politische Parteien und erfolgreiche Wahlkampagnen war, wie bereits angedeutet, bisher nur in Slowenien erfolgreich. Die Partei „Levica“ errang bei den Wahlen im Jahr 2018 über neun Prozent der Stimmen. Besonders gut schnitt Levica dabei in der Hauptstadt Ljubljana und anderen urbanen Zentren ab und bildet damit einen europaweiten Trend ab, nach dem linke Parteien aktuell insbesondere eine jüngere, urbane WählerInnenschaft ansprechen können.
In Kroatien mobilisieren linke Akteure gegenwärtig vornehmlich auf kommunaler Ebene. Bei den Kommunalwahlen in Zagreb im Jahr 2017 erzielte die links-grüne Plattform Zagreb je naš (Zagreb ist unser) 7,56 Prozent der Stimmen und zog mit vier Sitzen in das Kommunalparlament ein.
So lässt sich feststellen, dass sich auch im parlamentarischen Sinne die „Neue Linke“ zusehends aus der Paralyse befreit, in welche die gesellschaftspolitische Linke seit den 1990er Jahren gefallen war.
Erfolge und Niederlagen der postjugoslawischen Linken
Seit 2008 sind die Akteure der „Neuen Linken“ definitiv in die Phase öffentlich sichtbarer politischer und sozialer Auseinandersetzungen eingetreten. Wo sich verschiedene Akteure, wie etwa in Slowenien oder Kroatien zusammenschlossen, war das Ergebnis durchaus beeindruckend und führte zu Friktionen innerhalb des dominanten politischen Mainstreams. Die „Neue Linke“ hat die nationalistische, konservative und neoliberale Hegemonie herausgefordert und über ihre eigenen Organisationsstrukturen, linke Medien und öffentliche Versammlungen einen Raum für die öffentliche Präsenz linker Ideen geschaffen.
Es gab und gibt jedoch auch viele Unzulänglichkeiten bzw. blinde Flecken: Viele der single-issue-Kämpfe sind nicht unbedingt miteinander verbunden. Städtische Initiativen sind nicht immer an Arbeitskämpfen interessiert, während Studierende und ProfessorInnen häufig nicht über den Wissenschaftsbereich hinaus aktiv sind. Die Versuche, eine nachhaltige und breitere Bewegung oder stärkere politische Linksparteien zu bilden, die die etablierten politischen Organisationen und Strukturen herausfordern, oder die kommunale, regionale und staatliche Politik beeinflussen könnten, haben sich bisher, außer in Slowenien und mit Abstrichen Kroatien, als zu ambitionierte Aufgabe erwiesen.
In Bezug auf ihr Verhältnis zur Europäischen Union mangelt es der „Neuen Linken“ in Südosteuropa – ebenso wie der gesamten Linken in Europa – an einer über die Kritik an den Institutionen oder der Regierungspraxis der Europäischen Kommission hinausgehenden, linken Alternativerzählung. Einzelstaatliche Ausbruchsversuche wie in Griechenland werden vom herrschenden neoliberalen Machtblock nicht geduldet und werden sanktioniert, vor allem dann, wenn es sich um periphere, ärmere Staaten handelt. Eine erfolgreiche Gegenstrategie kann sich daher nicht auf die bloße Kritik an der EU und ihre mögliche Zerschlagung bzw. ihr Auseinanderbrechen zurückziehen. Linke, sozialistische Politik muss nach Wegen ihrer Europäisierung, ihrer Internationalisierung suchen, denn nur eine sozialistische Gegenerzählung zu den Institutionen der EU kann auf Dauer jene internationale Solidarität generieren, die eine sozialistische Transformation ins Reich des Machbaren zurückholt. Diese Aufgabe kann, und wird die „Neue Linke“ in Südosteuropa aber alleine nicht lösen.
Europawahlen 2019
Als eigenständige politische Kraft wird an den Europawahlen definitiv die slowenische Linkspartei „Levica“ teilnehmen. Als politischer Akteur mit einem ausgearbeiteten Parteiprogramm, der zudem über parlamentarische Erfahrung auf nationaler Ebene verfügt und Mitglied der Europäischen Linken ist, übt diese Partei im organisationspolitischen Sinne zu einem gewissen Grad eine Vorbildfunktion für die radikale Linke im ehemaligen Jugoslawien aus. In ihrem Parteiprogramm tritt „Levica“ für ein „Europa der Menschen, und nicht des Kapitals“ ein, sie positioniert sich dementsprechend klar gegen die neoliberale Politik der Europäischen Kommission und der EZB. Auch das repressive europäische Grenzregime wird von „Levica“ abgelehnt. Eine radikale Abkehr von der gegenwärtigen politischen Ausrichtung der Union wird angestrebt, jedoch explizit ohne der Rückkehr zur nationalstaatlichen Heilsversprechung das Wort zu reden.
In welcher Konstellation das Zagreber Stadtbündnis „Zagreb je naš“ an den Europawahlen teilnehmen wird, steht hingegen noch nicht fest. Ein neuerliches gemeinsames Auftreten kann jedoch aufgrund strategischer und ideologischer Differenzen ausgeschlossen werden. In ihrer kommunalen programmatischen Agenda spielte die Europäische Union wenig überraschend bisher keine Rolle. In Bulgarien, ähnlich „Levica“ in Slowenien, existiert mit der „Българската левица“ (Bulgarische Linke) ebenfalls eine, wenn auch auf niedrigerem organisationspolitischen Niveau, durchaus konsolidierte Linkspartei. Sie ist zwar ebenfalls Mitglied der Europäischen Linken, doch politisch spielt sie in der bulgarischen Gesellschaft augenblicklich keine wahrnehmbare Rolle, woran auch die kommenden Europawahlen nichts ändern dürften.
Ausblick
Linke Parteien, Organisationen, Bewegungen und Zusammenschlüsse sind in Südosteuropa keine Seltenheit mehr. Was ihnen zumeist noch fehlt, ist gesellschaftspolitische Relevanz und eine Öffentlichkeit, die über das eigene Milieu hinausreicht – und zwar kontinuierlich, und nicht nur punktuell. Dies zu erreichen ist die große Herausforderung, und es scheint, als würde die radikale Linke ihre bisherigen organisationspolitischen Spaltungstendenzen ernsthaft in Frage stellen wollen um nach Wegen des Zusammenschlusses zu suchen. In vereinfachter Form dargestellt, können die neuen Strategien auf drei Ebenen lokalisiert werden: 1) Bündnisse im Rahmen konkreter Solidaritäts- und Protestaktionen, 2) Koalitionsbildungen auf lokaler bzw. kommunaler Ebene, 3) Strategiedebatten zwecks organisationspolitischer Zusammenschlüsse.
Bündnisse im Rahmen konkreter Solidaritäts- und Protestaktionen haben sich als effektiver Weg erwiesen, die Aktionsfähigkeit kleinerer linker Akteure zu erhöhen. Ein erfolgreiches Beispiel war in Kroatien die Kampagne „Ne damo naše autoceste“ (Wir geben unsere Autobahnen nicht her) gegen die Privatisierung des kroatischen Autobahnnetzes. Zusammen mit Gewerkschaften und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren haben auch linksradikale Akteure die Kampagne unterstützt, wodurch sie eine medial stärkere Wirkung erreichen und wertvolle politische Erfahrung für künftige politische Kampagnen sammeln konnten. Ähnlich verhält es sich mit der von einem breiten zivilgesellschaftlichen Bündnis getragenen Kampagne „Stopp dem Motor der Ungleichheit“ in Bulgarien, an der sich das linke „Kollektiv für gesellschaftliche Intervention“ (KOI) beteiligt und ein politisches Positionspapier erstellt hat, welches von der gesamten Bewegung nun als offizielle Position in Fragen der bulgarischen Steuerreform angenommen worden ist.
Koalitionsbildungen linker und grüner politischer Akteure auf lokaler und kommunaler Ebene können, wie das Beispiel Zagreb gezeigt hat, zu unerwarteten politischen Erfolgen führen. Allerdings ist die Perspektive solcher Bündnisse für die involvierten linken Akteure von den internen Machtverhältnissen und damit zusammenhängend der Durchsetzungsfähigkeit sozialistischer Politikinhalte abhängig. Je stärker die linken Elemente in solch einem Bündnis sind, desto höher ist ihre politische Legitimität und die Aussicht auf einen spürbaren Politikwechsel. Für die Linke und ihre organisationspolitische Konsolidierung ist es unerlässlich, dass die roten Haltelinien in solchen Bündnissen klar und transparent kommuniziert werden, auch gegenüber den etwaigen Koalitionspartnern. Im gegenteiligen Fall läuft die Linke Gefahr, ihre eigene politische Perspektive, also die schrittweise Popularisierung des sozialistischen Projektes, zu verlieren was zu neuen Spaltungen und organisationspolitischen Debatten führen kann. Solche Bündnisse dürfen kein Selbstzweck sein.
Das Problem linker Spaltungen und Kleinstorganisationen ist ja gerade Anlass für die gegenwärtig spürbaren Strategiedebatten. Die häufig marginalen programmatischen Unterschiede zwischen linken Akteuren zu überbrücken, um zumindest eine gemeinsame Aktionsplattform zu etablieren, ist das erklärte Ziel dieser strategischen Diskussionen. Nicht selten sind gar nicht aktuelle politische Unterschiede der Hauptgrund für den hohen Grad an Partikularismus innerhalb des linken politischen Feldes, sondern der Ballast tradierter organisationspolitischer Spaltungen. Will die Linke eine politische Zukunft haben und ihren Zielen von einer umfassenden gesellschaftlichen Emanzipation und Demokratisierung näher zu kommen, dann wird sie diese häufig ererbten Probleme lösen müssen.
Dieser Beitrag wurde von Igor Štiks und Krunoslav Stojaković, Büroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Belgrad, geschrieben und zuerst auf der Seite der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlicht.
Zum Weiterlesen:
Buble, Tamara, Mario Kikaš und Toni Prug, 2018: Mapping Left Actors: Croatia, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Südosteuropa, https://www.rosalux.rs/bhs/mapping-left-actors
Cerjak, Kira, Mario Vladić und Aljoša Slameršak, 2014: Die Erneuerung der sozialistischen Linken in Slowenien, in: LuXemburg, www.zeitschrift-luxemburg.de/die-erneuerung-der-sozialistischen-linken-in-slowenien/
Christoph, Wenke, 2016: Gegen das serbische Manhattan, in: LuXemburg, www.zeitschrift-luxemburg.de/gegen-das-serbische-manhattan/
Ćurković, Stipe, 2014: Europa und die neue Linke in Kroatien, in: LuXemburg, www.zeitschrift-luxemburg.de/europa-und-die-neue-linke-in-kroatien/
Furlan, Sašo, Nejc Slukan und Martin Hergouth, 2018: Mapping Left Actors: Slovenia, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Südosteuropa, https://www.rosalux.rs/en/mapping-left-actors
Kapović, Mate, 2014: Bosnien-Herzegowina: Eine Rebellion an der Peripherie Europas, in: LuXemburg, www.zeitschrift-luxemburg.de/bosnien-herzegowina-eine-rebellion-an-der-peripherie-europas/
Milat, Andrea, 2013: „Bildung ist Keine Ware“. Studierendenbewegung und Neue Linke in Kroatien, in: LuXemburg, www.zeitschrift-luxemburg.de/bildung-ist-keine-ware-studierendenbewegung-und-neue-linke-in-kroatien/
[1] Auch wenn in diesem Text von der Neuen Linken in Südosteuropa gesprochen wird, beschäftigen wir uns aus Platzgründen und dem thematischen Fokus „Europawahlen 2019“ entsprechend lediglich mit jenen Staaten näher, die Mitglied der Europäischen Union sind – Bulgarien, Kroatien, Rumänien und Slowenien. Ähnliche Entwicklungen und Handlungsfelder der Neuen Linken sind aber auch in Serbien, Bosnien und Herzegowina, Albanien oder Mazedonien beobachtbar.
[2] Zur Entwicklung der slowenischen Linken vgl. Furlan u.a. 2018.
[3] Zur Entwicklung der kroatischen Linken vgl. Buble u.a. 2018.