Zur ökosozialistischen Organisierung

Picture by Benita5 (power plant), Pexel (wind turbine), both Pixabay, mashup by Freiheitsliebe.

Teil 8 der Artikelreihe Ökosozialistische Strategien im Anthropozän

Die Analyse der Brüche im Erdsystem und der Widersprüche der kapitalistischen Produktions- und Herrschaftsweise sowie die Argumente für eine revolutionäre ökosozialistische Perspektive – wie ich sie in den vorangegangenen Artikeln dieser Reihe zur Diskussion gestellt habe – bleiben unvollständig, wenn es nicht gelingt, einen Organisierungsprozess voranzutreiben.

Hierzu unterbreite ich in diesem letzten Beitrag grundsätzliche Überlegungen und praktische Vorschläge.

Klasse, Bewegung und Organisation

Wenn die Geschichte sprunghaft verläuft, dann braucht es Akteure, die springen, strategisch denken, handeln und damit der Geschichte auf die richtigen Sprünge helfen. Damit sind wir beim Problem der Organisierung. Hier bietet uns Lenin einige Anhaltspunkte, allerdings völlig andere als jene, die Andreas Malm in seinem plakativen und unangebrachten Verweis auf die Lehren des Kriegskommunismus in den ersten Jahren der Russischen Revolution meint.[1]

Ich greife hier nochmals Überlegungen von Daniel Bensaïd auf. Wenn wir die Annahme unterstützen, dass die Klasse der Lohnabhängigen in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit und Vielgesichtigkeit das Subjekt der gesellschaftlichen Veränderung ist, weil nur sie direkt den Produktionsprozess gestalten kann, dann stellt sich die Frage, welche Rolle sie beim „Ziehen der Notbremse“ innehat. Damit sind wir beim Problem der Organisation und Repräsentation.

Bensaïd betont mit Verweis auf Lenin, dass Klassenkämpfe und Bewegungsdynamiken klar vom Verständnis der Parteien zu trennen seien. Klassenkampf reduziere sich nicht auf den Antagonismus zwischen der Arbeiter:in und der Unternehmer:in. Im Klassenkampf stehe die gesamte Klasse der Lohnabhängigen in ihrer Vielgesichtigkeit der gesamten kapitalistischen Klasse gegenüber und zwar auf der Ebene des vollständigen kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsprozesses. Diese Aussage ist gerade in Bezug auf die Problematik der Reproduktion, der außerbetrieblichen Kämpfe des Alltagslebens und selbstverständlich auf alle stofflichen Aspekte der Produktion und Reproduktion entscheidend. Denn all diese Kämpfe sind genauso Teile des Klassenkampfs wie die Auseinandersetzungen über Löhne und Arbeitsbedingungen.

Bensaïd diskutiert auf fruchtbare Weise Lenins relevante Unterscheidung zwischen Partei und Klasse. Der politische Kampf, der alle gesellschaftlichen Fragen einschließt, ist umfassender und komplexer als der ökonomische Kampf der Lohnabhängigen gegen die Unternehmen und die Regierung. Es sei eine Illusion sich einzubilden, dass die Arbeiter:innenbewegung dazu in der Lage sei, selbst eine eigenständige gesellschaftliche Vision auszuarbeiten. Die spontane Entwicklung der Arbeiter:innenklasse führe im Gegenteil zu ihrer Unterordnung unter die bürgerliche Ideologie. Das geschehe nicht aufgrund von Manipulation des Bewusstseins, sondern sei das objektive Resultat des Warenfetischismus.

Das politische Klassenbewusstsein entstehe also außerhalb der ökonomischen Kämpfe – allerdings nicht außerhalb der Klassenkämpfe, die politisch und sozial zugleich sind –, getragen durch eine Partei, die das politische Feld spezifisch strukturiere. Die revolutionäre Partei repräsentiert die Arbeiter:innenklasse nicht nur gegenüber einer Gruppe von Unternehmern, sondern in ihren Beziehungen mit allen Klassen der Gesellschaft und dem Staat. Für Lenin ist die revolutionäre Partei in diesem Verständnis nicht das Resultat einer kumulativen Erfahrung, und nimmt auch nicht die Rolle der bescheidenen Lehrerin ein, um die Arbeiter:innen aus der Dunkelheit der Ignoranz zu reißen, sondern sie wird zum strategischen Operator des Klassenkampfs. Im Leninschen Verständnis gilt es, bereit zu sein für das Unerwartete. Die Strategie beruht schließlich auf einer Einschätzung von Masse, Geschwindigkeit und Zeit.

Für Bensaïd ergibt sich die Relevanz Lenins für die gegenwärtige Situation aus seinem strategischen Denken. Die Organisation muss handlungsbereit sein, was immer auch geschehen möge. Aber dieses Ereignis kommt nicht aus dem Nichts. Es ist Ergebnis der historischen Bedingungen und der Möglichkeiten, die sich aus diesen Bedingungen ergeben. Allgemeiner ausgedrückt entsprechen diesem Verständnis die dialektischen Beziehungen zwischen Notwendigkeit und Kontingenz, Struktur und Bruch, Geschichte und Ereignis. Sie legen die Grundlage für die Möglichkeit der Politik, dem bewussten Eingreifen in die Gesellschaft, dem strategischen Verändern der Kräfteverhältnisse.

Bensaïd leitet aus der Unterscheidung von politischen und sozial-ökonomischen Kämpfen allerdings eine bedeutsame Frage ab. Worauf beruht die Repräsentation der ökonomischen Kämpfe durch eine politische Kraft? Wie erlangt die politische Repräsentation Legitimität? Bensaïd betont dabei die Notwendigkeit des Pluralismus. Wenn die Partei eben nicht der Klasse entspreche, dann könne dieselbe Klasse durch mehrere politische Parteien repräsentiert werden. Diese könnten unterschiedliche oder sogar widersprechende Positionen vertreten. Diese eigentlich logische Konsequenz habe Lenin nicht gezogen. In seiner Schrift Staat und Revolution verlieren die Parteien sogar ihre Funktion zugunsten direkter Demokratie.[2] Bensaïd argumentiert, dass die russischen Revolutionäre nicht erkannten, wie unter ihren Füßen die Gefahr der bürokratischen Konterrevolution heranwuchs.

Bensaïd warnt, dass Strömungen, die ihre Antworten jenseits von Parteien suchen, ebenfalls in einer Sackgasse münden.[3] Denn Politik ohne Parteien (unabhängig davon, ob sie Partei, Bewegung, Bund oder Liga heißen) ende zumeist in einer Politik ohne Strategie, letztlich also ohne wirkliche Politik: entweder der Spontaneität sozialer Bewegungen zugewandt oder in der schlimmsten Form eines individuellen Avantgardetums oder schließlich eines Verzichts auf das Politische zugunsten ästhetischer Diskurse oder ethischer Bekenntnisse.[4]

Diese Ausführungen sind für die organisatorische Umsetzung einer öksozialistischen Strategie in mindestens dreierlei Hinsicht äußert bedeutsam.

Erstens argumentiere ich in Anlehnung an Lenins Verständnis über die Entwicklung eines umfassenden politischen und strategischen Denkens angesichts der ökologischen Dringlichkeit eines revolutionären Prozesses, dass die Lohnabhängigen spontan aus ihren Kämpfen heraus kein angemessenes ökologisches Bewusstsein zu entwickeln vermögen. Die sträfliche traditionelle Vernachlässigung der ökologischen Problematik durch die Gewerkschaften und traditionelle sozialistische Parteien verstärkt diesen Befund auf tragische Weise. Es braucht das bewusste Handeln ökosozialistischer Organisationen. Diese Organisationen müssen in der Lage sein, die Lohnabhängigen von der Dringlichkeit radikaler Maßnahmen zum Um- und Rückbau der industriellen Produktion, einer radikalen Verkehrswende sowie der hierzu erforderlichen kompletten Neukonfiguration des Finanzsektors zu überzeugen. Doch das kann nicht nur ein Akt der Propaganda sein. Entscheidend sind Kämpfe, die zur Selbstorganisation anregen und kollektive Lernprozesse im Zuge dieser Kämpfe.

Zweitens stehen auch ökosozialistische Organisationen vor dem Problem, zwischen Bewegung und Organisation beziehungsweise Partei klar zu unterscheiden. Die Bewegung, beispielsweise die Klimagerechtigkeitsbewegung, soll möglichst viele Menschen in ihren Bann ziehen. Ganz unterschiedliche Menschen müssen die Möglichkeit haben, sich einzubringen, Erfahrungen zu machen, zu lernen. Eine soziale Bewegung kann also, außer in einer nahezu vorrevolutionären Situation, kaum ein ökosozialistisches Programm annehmen. Das würde der breiten Beteiligung und Einheit widersprechen. Die Menschen in der Bewegung finden auf einer klaren und einfachen Grundlage zusammen, beispielsweise auf der Forderung, dass alles unternommen werden muss, um die Erderhitzung auf 1,5° Celsius zu begrenzen. Selbstverständlich ist wichtig, diese Perspektive mit konkreten Übergangsforderungen in die Arena des politischen Kräftemessens zu bringen. Doch die Bewegungen müssen in der Lage sein, ihre Forderungen autonom ohne manipulative Manöver von Parteien weiterzuentwickeln und zu radikalisieren. Die Bewegungen geben sich selbst Strukturen. Je demokratischer sie funktionieren, desto integrativer und offener sind sie. Keine Partei kann einer Bewegung ihre Orientierung vorschreiben, obwohl natürlich politische Organisationen in Bewegungen um Einfluss und sogar Hegemonie ringen. Eine ökosozialistische Organisation dagegen erarbeitet sich ein umfassendes gesellschaftliches Verständnis, verarbeitet kollektiv und demokratisch Erfahrungen und unterbreitetet in den Bewegungen taktische und strategische Vorschläge. Diese Vorschläge werden durch andere Strömungen bestritten, die ihre Optionen zur Diskussion stellen. Je demokratischer Bewegungen funktionieren, desto produktiver gedeiht der Streit der Ideen.

Damit ist drittens das Dauerproblem der Demokratie verbunden. Am Problem der Repräsentation und Demokratie scheiterten gerade in jüngerer Zeit mehrere politische Formationen. In den vergangenen Jahren entstanden in Europa mehrere eher populistische, denn sozialistische Organisationen wie La France Insoumise und Podemos. Ihre Entwicklung unterstreicht einmal mehr, wie wichtig einerseits die demokratische Zusammenführung beziehungsweise Zentralisierung der Entscheidungsabläufe und Organisationsmuster ist und andererseits Maßnahmen zur Reduzierung der strukturellen Ungleichheiten unter den Mitgliedern sind. Die Anpassung an Kooperationsmechanismen des Staates und der Medien sowie die plebiszitäre Legitimierung von Führungspersonen, die damit noch weniger durch eine Basis kontrolliert werden, zeigen die Relevanz der Demokratie. Diese ernüchternden Erfahrungen unterstreichen, wie wichtig die gelebte Demokratie für eine ökosozialistische Organisation sein muss. Ökosozialistische Organisationen müssen auf einer klaren programmatischen Grundlage pluralistisch sein. Unterschiedliche Strömungen, Tendenzen und Fraktionen können für ihre spezifischen Einschätzungen und Vorschläge werben.

Neuformierung einer Bewegung der Arbeitenden

Bevor ich einige Probleme ökosozialistischer Organisierung erörtere, benenne ich zunächst die grundsätzliche Aufgabe eines Neuaufbaus einer pluralen Bewegung der Arbeitenden. Ich greife hierbei Argumente auf, die ich kürzlich in einem Diskussionsbeitrag geäußert habe.[5]

Das große Problem, auf das es keine einfache Lösung gibt, besteht darin, dass beim aktuellen Stand des Klassenkampfs ein Abgrund das Bewusstsein und Verhalten der Lohnabhängigen von den Anforderungen trennt, die zu erfüllen sind, um die konkrete Umsetzung der ökosozialistischen Perspektive zu ermöglichen. Auf der Suche nach Antworten hierauf unterscheide ich in drei Ebenen:

  • Die erste Ebene betrifft den Neuaufbau einer Bewegung der Lohnabhängigen. Dieser Neuaufbau ist abhängig von der Entwicklung des Bewusstseins und damit ihrer Selbstkonstituierung als Klasse durch Kämpfe und kollektive Lernprozesse. Diese Prozesse sind auch mit der Herausforderung verbunden, neue Organisationsformen zu bestimmen und zu entwickeln.
  • Die zweite Ebene betrifft die erforderliche soziale Verankerung der radikalen Klimabewegung.
  • Die dritte Ebene handelt von der Formierung und Organisierung einer revolutionären ökosozialistischen Strömung im transnationalen und globalen Maßstab.

Die Gewerkschaften haben in vielen Ländern ihre soziale Verankerung in breiten Teilen der Lohnabhängigen verloren. Das gilt besonders in der Schweiz; aber auch in Deutschland und Österreich können viele Unternehmen weitgehend befreit vom gewerkschaftlichen Einfluss ihre Strategien zur verschärften Ausbeutung der Arbeitenden und Plünderung der Natur in die Tat umsetzen. Die Gewerkschaften verfügen in wesentlichen Auseinandersetzungen über keine Streik-, Veto- und Verhandlungsmacht mehr.

Dieser Sachverhalt stellt nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch andere soziale Bewegungen, ganz besonders die Klimabewegung, vor grundsätzliche und strategische Herausforderungen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Gewerkschaften weiterhin überholten produktivistischen Wachstumsvorstellungen verhaftet sind. Sie meinen, die sozialen und wirtschaftlichen Krisen ließen sich durch eine Ankurbelung der Wirtschaft mit Hilfe einer keynesianischen Nachfrageförderung lösen. Es gibt keine Hinweise darauf, dass ökologisches Wirtschaftswachstum bei gleichzeitiger absoluter Reduktion des Energie- und Stoffdurchsatzes im Weltmaßstab möglich ist. Die Gewerkschaften sind also nicht nur schwach verankert, sondern sind deren Führungen und wohl auch ein beträchtlicher Teil der Mitgliedschaft weit davon entfernt, die ökologische Krise ernst zu nehmen.

Wie der Neuaufbau einer pluralen Bewegung der Lohnabhängigen, die sich den ökologischen Restriktionen bewusst ist, vorangehen kann, bleibt auszuprobieren. Immerhin können wir einige Anknüpfungspunkte für Neuformierungsprozesse erkennen, die allerdings bescheiden und fragmentiert sind. Die Aufgabe einer revolutionären ökosozialistischen Strömung besteht darin, von diesen Versuchen zu lernen, zu derartigen Bewegungen anzuregen und sie zusammenzuführen.

  • Gegenwärtig formiert sich ein gemeinsamer Widerstand von Beschäftigten des transnationalen Automobilzuliefererkonzerns Bosch in München und der antikapitalistischen Initiative Klimaschutz und Klassenkampf gegen die Schließung des Werks und für den Umbau der Produktion.[6]
  • Der erfolgreiche Widerstand der Arbeiter:innen der SBB Werkstätten in Bellinzona gegen die Schließung der „Officine“ und für eine solidarische und ökologische, regionale Industriepolitik im Jahr 2008 war beispielhaft, weil er zeigte, wie die Verteidigung guter und sinnvoller Arbeit mit dem Kampf für gute Lebensbedingungen in der Region zusammen gehören.
  • Die gemeinsame Kampagne der Gewerkschaft ver.di und Fridays for Future in Deutschland im Herbst 2020 für gute Tarifverträge für die Busfahrer:innen hob hervor, dass ein guter öffentlicher Verkehr mit guten Arbeitsbedingungen unabdingbare Voraussetzung für eine Reduktion des Autoverkehrs und einen Rückbau der Autoindustrie ist. Leider brach die Gewerkschaftsbürokratie diese Auseinandersetzung vorzeitig ab.
  • Mit ihrem von der Gewerkschaft CGT getragenen und von Umweltorganisationen unterstützten Streik demonstrierten die Beschäftigten der Total-Raffinerie in Grandpuits (65 Kilometer südöstlich von Paris) zu Beginn des Jahres 2021, dass die Konversion der Erdölindustrie ein gemeinsames Anliegen der Beschäftigten und der Bevölkerung ist, um die Arbeitsplätze zu verteidigen.
  • Die wiederholten und wieder vorbereiteten Streiks der Lokführer:innen in Deutschland zeigen, dass auch eine Gewerkschaft wie die GDL, die sich lange Zeit nur für den eigenen Berufstand einsetzte, zu kämpferischen Maßnahmen im Sinne eines guten öffentlichen Verkehrs schreiten kann.
  • Die Angestellten in vielen Krankenhäusern in Deutschland und jüngst in Lausanne kämpfen für gute Arbeitsbedingungen, angemessene Löhne und ein gutes Gesundheitssystem. Die ausgebaute gesellschaftliche Infrastruktur in den Bereichen Gesundheit, Pflege, Sorge und Bildung ist eine zentrale Achse für einen sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft. Sie ist Voraussetzung für einen Um- und Rückbau der emissionsstarken Industrien. Ein strategisches Bündnis zwischen Klimabewegung und Beschäftigten im Gesundheits-, Pflege,– und Bildungswesen könnte ein wichtiger Schritt für den feministischen und ökologischen Aufbau einer neuen und pluralen Bewegung der Arbeitenden sein.

Diese Bewegungen deuten darauf hin, dass der Neuformierungsprozess einer kämpferischen Bewegung der Arbeitenden ein Prozess mit vielen Facetten ist und andauern wird. In einigen Fällen brach die Gewerkschaftsbürokratie die Auseinandersetzung ab, in anderen erlaubte es das Kräfteverhältnis nicht, eine weitergehende Bewegung zu entwickeln. Zugleich lässt sich erkennen, dass der Kampf für gute Arbeitsbedingungen zugleich immer nur eingebettet in einen Kampf für eine gute soziale Infrastruktur und gegen die ökologische Zerstörung erfolgreich zu führen ist. An diesen Arbeitskämpfen beteiligten sich in erheblichem Maße auch Lohnabhängige mit unsicherem Aufenthaltsstatus und viele, die in der formalen bürgerlichen parlamentarischen Demokratie über keinerlei Rechte verfügen.

Dennoch müssen wir schmerzlich feststellen, dass die soziale und ökologische Organisierung in zentralen Sektoren der Wirtschaft wie der Maschinen-, Chemie-, Pharma-, Automobil- und Energieindustrie äußert schwach entwickelt ist. Die bestehenden Gewerkschaften wie die IG Metall und die IGBCE in Deutschland, die Produktionsgewerkschaft RRO GE, die Gewerkschaft der Privatangestellten GPA und die Gewerkschaft Vida in Österreich als auch die sich immer wieder fortschrittlich gebende UNIA in der Schweiz sind weit davon entfernt, die ökologischen Herausforderungen auch nur ansatzweise zu erkennen und entsprechende Konsequenzen in ihren Arbeitsfeldern zu ziehen. Wenn sie das täten, müssten sie sich der Wettbewerbs- und Profitlogik entgegenstellen und für eine konsequente ökologische Konversion der Wirtschaft bei Erhalt der Beschäftigung sowie für eine allgemeine radikale Arbeitszeitverkürzung kämpfen. Das tun sie aber nicht. Einige können das auch nicht, weil sie zu wenig in den Betrieben verankert sind.

Es ist dringend erforderlich, eine breite gesellschaftliche Debatte über den erforderlichen industriellen Rück- und Umbau zu initiieren. Selbstverständlich ist diese Debatte auch mit den Gewerkschaften zu führen, denn die Beschäftigten vor Ort in den Betrieben können mit ihrem Erfahrungswissen zentrale Akteure dieses Umbauprozesses sein. Die bisherigen Erfahrungen solcher Bemühungen zur Konversion von Rüstungsbetrieben in den 1970er Jahren und von Werften in den 1980er Jahren bieten einige Anhaltspunkte, um zu verstehen, welche riesigen Hürden dabei zu überwinden sind.[7] Die ökosozialistischen Strömungen und Organisationen tragen eine große Verantwortung, sich an Bewegungen wie den oben kurz aufgelisteten zu beteiligen, diese Auseinandersetzungen mit praktischen Vorschlägen voranzutreiben und die verschiedenen Ansätze in einer Strategie des antikapitalistischen Bruchs zusammenzuführen. Der dringende Neuaufbau einer pluralen Bewegung der Lohnabhängigen kann also nur gelingen, wenn die Gewerkschaften zusammen mit progressiven sozialen Bewegungen die Anliegen für gute und gut entlohnte Arbeit, für Gesundheit und für ein gutes Leben mit einer ausgebauten weitgehend frei zugänglichen gesellschaftlichen Infrastruktur und einen ökologisch verträglichen Stoffwechsel mit der Natur miteinander verbinden. Unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen müssen in den Kämpfen und in einem sozialökologischen Programm ihren Ausdruck finden. Nur wenn sich Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus und politische Rechte in eine kämpfende Bewegung der Arbeitenden einbringen und diese mitgestalten, können sich die Lohnabhängigen wieder in ihrer Gesamtheit als Klasse konstituieren und die Gesellschaft in ihrem Sinne verändern.

Klimabewegung gesellschaftlich verankern

Die Klimabewegung ist trotz ihrer Dynamik weiterhin gesellschaftlich komplett ungenügend verankert. Urs Zuppinger, ein Genosse in Lausanne mit jahrzehntelanger gewerkschaftlicher Erfahrung, argumentiert in einem Diskussionsbeitrag, „dass es für die Überwindung der Klimakrise von entscheidender Bedeutung ist, dass die Lohnabhängigen das Selbstvertrauen in ihre soziale Rolle zurückgewinnen. Dies kann meiner Ansicht nach nicht durch Appelle von außen bewirkt werden, sondern nur durch eine Erstarkung der arbeitenden Klasse aus ihrem Innern heraus und ich bin überzeugt, dass die gut geschulten jungen Aktivisten der Klimabewegung selber einen Teil der Lösung dieses Problems sind.“[8]

Urs Zuppinger schlägt vor, dass sich die vielen Klimaaktivist:innen beruflich sinnvoll verankern und gewerkschaftlich aktiv werden sollen. Das bedeute aber nicht, dass Klimaaktivist:innen versuchen sollten, Jobs im Gewerkschaftsapparat zu erhalten. Er verweist dabei auf die Erfahrungen früherer Generationen radikalisierter gut ausgebildeter Aktivist:innen, die beispielsweise in der zweiten Hälfte der 1980er sowie in den 1990er Jahren und später im Gefolge der globalisierungskritischen Bewegung in den 2000er Jahren in den Gewerkschafsapparat einstiegen. Anstatt die Gewerkschaften wirklich neu und auf einer unabhängigen Klassenposition aufzubauen, trugen sie zum modernen scheinradikalen Facelifting der Gewerkschaften bei und haben sich dabei gleichzeitig zu moderneren Bürokrat:innen entwickelt.

Urs Zuppinger schlägt demgegenüber vor, dass die Aktivist:innen „in der Privatwirtschaft oder einem öffentlichen Dienst eine ‚normale‘ Berufstätigkeit ausüben“. Dabei sollten sie versuchen, „ihre berufliche Tätigkeit über kurz oder lang mit der kollektiven Verteidigung der Arbeitsbedingungen am Arbeitsplatz zu kombinieren“.[9] Es geht es also darum, die persönliche Entwicklung mit einer politischen Organisierungsperspektive zu verbinden. Zuppinger hält in seinem Diskussionsbeitrag zu Recht fest, dass diese Orientierung nur ein Teilstück einer weitergehenden und umfassenderen Strategie sein könne. Ich halte diesen Gedankenanstoß für wichtig, doch dessen Umsetzung stößt an mehrere praktische und grundsätzliche Probleme.[10]

Die Klimabewegung und ihr ökosozialistischer Flügel müssen sich gesellschaftlich verankern. Doch hierzu gibt es keinen Idealweg. Erfolgversprechende Zugänge können sich von Land zu Land, von Region zu Region unterscheiden. Finden in einer Region kristallisierende Kämpfe statt, können diese die Konstellation und Dynamik abrupt verändern und neue Möglichkeiten eröffnen. Ebenso können die langanhaltende Passivität und Erfolglosigkeit in eine politische Depression münden und die Orientierungslosigkeit verschärfen.

Um die gesellschaftliche Verankerung der systemverändernden Klimabewegung und den betrieblichen Organisierungsprozess voranzutreiben, sind also mehrere Wege möglich. Je nach Kontext und konkreten Bedingungen, kann einmal der eine, dann wieder der andere Weg wirksamer sein. Sie schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich.

  • Entscheidend ist, dass die Klimabewegung so stark wird, dass sie die Gewerkschaften zu einer ökologischen Umorientierung zwingen kann. Diese Stärke erlangt sich durch eine Kombination unterschiedlicher Strategien und Aktionsformen, die von Petitionen, über Abstimmungs- und Wahlkampagnen und Demonstrationen bis hin zu Besetzungsaktionen reichen.
  • Es kann punktuelle oder auch weitergehende Kooperationen und Bündnisse von Klimabewegung mit Teilen der Gewerkschaften bei konkreten politischen Auseinandersetzungen geben.
  • An manchen Orten versuchen antikapitalistische Klimagruppen, mit Beschäftigten der Automobilindustrie ins Gespräch zu kommen. Das sind noch beschränkte, aber dennoch wichtige Erfahrungen. Erfolge werden sich allerdings kaum kurzfristig einstellen.
  • Dort, wo es möglich ist, können Lohnabhängige mit Unterstützung durch Ökosozialist:innen gewerkschaftliche Netzwerke für die ökologische Industriekonversion aufbauen.
  • Zugleich kann es sinnvoll sein, Einfluss im gewerkschaftlichen Mittelbau zu erlangen und damit kampagnenfähig zu werden. Trotz der oben genannten Skepsis gegenüber diesem Weg, ist dieser nicht grundsätzlich auszuschließen. Erfahrungen aus den USA und Deutschland mit „Organizing“-Kampagnen deuten darauf hin, dass auf diese Weise zumindest teilweise eine gewerkschaftliche Erneuerung möglich ist. Allerdings bleibt es schwierig und vielleicht sogar unmöglich, die IG Metall oder gar die IGBCE in Deutschland für ein sozialökologisches Umbauprogramm zu gewinnen. Die Konsequenzen wären schwerwiegend.
  • Zugleich gilt es, betriebliche Strukturen – beispielsweise Arbeitskreise zu Arbeit, Gesundheit und Klima – jenseits und unabhängig der Gewerkschaften aufzubauen. Das ist besonders dort angesagt, wo sich die Gewerkschaften einer ökologischen Erneuerung verschließen. Dieser Weg der autonomen Organisierung kann generell ein wichtiger Pfeiler sein, der sich auch mit der Arbeit in den Gewerkschaften verbinden lässt.

Diese Beispiele zeigen, dass die Orientierung auf die Gewerkschaften und eine betriebliche Verankerung sehr unterschiedlich ausfallen kann, je nach Kräfteverhältnissen und Verständnis der Gewerkschaften für die Dringlichkeit wirksamer Maßnahmen zur Reduktion der Treibhausgasemissionen. Wir müssen alles ausprobieren. Im Zentrum steht immer das strategische Ziel, die Selbstartikulation und -organisierung der Lohnabhängigen auf einer ökologischen Grundlage zu befördern. Gerade in den Sektoren der Wirtschaft, in denen die Gewerkschaften schwach verankert sind oder sich durch eine reaktionäre Bestandsicherungs- und Wachstumspolitik auf die Interessensvertretung relativ privilegierter Schichten von Lohnabhängigen zurückziehen und sich zugleich komplett den Wettbewerbs- und Profitanliegen der Unternehmen unterordnen, steht die Klimabewegung vor Herausforderungen, die nicht einfach zu lösen sind. Eine ganz besondere Herausforderung besteht unmittelbar darin, konkrete Projekte zu entwickeln, um mit jungen Arbeiter:innen in eine Diskussion zu kommen. Sie müssen ihre Anliegen in die Klimabewegung einbringen können. Dies ist ein wichtiger Aspekt für die gesellschaftliche Verankerung der Klimabewegung.

Revolutionäre ökosozialistische Strömung aufbauen

Alle diese Bemühungen brauchen allerdings Akteur:innen und Organisationen, die diese strategischen Herausforderungen annehmen, planen, vorschlagen, Erfahrungen austauschen, gemeinsam lernen und vor allem wirksam organisieren. Ganz entscheidend ist: Es braucht transnationalen Austausch und wir müssen ein Bewusstsein für die globale Dimension der Herausforderung schaffen.

Darum braucht es international koordiniert arbeitende revolutionäre ökosozialistische Organisationen. Dabei steht vorerst nicht der Aufbau neuer Organisationen im Vordergrund, sondern vielmehr die ökosozialistische Sensibilisierung bestehender sozialistischer Organisationen und Parteien. Das im Jahr 2020 gegründete Global Ecosocialist Network[11] setzt sich genau das zur Aufgabe. Das war auch ein Ziel der internationalen ökosozialistischen Konferenz am 26./28. Juni 2020.[12]

In den deutschsprachigen Ländern gibt es zaghafte ökosozialistische Organisierungsprozesse, die sich allerdings in verschiedenen politischen Kristallisationsmomenten und organisatorischen Ausdrucksformen artikulieren. Es gibt auch Gruppierungen, die sich nicht als ökosozialistisch bezeichnen, aber ähnlich denken und handeln. Es ist sinnvoll, diese Bemühungen in einen gemeinsamen Diskussionsprozess zu bringen. Zweifellos wird daraus nicht so rasch eine gemeinsame schlagkräftige Organisation entstehen. In Bezug auf Staat, Teilnahme an Wahlen, dem Verhältnis zu Parteien wie DIE LINKE, Gewerkschaften und der antiimperialistischen Orientierung gibt es unterschiedliche Positionen. Doch durch regelmäßige gemeinsame Debatten, Praxis und theoretische Schärfung lässt sich ein Konvergenzprozess in Gang setzen.

Eine programmatisch klare und aktionsfähige internationale ökosozialistische Strömung ist nötig. Diese muss den Erfahrungstausch unter den beteiligten Personen und Organisationen vorantreiben, um gemeinsam in die Auseinandersetzungen, beispielsweise über den industriellen Um- und Rückbau, zu intervenieren. Diese Strömung kann sich in und neben bestehenden revolutionär sozialistischen Organisationen artikulieren oder auch zur Herausbildung solcher Organisationen beitragen. Die konkrete organisatorische Form passt sich sinnvollerweise den Bedingungen in den Ländern und Regionen an.

Menschen für die ökosozialistische Strömung/Organisation lassen sich in der Klimabewegung, in der feministischen Bewegung, im Gesundheitswesen sowie in anderen öffentlichen Diensten gewinnen. Auch junge Arbeiter:innen in Industriesektoren sind zu überzeugen. Doch das erfordert unterschiedliche Versuche und gegenseitige, zeitintensive Lernprozesse. Durch die Organisierung junger Lohnabhängiger lässt sich auch der erwähnte Neuformierungsprozess einer Bewegung der Arbeitenden beleben. Allerdings hängt der Erfolg dieser Arbeit davon ab, ob ökosozialistische Organisationen diese Herausforderung aktiv und bewusst annehmen. Die internationalen Mobilisierungen sind mit einer lokalen Aufbau- und Organisierungsarbeit tragfähig zu machen, die zugleich die Notwendigkeit des antikapitalistischen Bruchs und ökosozialistischen Aufbruchs hin zu breiten Teilen der Lohnabhängigen trägt.

Die revolutionäre ökosozialistische Strömung sollte in ihrer Alltagsarbeit die umfassende globale Dimension und Dringlichkeit der ökologischen Krise und die Schärfe der sozialen Widersprüche zum Ausgangspunkt nehmen, um eindringlich die Notwendigkeit des Bruchs mit den kapitalistischen Zwängen der Akkumulation, des Profits und der Konkurrenz und die Aktualität eines ökosozialistischen revolutionären Prozesses zu erklären. Allerdings besteht eine große Herausforderung darin, wie wir uns darauf einstellen, dass sich durch die weiterhin ungebremste Erderwärmung große gesellschaftliche Katastrophen und Krisen ereignen werden. Aus dem Überschreiten der Kipppunkte des Erdsystems erwachsen abrupte Wendungen und Brüche, die sich geographisch und gesellschaftlich sehr ungleich vollziehen. Es ist völlig unklar, wie die Menschen auf diese abrupten Veränderungen ihrer Lebensbedingungen reagieren. Umso stärker stehen Ökosozialist:innen vor der Aufgabe, sich inhaltlich und organisatorisch auf diese Brüche einzustellen, die sowohl Chancen auf revolutionäre Aufbrüche als auch Gefahren reaktionärer und barbarischer Finsternisse mit sich bringen.

Quellen und Anmerkungen

[1] Andreas Malm plädiert für einen ökologischen Leninismus und meint der Kriegskommunismus im revolutionären Russland biete Orientierungshilfen für die gegenwärtige die Herausforderung einer nach ökologischen Kriterien geplanten Wirtschaft. Ich halte diese Analogie für historisch und politisch verfehlt. Malm klärt nicht einmal, welchen Charakter dieser Staat haben soll. Er äußert sich auch nicht darüber, wer die gesellschaftlichen Träger:innen des Transformationsprozess sein sollen. Sein Radikalismus erscheint subjektlos und ist mit politisch damit nicht operationalisierbar (Malm 2020, 2021).

[2] Lenin 1918

[3] Viele Anarchist:innen haben den von Lenin in Staat und Revolution gemachten einer ungenügenden Bewertung der eigenständigen Rolle von Parteien sogar noch verstärkt, indem sie diese für überflüssig oder gar ein Übel hielten.

[4] Bensaïd 2002

[5] Zeller 2021

[6] Klimaschutz und Klassenkampf (2021): Unsere Argumente. München https://klimaschutzundklassenkampf.org/

[7] Zeller 2020: 100-108

[8] Zuppinger 2021

[9] Zuppinger 2021

[10] Ich habe ausführlich auf die Vorschläge von Urs Zuppinger geantwortet (Zeller 2021).

[11] globalecosocialistnetwork.net

[12] https://eco-soc.net

Literatur

Bensaïd, Daniel (2002): Leaps! Leaps! Leaps! International Socialism Journal (95 summer). http://pubs.socialistreviewindex.org.uk/isj95/bensaid.htm

Lenin, Wladimir Ilitsch (1918): Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution. Werke, Band 25. 1972. Berlin: Dietz Verlag, 393 – 507 S.

Malm, Andreas (2020): Corona, Climate, Chronic Emergency. War Communism in the Twenty-First Century. London: Verso, 215 S.

Malm, Andreas (2021): How to Blow Up a Pipeline: Learning to Fight in a World on Fire. London: Verso, 208 S.

Zeller, Christian (2020): Revolution für das Klima. Warum wir eine ökosozialistische Alternative brauchen. München: Oekom Verlag, 248 S.

Zeller, Christian (2021): Ökosozialismus: Eine strategische Debatte eröffnen sozialismus.ch. (10. Oktober 2020). https://sozialismus.ch/oekologie/2021/oekosozialismus-eine-strategische-debatte-eroeffnen-teil-2/. Zugriff 19. August 2021

Zuppinger, Urs (2021): Ökosozialismus: Eine strategische Debatte eröffnen (Teil 1). sozialismus.ch. 18. August 2021. https://sozialismus.ch/oekologie/2021/oekosozialismus-eine-strategische-debatte-eroeffnen-teil-1/. Zugriff 10. Oktober 2021

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