Das zerbombte Gaza ist mehr als ein militärisches Schlachtfeld: der Genozid hat nicht nur unzählige Leben vernichtet, sondern er hat auch die Räume des Wissens zerstört. Sämtliche Universitäten und Fachhochschulen sind dem Erdboden gleich, die Labore sind unbrauchbar, die Bibliotheken zerbombt, mehr als 150 Professorinnen und Professoren sowie mehr als 1000 Studierende ermordet und Zehntausende vertrieben. Dieser Genozid galt nicht nur den Menschen, er galt auch ihrer Bildung, ihrem Wissen, ihrer Kultur.
Und gleichzeitig hat dieser Genozid auch seine Spuren im deutschen Wissenschaftssystem hinterlassen: neue Daten zeigen, wie sehr unsichere Arbeitsverhältnisse gepaart mit politischem Druck und einem negativen Debattenklima die Wissenschaftsfreiheit auch hierzulande beeinträchtigen. Die FU Berlin führte eine Umfrage unter Forscherinnen und Forschern mit Nahostbezug durch und veröffentlichte Ende September 2025 eine Studie mit dem Titel „Deutsche Wissenschaft seit dem 7. Oktober“.
Die Ergebnisse sind alarmierend: 85 Prozent der Teilnehmenden berichten, die Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit habe seit der Eskalation des Nahostkonflikts am 7. Oktober 2023 zugenommen. 48 Prozent geben an, dass sie die Gefährdung „stark“ wahrnehmen, weitere 37 Prozent sagen, sie habe „zugenommen“.
Wenn die Schere im Kopf beginnt
Über drei Viertel der Befragten (76 Prozent) fühlen sich in Themen rund um Israel oder Palästina gezwungen, Zurückhaltung zu üben. Mehr als ein Viertel der wissenschaftlich Tätigen gibt an, „oft“ das Gefühl zu haben, die Meinung nicht frei äußern zu können; fast die Hälfte hat zumindest manchmal das Bedürfnis, sich selbst zu zensieren.
Dieser Rückzug findet in aller Öffentlichkeit statt, bei Vorträgen, in Medienbeiträgen, im Kreis der Kolleginnen und Kollegen; er speist sich aus Angst vor Missverständnissen, öffentlicher Anfeindung und echten beruflichen Konsequenzen. Besonders betroffen sind Forschende in prekären Beschäftigungsverhältnissen: Postdocs fühlen sich sehr viel stärker bedroht als Professorinnen und Professoren mit sicheren Stellen. Die Studie legt nahe: je prekärer das Arbeitsverhältnis, desto größer die Gefahr der Selbstzensur.
Die physische Vernichtung des Wissenschaftssystems in Gaza, zerstörte Gebäude, verloren gegangene Forschungsdaten, fehlende Instrumente, Stromausfälle, kein Internet, macht jede Form von Lehre und Forschung fast unmöglich. Während in Deutschland um Räume des Sprechens gekämpft wird, gibt es in Gaza nicht einmal mehr Räume, in denen argumentiert oder geforscht werden kann. Wissenschaftspolitik versagt, wenn sie nicht mithilft, sondern sogar verhindert, dass über diesen Alptraum gesprochen, geschrieben, geforscht werden kann.
Die Studie aus Deutschland macht klar: (relativer) Wohlstand, Demokratie und formale Freiheiten bieten keinen automatischen Schutz, wenn Wissenschaftsfreiheit nicht aktiv verteidigt wird.
Kampf um Wissenschaftsfreiheit
In dieser Situation bräuchte es eine Politik, die Wissenschaft nicht nur schützt, sondern sie stärkt: verlässliche, öffentlich solide finanzierte Strukturen, sichere Beschäftigungsverhältnisse, die Stärkung der Autonomie der Hochschulen und der Forschenden und Schutz vor politischem Druck, gerade wenn Themen berührt werden, die unbequem sind.
Doch in Deutschland erleben wir das Gegenteil. Das Schweigen der letzten wie der aktuellen Bundesregierung zu den Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit ist ohrenbetäubend, die wiederholten Versuche von Vertreterinnen und Vertretern der Regierungsfraktionen, Kritik an der israelischen Kriegsführung im Namen der Staatsräson zum Schweigen zu bringen, sind entlarvend.
Mit der sogenannten Fördermittelaffäre der ehemaligen FDP-Wissenschaftsministerin Bettina Stark-Watzinger wurde deutlich, wie bereitwillig politische Macht genutzt wird, um kritische Stimmen zu disziplinieren. Wer sich mit den Kriegsverbrechen Israels befasst, wer Solidarität mit Gaza zeigt oder den Begriff „Genozid“ überhaupt ausspricht, riskiert heute die öffentliche Ächtung oder den Verlust von Forschungsförderung. Das ist keine unbeabsichtigte Schieflage, sondern Ausdruck eines Systems, das die Wissenschaft durch politische Zensur gefügig machen will.
Zensur und Instrumentalisierung des Kampfes gegen Antisemitismus
Diese Zensur findet ihren vielleicht schärfsten Ausdruck in einer von Union, SPD, Grünen und FDP verabschiedeten Resolution, deren vorgebliches Ziel der Schutz jüdischen Lebens ist und dabei die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrence Alliance zur allgemein gültigen Norm erklärt. Die Resolution ist kein Gesetz, enthält jedoch die Forderung an Bund, Länder und Kommunen, „rechtssichere, insbesondere haushälterische Regelungen“ zu erarbeiten, um zu erreichen, dass Organisationen, die mit abweichenden Antisemitismusdefinitionen arbeiten, nicht gefördert werden. Damit wird eine politische Erklärung in ein administratives Instrument verwandelt. Obwohl eine Bundestagsresolution nicht die gleiche rechtliche Verbindlichkeit wie ein Gesetz besitzt, erzeugt sie einen immensen politischen Druck auf Förderinstitutionen und kulturelle Institutionen. Die wahre Macht der Resolution liegt somit nicht in klaren rechtlichen Verboten, sondern im strategischen Einsatz von Ambiguität. Die vage IHRA-Definition schafft ein Klima der Unsicherheit und Risikovermeidung. Eine Universitätspräsidentin oder ein Kulturintendant, die mit der Anwendung dieser Definition konfrontiert ist, wird im Zweifelsfall immer die risikoärmste Entscheidung treffen: die Absage einer Veranstaltung, die Ablehnung eines Förderantrags. Die Resolution erzwingt keinen Gehorsam, sie erzeugt ihn. Sie verlagert die Zensur auf die administrative Ebene und tarnt sie als sorgfältige Prüfung.
Unsere doppelte Verantwortung
Während Deutschland die Zusammenarbeit mit israelischen Universitäten weiter privilegiert und politisch wie finanziell absichert, bleiben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Gaza weitgehend ohne Perspektive. Ihnen werden kaum Visa erteilt, kaum Fördermittel, kaum Räume zur Fortsetzung ihrer Arbeit. Damit lässt man nicht nur Einzelne im Stich, sondern ein gesamtes zerstörtes Wissenschaftssystem, das ohne internationale Unterstützung keine Zukunft hat.
Diese Politik der doppelten Standards offenbart eine tiefere Wahrheit: Wissenschaft und akademischer Austausch werden nicht mehr primär als autonome Bereiche des freien Erkenntnisgewinns behandelt, sondern zunehmend als Instrumente der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Akademische Partnerschaften werden zur „Wissenschaftsdiplomatie“, und die Prioritäten der Forschungsförderung werden an die geopolitische Agenda angepasst.
Der Krieg gegen das Wissen hat zwei Fronten: die eine, brutale und physische, in den Trümmern der Universitäten von Gaza; die andere, subtilere und diskursive, in den Hörsälen, Konferenzräumen und Ministerien Deutschlands. Die Verbindung zwischen beiden ist enger, als es auf den ersten Blick scheint. Die Anfälligkeit des deutschen Wissenschaftssystems für politischen Druck ist nicht allein ein Resultat des aktuellen aufgeheizten Klimas. Sie ist auch die Folge einer tiefgreifenden strukturellen Schwäche, die durch jahrzehntelange politische Vernachlässigung entstanden ist.
Es ist ein System, das Konformismus und Risikoaversion belohnt und dem Wissenschaftssystem die Widerstandskraft geraubt hat, die es benötigt, um seine eigenen fundamentalen Prinzipien wie die akademische Freiheit wirksam zu verteidigen.
Daraus erwächst eine doppelte Verantwortung. Einerseits ist es eine moralische und akademische Pflicht, die Asymmetrie der Solidarität zu durchbrechen. Das bedeutet, aktiv die Schaffung von Programmen zu fordern, die palästinensischen Studierenden und Forschenden helfen, durch Visa, Stipendien und sichere Orte, an denen sie ihre Arbeit fortsetzen können. Es bedeutet, sich für den Wiederaufbau der zerstörten Institutionen in Gaza einzusetzen als Verpflichtung gegenüber der globalen Wissenschaftsgemeinschaft.
Andererseits muss der Kampf für die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland an den strukturellen Wurzeln ihrer Gefährdung ansetzen. Es reicht nicht, Zensurversuche anzuprangern. Es muss der Kampf für eine bessere Grundfinanzierung und bessere Arbeitsbedingung genauso im Fokus stehen um die Autonomie der Institutionen und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu stärken.
Ein Artikel von Nicole Gohlke, Stellvertretende Fraktionsvorsitzende DIE LINKE, Sprecherin für Bildung und Wissenschaft.





Eine Antwort
Die Debatte über Staatlich Verordnete Zensur oder mehr oder minder gar Redeverbote, Freiheit der Meinungsäußerung bei bestimmten Themen und die Rolle der Politik im Politisieren von Protestierenden, bis hin zum Instrumentalisieren von Strafverfolgungsbehörden, aufgrund Politisch anderem Werteverständnis, ist sehr angebracht und sollte in Deutschland auch auf Schärfste mal breit mit klaren Worten und Rüge an Verfehlungen, von Politikern von Verfassungsgericht etc. pp. auch mal Konsequenzen haben, im Moment ist von den Freiheiten im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder geschrieben, nicht mehr viel als fester Wert eines jeden einzelnen Bürgers geblieben, es musste der Willkürlichen Emotionen von Politikern und der Ideologischen Auffassung einer Bundesregierung weichen.
Erinnern wir uns nur mal an eine UN Diplomatin derer mit Haft gedroht wurde. Anderen EU Diplomaten denen die Einreise und Betätigung verboten wurde, natürlich alles ohne Gesetzlich eine Handhabe, daher im Nachhinein für Unrechtmäßig erklärt, die Willkürlichen Handlungen geschahen ja trotzdem einwirkend auf Freiheitsrechte ungestraft zuvor.
Und je mehr Panik vor Machtverlust die Parteien bekommen, desto Autoritärer und mehr willens Einschränkend auf Freiheitsrechten zu agieren werden diese. Da gab es vor Deutschland viele Beispiele, aber Deutschland holt zu Autoritären Staaten auf.