Spätestens seit dem Beschluss der Linken die Jerusalemer Erklärung für Antisemitismus (JDA) anzunehmen, wird Deutschland darüber diskutiert was Antisemitismus ist. Wir haben mit Dr. Dr. Peter Ullrich über die Frage gesprochen was Antisemitismus ist, wie sich die IHRA und die JDA unterscheiden und welche Kritik an Israel antisemitisch ist.
Etos.media: Seit dem Wochenende wird in Deutschland rege über Antisemitismusdefinitionen diskutiert. Auslöser war ein Beschluss der Partei Die Linke, die sich am Wochenende darauf verständigt hatte, sich auf die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (JDA) zu berufen. Wie nehmen Sie die Debatte wahr?
Dr. Peter Ullrich: Die Diskussion erscheint mir ziemlich unangemessen. Die Kritikerinnen des Beschlusses erwecken den Eindruck, mit diesem sei Tür und Tor für israelbezogenen Antisemitismus geöffnet worden. Das muss ich – auch als Ko-Autor der JDA – ganz klar zurückweisen. Erstens ist die Jerusalemer Erklärung ein gewichtiges Dokument. Dahinter stehen Hunderte Expertinnen aus der Wissenschaft weltweit, vor allem viele namhafte Antisemitismus- und Holocaustforscherinnen. Zweitens ging es in dem Beschluss der Linken um mehr: um die autoritäre Form der gegenwärtigen Antisemitismusbekämpfung mit ihren Repressionen – von Veranstaltungsabsagen über Vertragskündigungen bis zu Ausweisungen, sogar von EU-Bürgerinnen, und massiven Verschärfungen im Einbürgerungsrecht. Diesen Kontext muss man sehen.
Schade ist dabei allerdings, dass es am Ende in der ganzen Debatte nur um die Frage ging, was in Bezug auf Kritik an Israel antisemitisch ist oder nicht. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Antisemitismus und der Frage, wie er zu verstehen und zu bekämpfen ist, war das sicherlich nicht. Dafür braucht es mehr Zeit, andere Formate, mehr Beteiligung und mehr Expertise. Der Beschluss ist symbolisch zu verstehen – als ein Stoppsignal gegen den autoritären Anti-Antisemitismus und als Signal an die Parteiführung, dass sie das Thema nicht auf die lange Bank schieben kann.
Etos.media: Die JDA ist eine von mehreren Definitionen von Antisemitismus. In 15 Punkten hält sie fest, was per se antisemitisch ist und was nicht per se als antisemitisch verstanden werden kann. Wie lassen sich diese Punkte zusammenfassen?
Dr. Peter Ullrich: Im Kern ist es so: Alle Beispiele sind dann antisemitisch, wenn sie sich auf Jüdinnen, Juden und das Judentum beziehen – auch dann, wenn dies durch Israel „camoufliert“ wird. Wenn Israel kritisiert wird – egal, ob richtig oder falsch, angemessen oder unangemessen – und dieser Sinnzusammenhang nicht hergestellt wird, dann ist es nicht Antisemitismus. Die Beispiele sind also stets im Kontext und im Zusammenhang mit der Kerndefinition zu lesen. Diese lautet: Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder gegen jüdische Einrichtungen als jüdische).
Das Lesen im „Gesamtzusammenhang“ fordert übrigens auch die Arbeitsdefinition in ähnlicher Weise. Viele Anwender*innen nutzen jedoch die Beispiele, die dort genannt sind – die den Bedeutungsgehalt der Definition zudem deutlich ausweiten – als wären sie automatisch Beispiele für Antisemitismus. Doch darin steckt vieles, das sehr Unterschiedliches bedeuten kann. Das trägt zu jener Konfusion bei, die die IHRA-Definition grundsätzlich kennzeichnet.
Wenn also jemand aus antisemitischen Motiven den Staat Israel ablehnt und dem „grundbösen Zionismus“ die „guten arabischen Völker“ gegenüberstellt, ist das antisemitisch. Wenn aber linke Israelis als Antinationale „ihren“ Staat ablehnen (oder ihn als rassistisch kritisieren), oder wenn Palästinenser*innen das als Opfer von Besatzung und Kriegsverbrechen tun, oder ultraorthodoxe Sekten, die meinen, dass nicht der Mensch Israel „wieder“ begründen dürfe – dann ist das etwas anderes. Das muss man unterscheiden können.
Natürlich können sich Motive überlagern, aber man muss erst einmal in der Lage sein, das begrifflich auseinanderhalten zu können – und nicht hinter jeder Äußerung, die man radikal oder unangemessen findet, sofort Antisemitismus vermuten.
Etos.media: Wie lässt sich Antisemitismus definieren?
Dr. Peter Ullrich: Darüber besteht in der Forschung schon keine Einigkeit, aus guten Gründen, wie wir zuletzt auch in unserem Handbuch “Was ist Antisemitismus. Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft” zu zeigen versucht haben. Allein wenn man bedenbkt, dass manche dem Antisemitismus eine Geschichte seit dem 19 Jahrhundert zuordnen, andere eine 2500-jährige seit der griechischen Antike.
Ich finde, eine der besten, knackigsten und sehr, sehr dichten Definitionen kommt von Klaus Holz und Thomas Haury: Antisemitismus ist die „abwertende Dichotomie wir/Juden“. Da steckt unglaublich viel drin, was längerer Erörterung bedürfte, aber sie benennt klar und präzise den Kern dessen, was wir als Antisemitismus bezeichnen können. Die JDA ist meines Erachtens die bessere der kursierenden Praxisdefinitionen (die für ein breiteres Publikum gedacht sind) – schon allein deshalb, weil sie im Gegensatz zur „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ klar formuliert ist.
Aber Antisemitismus ist ein historisches Phänomen, das sich wandelt. Schon deshalb sperrt er sich gegen eine bündige Definition. Diese Einschränkung gilt für IHRA, JDA und auch das ebenso spannende Nexus-Dokument – eine US-amerikanische alternative Praxisdefinition. Und jede Definition lässt sich auch nur mit Kontextwissen anwenden. Sie macht eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Antisemitismus nicht obsolet. Für solch komplexe Phänomene gibt es keine Lackmustests. Da ist der gesamte öffentliche Definitionsstreit ein völlig unangemessener Glaubenskampf um politische Geländegewinne. Deswegen ist die Kritik – bspw. von Zentralratspräsident Schuster und anderen Kritiker*innen der JDA – so wohlfeil und teils schlicht falsch. Der JDA wird beispielsweise unterstellt, dass sie israelbezogenen Antisemitismus legitimieren wolle. Aber sie benennt ihn ganz klar – allerdings nur dort, wo das auch angemessen ist.
Etos.media: Wie kann die JDA helfen, antisemitische Tendenzen besser zu erkennen, ohne gleichzeitig politische Kritik zu diffamieren?
Dr. Peter Ullrich: Indem sie diese Differenzierung zulässt. Sie ruft zum Differenzieren auf, sie fordert Genauigkeit ein, Abwägen, Bewertung der gesamten Umstände statt Reflexe. Sie benennt als antisemitisch, was unstrittig antisemitisch ist: klassische antisemitische Stereotype, Holocaustleugnung, Weltverschwörungsideen, Friedhofsschändungen manifest wie auch verschlüsselt auftretende Phänomene. Und sie sagt bspw.: Boykottieren ist nicht per se antisemitisch. Es gibt eine lange und vielfältige Geschichte der Boykotte, zu der mehr gehört als der Judenboykott der Nazis. Ob man das für strategisch klug oder politisch angemessen hält, ist eine andere Frage. Antisemitisch wird es nur dann, wenn Jüdinnen und Juden nur aufgrund ihrer Zugehörigkeit boykottiert werden. Das kommt tatsächlich immer wieder mal vor aber das ist nicht der Kern der Kampagne, die in sich selbst auch widersprüchlich ist. Mit der JDA kann man die unterschiedlichen Facetten erfassen.
Etos.media: Was sind die zentralen Unterschiede zwischen JDA und der IHRA-Definition?
Dr. Peter Ullrich: Sie haben beide einen zeitlichen Kern. Als die Arbeitsdefinition entstand, galt es, israelbezogenen Antisemitismus überhaupt erst einmal in den Blick zu nehmen. Damals, Anfang der 2000er-Jahre, gab es eine Welle von Gewalt gegen Jüdinnen und Juden – vor allem in Westeuropa –, die sich oft auf den Nahostkonflikt bezog. Dieser Fokus war aber auch ihr Geburtsfehler: Sie legte unangemessen viel Wert auf die Beschreibung dieses Teilaspekts. Sieben ihrer elf Beispiele beziehen sich darauf. Andere Aspekte fielen hinten runter.
Außerdem etablierte sich, nachdem die IHRA 2016 die Definition verabschiedet hatte, zunehmend die Praxis, sie als Instrument der Diskursregulierung einzusetzen – bspw. im BDS-Beschluss des Bundestags und mehrerer Kommunen. Darauf antwortete die JDA mit einer Definition, die es erlaubt, besser zwischen den Dingen zu unterscheiden. Und sie begeht nicht den Kernfehler des gegenwärtigen autoritären Anti-Antisemitismus, der alle Distanz- und Feindschaftsphänomene gegenüber Israel antisemitismustheoretisch fassen will. Das ist angesichts eines jahrzehntelangen Gewaltkonflikts mit ökonomischen, kulturellen, religiösen, nationalen, internationalen, siedlungskolonialistischen, rassistischen, antisemitischen usw. Dimensionen natürlich hochgradig verstörend und extrem reduktionistisch.
Etos.media: Was erhoffen Sie sich für die zukünftige Debatte um Antisemitismus und den Kampf dagegen, wäre es sinnvoll mehr Parteien und Institutionen würden die JDA annehmen? Ist in diesem Kontext die aktuelle Debatte hilfreich?
Dr. Peter Ullrich: Natürlich ist es gut, wenn die JDA von mehreren Organisationen angenommen wird und dieser politisch verordnete, schmale Meinungskorridor aufgebrochen wird. Aber solche – symbolisch bleibenden – Beschlüsse reichen nicht. Es braucht eine gesellschaftliche Diskussion, die sich den ganzen Widersprüchen stellt. Die braucht die Beteiligung von Betroffenen – da sind in dieser Überlagerung der Themen nicht nur Jüdinnen und Juden in ihren vielfältigen Positionierungen und Wahrnehmungen gemeint, sondern gerade auch Palästinenser*innen und andere. Sie braucht Zeit, sie braucht das Erlernen von Ambiguitätstoleranz, sie braucht historisch-politische Bildung, Wissen über Antisemitismus, Rassismus und die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts – und nicht nur über jüdische Geschichte und die Geschichte Israels, wie es die Antisemitismusresolution des Bundestags verengt.
Darin wird es dann kompliziert, entstehen Solidaritätsdilemmata. Denen entkommt man nicht durch Beschlüsse, nicht durch Deklarationen – aber durch Diskussionen, Zuhören, das Anerkennen von Widersprüchen, durch praktische Solidarisierungen, die herausfordernd sein können. Das muss ein Prozess sein.
Zum Glück zeigt sich langsam, dass es nicht nur überdrehte Positionen in der Debatte gibt, sondern auch Reste liberalen Denkens. Nach den Invektiven von Werteinitiative, Josef Schuster, Bild-Zeitung, CDU/CSU mehren sich nun auch Stimmen, die den Beschluss der Linken unaufgeregter beurteilen oder erkennen, was in ihm steckt: die Chance, Antisemitismus in linker Gesellschaftskritik ernst zu nehmen den Antisemitismus, der unsere Gesellschaft mit jahrhundertealten Wurzeln und starker Prägekraft beeinflusst ohne die israelischen Kriegsverbrechen in Gaza zu dethematisieren, weil das unsere Staatsräson verbiete. Es gibt also auch zarte Anzeichen von Hoffnung.
Etos.media: Danke dir für das Gespräch.
Eine Antwort
Der Völkermord in Gaza hat die Ausflüchte, mit denen wir uns selbst und andere täuschen, zum Einsturz gebracht.
Er verspottet jede Tugend, die wir zu verteidigen vorgeben, einschließlich des Rechts auf freie Meinungsäußerung.
Er ist ein Beweis für unsere Heuchelei, Grausamkeit und unseren Rassismus. Nachdem wir Milliarden von Dollar für Waffen bereitgestellt und diejenigen verfolgt haben, die den Völkermord verurteilen, können wir keine moralischen Ansprüche mehr geltend machen, die ernst genommen werden.
Unsere Sprache wird von nun an die Sprache der Gewalt sein, die Sprache des Völkermords, das monströse Heulen eines neuen dunklen Zeitalters, in dem absolute Macht, ungezügelte Gier und unverminderte Grausamkeit die Erde heimsuchen.
Chris Hedges, 17. Mai 2025