Was ist eigentlich das Revolutionäre an der Vier-in-einem-Perspektive?

Vom Projekt, das sich »Vier-in-einem-Perspektive« nennt, kann auf vielerlei Weise erzählt werden. Man könnte beginnen mit den Anfängen der Frauenkämpfe um Befreiung an vielen Orten der Welt und zu vielen Zeiten; oder mit der Auseinandersetzung mit den Sprechern sozialistischer Befreiungskämpfe und meiner eigenen Beteiligung in solchen Kämpfen; der Bericht könnte einsetzen zu dem Zeitpunkt, da das Projekt formuliert und mit diesem Namen von mir bezeichnet wurde; schließlich interessiert das weitere Schicksal dieses Projekts als Geschichte seiner Verbreitung, seiner politischen Wirkung, seiner Unabgeschlossenheit. Und nicht zuletzt geht es um Zweifel, um Kritik.

Dieser Artikel von Frigga Haug erschien ursprünglich in der neuen Juni-Ausgabe der Zeitschrift »Sozialismus«. Die Zeitschrift ist ein monatlich erscheinendes Forum für die Debatte der gewerkschaftlichen und politischen Linken in Deutschland. Abonnements und Kennenlern-Abos können unter www.sozialismus.de abgeschlossen werden.

Brecht empfiehlt: »Das Gehen zu Zielen, die man zu Fuß nicht erreichen kann, muss man sich abgewöhnen.« Die kurzen, einfach formulierten Sätze von Brecht haben es in sich. Immer laden sie zu unmittelbarem Einverständnis ein, das sogleich in produktives Nachdenken übergehen wird – kurz, sie stiften dazu an, sich zu bewegen. Auch im zitierten Satz sieht man beunruhigt, dass wohl kaum das Ziel zur Abgewöhnung empfohlen war, auch nicht die Fortbewegungsart, sondern die bestimmte Kombination dieser beiden. Wenn wieder und wieder (in Sozialismus) die tragende Grundlage der 4in1-Perspektive, dass »Geschlechterverhältnisse Produktionsverhältnisse sind«, bezweifelt wird, der These die Legitimation entzogen wird und alte Kämpfe neu aufgelegt werden und nichts Neues an die Stelle tritt, sollte man sich das Gehen zu einem Ziel des besseren Verständnisses durch die stete Wiederholung beweisender Sätze und Zitate abgewöhnen, einfach schweigen – oder Weg und Ziel anders kombinieren.

Schon vor Jahrzehnten und seither immer wieder erlebten wir, dass in den Quotenkämpfen um gleiche Beteiligung von Frauen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft trotz allem selbstverständlichen Einverständnis (in westlich-kapitalistischen Ländern), dass die Hälfte der Gesellschaft den Frauen zukomme, die konkreten Schritte in der Zurückweisung der Frauendiskriminierung einfach auf der Stelle stampften, bis sich die Kämpfenden entmutigt und erlahmt zurückzogen. Die entscheidende Wende kam in diesem Fall durch die Umkehrung der Frage. So fragten wir nicht mehr danach, warum Frauen nicht in allen Bereichen gleichberechtigt vertreten seien und stellten entsprechend Forderungen vornehmlich an den Staat, sondern danach, was eigentlich die Gegner der Frauengleichstellung für sich und für die gesamte Gesellschaft befürchten, wenn sie das Selbstverständliche, dass auch Frauen Menschen sind, praktisch werden ließen? Diese Frage erwies sich sogleich als fruchtbar, die Ernte war unverhofft groß. Es wurde nämlich als Folge von Frauengleichstellung nicht mehr und nicht weniger befürchtet, als dass alle Menschlichkeit aus der Gesellschaft schwände, Kälte statt Wärme, Hass statt Liebe, Feindschaft statt Freundlichkeit, erbitterte Konkurrenz statt sorgendes Miteinander die Leitlinien der neuen gleichberechtigten Gesellschaft würden. Natürlich sagte das kaum jemand so deutlich, jedoch ließ sich ohne weiteres Stück um Stück das einfache Ergebnis herausschälen: In allen herrschaftlich organisierten und vor allem in kapitalistischen Gesellschaften ist die Frauenunterdrückung ins Fundament eingelassen, um das Miteinander unterhalb der Ebene von Gesetz und Verfassung zu regeln. Es braucht für die Reproduktion dieser Gesellschaften eine Gruppe von Menschen, denen das Menschsein nicht voll zugestanden ist, die aber gleichwohl das Menschliche an der Gesellschaft freiwillig und ohne weiteres Entgelt tun, einfach weil sie anders auch sich selbst nicht wirklich bejahen und reproduzieren können.

Diese Konstellation sieht heute, gut drei Jahrzehnte nach den heftigen Quotenkämpfen, nicht mehr ganz so dramatisch aus. In den letzten Jahren wurde das eine oder andere verändert; um ganz wenige Prozente wuchs sogar der Anteil der Frauen in Spitzenpositionen – nämlich ihrer Beteiligung an Entscheidungen in Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Wissenschaft, überall da, wo es etwas Wichtiges für die Gesellschaft zu bestimmen gab. Allerdings kommt ihr Anteil aus Mangel an Stallgeruch einfach nicht über die Marke von zehn Prozent hinaus. Dies genauer zu erforschen ist aber ein anderes Thema.

Wie steht es mit unserer Frage nach der strategischen Bedeutung der Vier-in-einem-Perspektive für Politik und Erkenntnis, für unsere kollektive Handlungsfähigkeit, wenn die grundlegende These, dass Geschlechterverhältnisse Produktionsverhältnisse sind, auf dem Wege der Diskussion und Argumentation nicht akzeptiert werden will? Wir wechseln die Bewegungsweise und die Zielbestimmung und fragen stattdessen: Was ist eigentlich das Revolutionäre an der 4in1-Perspektive, dass so viele dafür streiten, dass sie international aufgenommen ist nicht nur in Österreich und in der Schweiz, die ja Deutsch sprechen und lesen, sondern auch in Spanien, USA, Frankreich, Belgien, Polen, Türkei (und viele andere, die ich aus Mangel an Buchführung und Zeit vergessen habe; eine Übersetzung ins Persische ist z.B. soeben begonnen worden, weil sie gebraucht wird)? Dafür muss noch einmal zurückgegangen und rekonstruiert werden, was diese Perspektive bündelt, was das Ziel dieser Bündelung ist und welche Wege sie ging, den Aufbruch zu beginnen.

Die neue Ordnung des Projekts 4in1

Das Projekt selbst ist ganz leicht zu verstehen. Ausgehend von der Einsicht, dass Menschen tätige Wesen sind, werden zunächst vier Bereiche nebeneinandergestellt, was im Laufe der Geschichte der Entwicklung der Menschheit auseinanderfiel in Praxen, die verschiedenen Menschengruppen zufielen.

Da ist der Sektor, den wir Produktion und Reproduktion der Mittel zum Leben nennen; dieser ist in kapitalistischen Gesellschaften in der Form der Lohnarbeit geregelt.

Dann der ganze Bereich, der sich um das Leben selbst kümmert, seine Pflege, die Fürsorge, also die Arbeit füreinander, vor allem für diejenigen, die das nicht selber tun können, weil sie zu klein, zu alt, zu krank, behindert sind. Dieser Bereich wurde historisch durchweg den Frauen zugeordnet, ist teilweise in Lohnarbeit überführt und erfreut sich ansonsten der gesellschaftlichen Achtung als Umsonstarbeit in komplizierten Abhängigkeits- und Versorgungsverhältnissen.

Dann der Bereich der eigenen Entwicklung, des Lernens, der Entfaltung »einer Welt produktiver Anlagen«, wie Marx das nennt, in dem also ein jeder/eine jede die eigene Entwicklung und Entfaltung vorantreibt, lernt, sich in den Künsten übt, sich also selber Zweck ist und praktisch erfährt, dass Menschsein mehr heißt als essen, trinken und die nötigen Mittel dazu verdienen in Lohnarbeit.

Den tätigen Tag sich so eingeteilt zu denken, stößt unweigerlich auf die Frage, dass eben eine solche Einteilung ja eine Gestaltung von Gesellschaft ist, dass also die Politik ebenfalls zur Aufgabe und Zeit eines jeden und einer jeden gehören muss.

Es ist überhaupt »nicht neu«, diese Bereiche in Augenschein zu nehmen. Neu ist, die selbstverständliche Über- und Unterordnung, welche die jeweiligen Bereiche in der Gesellschaft, aber auch im Leben der einzelnen erfahren, anders anzuordnen. Dies geschieht zunächst theoretisch im Modell, indem eine Gleichrangigkeit und also Verallgemeinerung der dort nötigen Tätigkeiten auf alle Gesellschaftsmitglieder Ziel des Modellentwurfs ist, welcher seine Füße selbst natürlich ganz praktisch in den Bereichen selbst hat. Insofern ist 4in1 ein Projekt im Werden, ist Perspektive, welche zugleich in den alltäglichen Praxen heute schon lebt.

Der Vorschlag, den Ausgangspunkt theoretisch-politischen Denkens bei der gesamtgesellschaftlichen Arbeit bzw. allen Tätigkeiten zu nehmen und eine andere als die gewöhnliche Ordnung und Verteilung vorzuschlagen, hat von vielen gelernt. Von Marx‘ Projekt – vornehmlich geschrieben in den Feuerbachthesen –, von der »sinnlich praktischen Tätigkeit« auszugehen und die »Selbstveränderung und das Verändern der Umstände in revolutionärer Tätigkeit« zusammen zu begreifen; von Rosa Luxemburgs »revolutionärer Realpolitik« ebenso wie von Antonio Gramscis Staats- und Hegemonietheorie und immer weiter aus den Bewegungen der Arbeiter und der Frauen in den je aktuellen Kräfteverhältnissen.

Der treibende Widerspruch

Die mühsame jahrelange Suche nach der Herkunft und den Gründen für die Dauerhaftigkeit der Frauenunterdrückung und ihrer steten Wiederherstellung, die bei den Frauen in der Studentenbewegung vor allem dazu führte, trotzig den Versuch zu unternehmen, in den marxschen Arbeitsbegriff die Umsonsttätigkeiten der Frauen einzuschreiben und dabei zu scheitern (bekannt als Hausarbeitsdebatte oder englisch »domestic labour debate«), machte den Sprung in eine andere, auch von Brecht beeinflusste Frageweise geradezu zu einem Akt der Befreiung. Sobald die Frage der häuslichen Arbeit nicht ein Streit um ihre Bezahlung wird oder gar um ihre Überführung in Lohnarbeit, die man doch als entfremdete Arbeit weiß und daher gar nicht als Ziel eigener Aktivitäten dachte, kann qualitativ über die Art dieser Tätigkeiten, über ihre Widersprüchlichkeit, zugleich zur menschlichen Perspektive zu gehören wie Subalternität und Unterdrückung zu befestigen, so nachgedacht werden, dass eine neue große Ordnung am Horizont als Befreiungsprojekt auftaucht. Methodisch wird wichtig zu lernen, dass der Widerspruch das Treibende ist und dies auf eine Weise, dass nicht einfach für oder gegen Hausarbeit, Umsonstarbeit, häusliche Tätigkeiten vs. bezahlte Lohnarbeit, also im lähmenden Gegensatz Politik gemacht wird. Erkannt wird, dass jeweils die einzelnen Elemente selbst in einen anderen Kontext gestellt werden müssen, um die fesselnden Dimensionen auszumachen und die befreienden erst entfalten zu können.

Subjekte in Veränderung

Es ist für die einzelnen Menschen je für sich ein wenig schwierig, das vormals Verachtete – etwa die häusliche, die pflegende und fürsorgende Arbeit – als Arbeit zu achten und dies nicht als bloß ideologisches Übermalen zu handhaben. Aber wenn man erst anfängt, darüber nachzudenken, was es bedeutet, dass eine jede und ein jeder sowohl in der Besorgung der gesamtgesellschaftlich notwendigen Lebensmittel engagiert ist – dies in den fachlich außerordentlich ausdifferenzierten Bereichen –, dass aber ebenso ein jeder und eine jede fürsorglich für andere tätig ist und dafür eigene Zeit im Tagesablauf einplant, statt einfach einer Karriere zu folgen; wenn jeder sich und sein Leben reflektiert und erfährt, welche Menschlichkeit in das eigene Leben einkehrt, sobald auch Zeit und Muße ist, Kunst und lebenslanges Lernen als eigens zu entwickelnde Praxen zu planen und dann noch die Gesellschaftsgestaltung als eigene Aufgabe verantwortlich akzeptiert, wird man erkennen, dass fast die gesamte Ordnung in dieser bisherigen Gesellschaft von Krise und Krieg, von Armut für die meisten und Reichtum für wenige, von Verwahrlosung und Überfluss, von Langeweile und Konsum umgekrempelt werden muss. Es ist nicht nur so, dass, wenn man sich das erst durchrechnet, es unmöglich wird, mehr als vier Stunden in der Erwerbsarbeit zuzubringen, damit die anderen drei Bereiche in der tätigen Lebenszeit überhaupt wahrgenommen werden können. Man erkennt zugleich, welch restriktiver Arbeitsbegriff Geltung hat, wenn um den Achtstundentag und um »Vollzeiterwerbsarbeit« gekämpft wird auf der einen Seite, und wenn auf der Gegenseite »Arbeitslosigkeit« der Schrecken ganzer Gesellschaften ist, während doch die Verteilung der gesellschaftlichen Gesamttätigkeiten auf alle ohne weitere Katastrophen möglich wäre. Man erkennt aber auch zugleich, dass für eine solche andere Ordnung ein Plan gebraucht wird, um die Verteilung der Tätigkeiten auch nach den menschlichen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu regeln und findet sich unverhofft vor dem Tabu, über Planwirtschaften neu nachzudenken. Es braucht vor allem auch die Einwilligung aller, sich in eine solche von ihnen allen getragenen Gesellschaft zu begeben, wenigstens probeweise. Dies ist selbst ein langwährendes Lernprojekt, das wir eine »konkrete Utopie« nennen können.

Die Stellung der Frauen

Es richtet sich die Vier-in-einem-Perspektive an alle Menschen, dass sie etwa den Streit um Arbeit, ob sie Lohnarbeit, Hausarbeit, produktiv oder nicht sei, beenden dadurch, dass sie von der gesamtgesellschaftlichen Arbeit ausgehen, nicht bloß von der Lohnarbeit, indem sie eben für alle Arbeiten eine andere Ordnung vorschlägt. Diese eröffnet die Möglichkeit, dass an alle Tätigkeitsbereiche verantwortlich gedacht wird und die Verfestigung einiger mit den historischen Individualitätsformen, so zum Beispiel das Sorgen mit den Frauen, aufgesprengt wird. Bei dem notwendigen Umbau der Gesellschaft kommt den Frauen dabei unerwartet statt einer helfenden eine Schlüsselrolle zu. Sie haben ein genuines Interesse, dass etwa die Sorge für diejenigen, die umsorgt werden müssen, auf alle verteilt wird und von einer Geschlechtsspezifik in allgemeine Verantwortung übergeht und keineswegs vergessen wird. Von der Umverteilung aller Arbeiten haben sie als Menschen mehr zu gewinnen als sie verlieren mit dem verlorenen Anspruch aufs Versorgtwerden im unselbständigen Leben

Widerstände

Gibt es eigentlich Widerstände gegen die Vier-in-einem-Perspektive? Zunächst lässt sich zusammenfassend festhalten, dass das Projekt selbst, überall wo ich oder wir es vorstellen, auf große Zustimmung, ja Begeisterung und Erleichterung stößt, als wäre etwas lang Gestautes endlich in freie Gewässer gekommen. Es verschiebt eine Reihe von Problemen durch Verallgemeinerung. Alle sind in allen Bereichen tätig. Mit dieser Perspektive haben wir einen Spannungsrahmen, der es ermöglicht, die Fragen und Analysen der Kritik der politischen Ökonomie zu verbinden mit den Fragen des Individuums und seiner Lebensführung – in Fachdisziplinen gesprochen, die Fragen, die gewöhnlich in Ökonomie und Soziologie behandelt werden, zu verknüpfen mit denen, für die sich die Psychologie, die Psychoanalyse zuständig und kompetent erachten. Zugleich damit greifen wir ein in den praktisch-politischen Streit um gesellschaftliche und individuelle Relevanz der einzelnen Arbeitsarten, gewöhnlich betrachtet als häusliche und »Reproduktionsarbeit« (der Begriff ist ungut und muss unbedingt weitergearbeitet werden, weil er zugleich für die Wiederherstellung des Gesamtsystems, also die kapitalistische Reproduktion, gebraucht wird, als auch für die der Individuen – das gibt mehr Missverständnisse als Begreifen) auf der einen Seite, Erwerbsarbeit auf der anderen, deren Grenzen wir ohnehin wegen der vielen schon in Lohnarbeit überführten Pflegearbeiten zum Beispiel als ungesichert wahrnahmen, deren gesellschaftliche Anerkennung aber entscheidender getrennt ist, was sich in der Bezahlung – gering oder gar nicht – ausdrückt und selbst umkämpft ist. Wir enthierarchisieren sie und, indem wir sie auf gleicher Ebene halten und gleichermaßen besetzen, müssen wir selbst keine bewertende Entscheidung treffen. Die Frage löst sich als Streitfrage auf durch Verallgemeinerung.

Der Kompass

So fungiert die Vier-in-einem-Perspektive als eine Art politischer Kompass, der vom Standpunkt der gesellschaftlichen Gesamtarbeit die einzelnen in die Pflicht nimmt, auch ihre Leben so einzuteilen, dass sie in jedem der Bereiche tätig sind und gleichermaßen sich entsprechend qualifizieren oder bescheiden und solcherart das Leben verträglich genießen. Kurz: Die psychische Seite des 4in1-Projekts verlangt eine bewusste Lebensführung. Gesellschaftlich ist sie mit kapitalistischen Produktionsverhältnissen ganz unverträglich, weil sie Plan anstelle von Markt, Sorge für alle anstelle von Profit und Übervorteilung, allseitige Entfaltung und Ausbildung statt an Wirtschaft orientierte enge Qualifikation und natürlich Politik von unten statt der Kämpfe um die Stellvertreter im Politischen und das gute Leben nicht im Konsum erschöpft, und all dies als Grundlage voraussetzt und zum Resultat hat. Sie ist in diesem umfassenden Sinn praktische Utopie.

Radikale Demokratie

Als Politik von unten und radikale Demokratie ist die Vier-in-einem-Perspektive mit den alten Individuen aus den alten Verhältnissen schwer zu machen, weil diese sich selbst herausgebildet haben, um in Verhältnissen von Konkurrenz, Wettbewerb, Übervorteilung und Neid zu überleben und selbst voranzukommen als Ellenbogenmenschen. So ist sie ein Lernprojekt in Wechselwirkung. Unter den Übergangsverhältnissen werden die bewussten Frauen sich leichter der Zumutung stellen können, in allen Bereichen zu leben. Soweit ihnen die Sorge für andere unter Selbstaufopferung schon lebenslang oblag, lässt sich solche Verantwortung für sie einsichtig auf beide Geschlechter übertragen. Dies ist zugleich eine neue Vorstellung von Gerechtigkeit.

Die Verknüpfung

Foto: Martin Pulaskiflickr.comCC BY 2.0

Das Revolutionäre an der Vier-in-einem-Perspektive ist die Verknüpfung der Bereiche. Keiner sollte ohne die anderen verfolgt werden, weil jeden für sich zu verfolgen auf lange Sicht reaktionär werden muss, wie dies Rosa Luxemburg voraussagt. Im Resümee der gedruckten Fassung von 4in1 (2008) heißt es: »Perspektivisch geht es darum, Gesellschaft von unten zu machen: so wie Rosa Luxemburg von der Demokratie gesagt hat, sie müsse ›auf Schritt und Tritt aus der aktiven Teilnahme der Masse hervorgehen, unter ihrer unmittelbaren Beeinflussung stehen, der Kontrolle der gesamten Öffentlichkeit unterstehen, aus der wachsenden politischen Schulung der Volksmassen hervorgehen‹.« (Gesammelte Werke 4, S. 363f.)

Wenn man die vier Bereiche Erwerbsarbeit, Reproduktionsarbeit, politische Arbeit und individuelle Entwicklung je für sich verfolgt und dies wiederum wie eine Arbeitsteilung handhabt, bei der einzelne Gruppen, Parteien oder gar Strömungen in den Parteien oder zuständige Ressorts je einen isolierten Bereich als ihr Markenzeichen besetzen, büßt die 4in1-Perspektive geradezu notwendig ihren revolutionären Impetus ein. Das gilt ohnehin für die vorhergehende Trennung, in der die einen klassenbewusst eine Arbeiterpolitik betreiben, die für Erwerbstätige greifen kann, während die anderen eine Perspektive aus der Vergangenheit hervorsuchen, eine Utopie für Mütter nach rückwärts, die uns Frauen lebendigen Leibes ans Kreuz der Geschichte nagelt, wie Bloch dies ausdrückt (Ergänzungsband, S. 295); zeitgemäß auf die Entwicklung einer Elite setzen die Dritten, einer Elite, die olympiareif zeigt, was menschliche Fähigkeiten sein können; und im Politischen schließlich partizipative Politikmodelle in unwesentlichen Bereichen sich zusehends großer Beliebtheit erfreuen, etwa das Fernsehen zu einer Modellanstalt von Zuschauerwünschen machen, die Belegschaft an der Gestaltung des Weihnachtsfestes beteiligen, die Bevölkerung an der Mülltrennung. In allen Fällen wird man erfahren, dass jeder Bereich für sich zum Fokus von Politik gemacht, geradezu reaktionär werden kann. Die politische Kunst und so auch das Revolutionäre liegt in der Verknüpfung der vier Bereiche. Keiner sollte ohne die anderen verfolgt werden, was eine Politik und zugleich eine Lebensgestaltung anzielt, die zu leben umfassend wäre, lebendig, sinnvoll, eingreifend, und Anstrengung und Genuss aus dem Gegensatz ins menschlich Angemessene als gutes menschliches Leben zusammenfügt. Man wird sehen, dass das, was in unserer Gesellschaft und unserer Erfahrung als Gegensatz auftritt, zum Beispiel Anstrengung und Muße, in diesem Projekt der 4in1-Perspektive aus dem bloßen Gegeneinander auf eine produktive Stufe gehoben wird mit der Perspektive, das Menschliche am Menschen zu entwickeln, also, um mit Marx zu sprechen, auch das menschliche selbst als Prozess im Werden, als Projekt zu fassen. Es ist also kein Nahziel, nicht heute und hier durchsetzbar, doch kann es heute als Kompass dienen für die Bestimmung von Nahzielen in der Politik, als Maßstab für unsere Forderungen, als Basis unserer Kritik, als Hoffnung, als konkrete Utopie, die alle Menschen einbezieht und in der endlich die Entwicklung eines einzelnen jeden einzelnen zur Voraussetzung für die Entwicklung aller werden kann, wie Marx dies ausdrückt.

4in1 im Wahlprogramm der LINKEN1

Jetzt also, zehn Jahre nach Parteigründung und der ersten Diskussion darum, gelangt 4in1 in das Wahlprogramm der Partei die LINKE. Beim ersten Lesen hatte ich das Gefühl, es sei trotz aller Versprechen gar nicht drin – ich überlas sogar, wie es auf Seite 40 spät namentlich erwähnt wird und dann drum herum auch Folgen hat. Es wirkt unauffällig. Die abgeleiteten Forderungen lesen sich, als kenne man die meisten schon – bis auf die zum Transsexuellen –, jedenfalls aber liest es sich nicht wie eine transformative Kraft, nicht faszinierend, kein Aufbruch, nicht revolutionär, sondern wie ein Kompromiss mit dem derzeit allgemein Geforderten, wobei erwartungsgemäß die Forderung der LINKEN, etwa zum Mindestlohn, jeweils höher ausfällt als die bekannte der Sozialdemokraten und zudem Maßnahmen zur rechtlichen Absicherung gefordert werden. Bei sorgfältiger Lektüre wird auch erkennbar, wie sehr verschiedene Dimensionen, die in der 4in1-Perspektive angesprochen sind, in Bezug auf Arbeitsteilung und Zeitverfügung tatsächlich einbezogen und also erarbeitet sind. Liest man die einzelnen Punkte sorgfältig und diskutiert sie in Arbeitsgruppen, eine politische Arbeit die unbedingt gemacht werden sollte, wird man feststellen, dass die direkte Übertragung von 4in1 auf einzelne Forderungen in einem Wahlprogramm zu seltsamen Ausschließungen führen muss, kurz, dass es so gar nicht geht.

Versuch, mit Widersprüchen zu hantieren

Würde man hingegen beim Versuch, ein solches Projekt praktisch zu proklamieren, stattdessen von den Widersprüchen ausgehen, in die man sich verwickeln muss, stieße man, um konkreter zu werden, etwa auf Folgendes:

  • Da wäre etwa die Forderung nach dem Recht auf einen entlohnten Arbeitsplatz und die antikapitalistische Politik gegen die Lohnform selber.
  • Da ist die Forderung, dass alle sich an der gesellschaftlichen Arbeit beteiligen, der gegenüber das Recht auf Selbstbestimmung und eine Pädagogik ohne Zwang stehen, beispielhaft zu studieren an der Politik ums bedingungslose Grundeinkommen.
  • Alle sollen ihre produktiven Anlagen entwickeln können – aber sie sind nicht alle gleich.
  • Alle sollen für alle sorgen, Sorgen soll keine Spezialität für einige sein. Aber auch die Sorgearbeit gibt es in Lohnform, und sie ist notwendige Arbeit, da es nicht bloß Freundlichkeit in der Welt gibt.
  • Die Familienform für unzureichend halten aus Erfahrung und doch ohne Familie ungeschützt sein in Krisen. Dies ist zu lernen in den von der Sparpolitik besonders existenziell betroffenen Ländern wie Spanien Portugal, Griechenland, wo 18% der 18 bis 30-jährigen nicht aus dem Elternhaus herauskommt, weil es weder Arbeit noch Wohnraum für sie gibt.
  • Wenn die Ausbildung an die Wirtschaftserfordernisse angepasst wird, könnte jeder eine Lohnarbeitsstelle bekommen. Das stößt sich umgekehrt an der Vorstellung der Unabhängigkeit jeder Ausbildung von utilitaristischen Zwecken, usw.

Das Projekt müsste für praktische Politik noch einmal durchgearbeitet und eine Ebene höhergestellt werden, und Forderungen müssten formuliert werden, welche die Bedingungen angehen, in denen die Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt werden können, die man zum Leben in den vier Bereichen braucht. Das wäre zum Beispiel einmal eine allgemeine Fertigkeit in Handarbeit oder Vorstufe zu Facharbeit, früher polytechnische Erziehung genannt und ebenso eine universelle Ausbildung in der Geschichte der Kopfarbeit, kurz ein Forderungsensemble, welches eine Umkrempelung der Bildungsinstitutionen zum Ziel hat. Dann eine allgemeine Ausbildung in Haushalt und Familie einschließlich der Pflege bei Krankheit, d.h. auch ein allgemeines Wissen in Körper und seine Gesundhaltung. Ferner könnte – wie früher in der DDR – mit der Hochschulreife eine Facharbeiterbefähigung und der Führerschein erworben sein. Zur notwendigen Ausstattung gehört eine Ausbildung in künstlerischen Fähigkeiten je nach Veranlagung und Selbstbestimmung und die Frage der Naturbewahrung und Erhaltung, kurz eine Einführung in Ökologie. Eine Art »Lebensschein« ist auszuarbeiten, dass die individuellen Energien unter den Bedingungen oder unter einer Zeitverfügung von 4in1 sich anders verteilen können. Wofür man also sich engagiert und sein Leben einsetzt, dass in der Perspektive jeder nach seinen Bedürfnissen lebt, wie Marx in der Kritik des Gothaer Programms oder im Kommunistischen Manifest skizziert, findet hier seinen Anker.

Die Verstrickung im Hier und Jetzt macht das Projekt zugleich unmittelbar praktisch und läuft jederzeit Gefahr, sektiererisch und reaktionär zu sein. Was nicht gesprochen war in der erzählten Vorstellung der 4in1-Perspektive und je neu erarbeitet werden muss, ist das Studium der Kräfteverhältnisse und die aktuell immer neue Artikulation für die treibenden Widersprüche, ist also auch die Bedeutung des historischen Moments. Wie bei Rosa Luxemburg – und auch bei Antonio Gramsci unausgesprochen vorausgesetzt – braucht es für eine Politik in der 4in1-Perspektive eine Gruppe von geschulten Intellektuellen, die diese Politik von unten beständig forschend begründen und weiter entwickeln unter Einschluss so vieler wie möglich.

So wäre die Antwort auf die Frage nach dem Revolutionären in der 4in1-Perspektive:

Es ist die Zumutung, die Verhaltensweisen, die Lebensführung, sich selbst anzumessen und die unweigerlich damit verbundene Aufgabe und Verantwortung für die Veränderung der Bedingungen sich einzusetzen, die das Leben in der 4in1-Perspektive überhaupt erst möglich machen. Dies ist das Faszinierende, und zugleich Revolutionäre an der 4in1-Perspektive, dass sie den einzelnen die Möglichkeit eröffnet, sich diese Lebensführung für sich vorzustellen und mit der Realisierung sogleich zu beginnen also konkrete Utopie in einer Zeit, da die Preisgabe von Hoffnung zu den wohlfeilen Waren des neoliberalen Projekts gehört. Es ist zugleich die Begegnung mit dem Verlust, dass man der Entfaltung vieler Möglichkeiten im Künstlerischen, im Lernen im eigenen Leben zu wenig Raum gegeben hat und Einlösung des Versuchs, dies noch, soweit es geht, zu ändern und schließlich auch die Einsicht, dass fürsorgendes Handeln, nicht bloßes Abdienen von Pflegearbeit ist, kein Care-Problem, sondern sich auf die Freundlichkeit in der Welt erstreckt bis hin zu individueller Liebe und Freundschaft.

 

Frigga Haug ist Vorsitzende des Berliner Instituts für kritische Theorie, Mitherausgeberin der Zeitschrift Das Argument sowie des Historisch-Kritischen Wörterbuchs des Marxismus. Ihr Konzept entwickelt sie in dem Band »Die Vier-in-einem-Perspektive. Politik von Frauen für eine neue Linke«, 3. Aufl. Argument Verlag Hamburg 2011.

1 Es handelte sich um den Ersten Entwurf des Wahlprogramms vom Januar 2017 der Vorsitzenden der Partei DIE LINKE, Katja Kipping, Bernd Riexinger: »Die Zukunft, für die wir kämpfen. Sozial. Gerecht. Für alle. Linkes Programm zur Bundestagswahl 2017.« Im vom Vorstand verabschiedeten Wahlprogramm ist die 4in1-Perspektive nicht mehr vorhanden. Die Analyse an dieser Stelle behält ihren heuristischen Wert.

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