Wahlen in der Türkei – Worum geht es?

Am 14. Mai, im Jahr des hundertjährigen Jubiläums der Gründung der Republik Türkei, stehen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an, welche als sehr wichtig und richtungsweisend für die Zukunft des Landes angesehen werden. Um eine Analyse und Prognosen vornehmen zu können ist es unumgänglich, die aktuelle politische, wirtschaftliche und parteilandschaftliche Lage zu betrachten.

Teil 1 eines Vierteilers von Engin Atasoy zu den kommenden Wahlen in der Türkei.

Die Türkei leidet seit einigen Jahren unter einer starken Wirtschaftskrise mit einer Hyperinflation. Während der Pandemie sind viele kleine und mittelständige Betriebe in die Knie gegangen und die Corona-Letalitätsrate lag trotz sehr junger Bevölkerung bei 0,60 Prozent (Vergleich Deutschland 0,44 Prozent), was unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass Impfungen viel zu spät ins Land kamen. Anfang Februar kam es im Südosten des Landes zu zwei großen Erdbeben, welche nach offiziellen Angaben mehr als 50.000 Menschen das Leben kosteten. Die Bevölkerung vor Ort beklagte mangelnde Ersthilfe für Verschüttete und schlechtes Krisenmanagement. Bis heute fehlen Zelte, Containerwohnungen, Sanitäranlagen, adäquate medizinische Versorgung und Bildungseinrichtungen, weshalb es zu einer sehr großen Binnenmigration im Land kam.

Wenige Jahre vor dem Erdbeben hatte die Erdoğan-Regierung mithilfe der ultranationalistischen MHP ein Bausünden-Amnestie-Gesetz beschlossen, welches erdbebenunsichere Häuser legalisierte und verantwortlichen Bauherren gegen Bezahlung einen Persilschein ausstellte. Somit nahm die Regierung bewusst in Kauf, dass im Falle eines Erdbebens Häuser einstürzten, nur um Gelder in die Staatskassen fließen zu lassen. Auch die Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit hat in den letzten zwei Jahrzehnten stark gelitten. So stuft Reporter ohne Grenzen die Türkei im Pressefreiheitsindex auf Platz 149 von 180 ein. Ein weiteres großes Thema ist der Austritt der Türkei aus der Istanbul Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, die Frauen besonderen Schutz zusichert, per Präsidialdekret.

Diese und viele weitere Faktoren werden es Erdoğan und der AKP schwer machen, die nächsten Wahlen zu gewinnen.

Parteienlandschaft

Erdoğan und seine erzkonservative Partei für Aufschwung und Gerechtigkeit AKP regieren die Türkei seit 2002 und sind seit 2018 mit der Partei der Nationalistischen Bewegung MHP in der sogenannten Volksallianz. Für die kommenden Wahlen sind dieser Allianz die Partei der großen Einheit BBP (islamistisch-ultranationalistisch), die Neue Wohlfahrtspartei YRP (islamisch konservative Folgepartei der Refah-Partei und Abspaltung der Milli Görüs Bewegung) beigetreten. Als inoffizielles Mitglied zählt die islamistisch-kurdisch-nationalistische Partei der freien Sache HÜDA PAR, welche als legaler Ableger der türkischen Hisbullah gilt und wahrscheinlich Abgeordnete über die AKP-Listen stellen wird.

Die größte Gegenkraft bildet das Bündnis der Nation mit der Republikanischen Volkspartei CHP (kemalistisch-sozialdemokratisch), Gute Partei IYI (nationalistisch), Demokratische Partei DP (liberalkonservativ), Partei der Glückseeligkeit SP (konservativ und wie YRP Abspaltung der Milli Görüs Bewegung), Partei für Demokratie und Elan DEVA vom ehemaligen Wirtschaftsminister Babacan (wertkonservativ, wirtschaftlich sozialliberal) und die Zukunftspartei GP vom ehemaligen Ministerpräsidenten Davutoğlu (liberalkonservativ).

Die prokurdische HDP steht vor einem Verbotsverfahren und wird deshalb mit den Unterstützerparteien unter dem Namen Grüne Linke Partei YSP im Bündnis für Arbeit und Freiheit antreten, in der, unschwer vom Namen ableitbar, linke, linksnationalistische, grüne und sozialistische Verbände organisiert sind. Das Bündnis wird von den Parteien Gesellschaftliche Freiheitspartei TÖP, Partei der Arbeiterbewegung EHP, Föderation der Sozialistischen Räte SMF, Arbeiterpartei der Türkei TIP und der Partei der Arbeit EMEP unterstützt.

Darüber hinaus gibt es zwei weitere Kleinstbündnisse, die keine Aussicht auf Erfolg bei den Parlamentswahlen haben. Die sogenannte Einheit der Sozialistischen Kraft beherbergt linke bis sozialistische Parteien, die linksnationalistische Bestreben als zweitrangig betrachten und die soziale Frage in den Vordergrund rücken möchten. Das Ahnenbündnis ATA vereint ultranationalistische, promilitärische, prostaatliche, zentralistische und kemalistische rechte Parteien, die vor allem die Rückführung von syrischen und afghanischen Flüchtlingen fordern und die legale Vertretung der HDP im Parlament ablehnen und Aufrüstung und eine bessere militärische Sicherung der Staatsgrenzen fordern.

Der letzte aber wichtige Akteur scheint bei diesen Wahlen jedoch die neue Heimatspartei MP von Muharrem Ince zu sein. Ince ist ehemaliger Abgeordneter und war Präsidentschaftskandidat der CHP bei den letzten Wahlen und trennte sich nach einem parteiinternen Streit. Die Heimatspartei wird bei den Wahlen ohne Bündnis antreten, liegt bei Umfragen zwischen 2–5,5 Prozent und ist vor allem bei jungen Wähler*innen beliebt.

Haltung gegenüber Flüchtigen

Während die sich die zwei linken Bündnisse solidarisch gegenüber Flüchtigen zeigen, nehmen alle anderen Akteure Anti-Refugee-Positionen in verschiedenem Ausmaß ein. Das Bündnis der Nation unter dem CHP-Kandidaten Kemal Kılıçdaroğlu verspricht, die Beziehungen zu Syrien zu verbessern und Abkommen mit der Regierung abzuschließen, um die Refugees aus jenen Gebieten zurückzuführen. Die Heimatspartei unter Ince übernimmt eine ähnliche Position wie das Ahnenbündnis und hält die Pläne vom Bündnis der Nation für heuchlerisch und verspricht, die Geflüchteten zurückzuführen, auch wenn es zu keinen Abkommen kommt.

Erdoğan offenbarte seine großen Pläne schon 2019 in einem Gespräch mit der Presse: Ihm zufolge muss mithilfe des türkischen Militärs eine Pufferzone im Norden Syriens eingerichtet werden, um erstens Kurden von jener Region zu vertreiben und zweitens Refugees in jene Regionen zurückzuführen. Begründet wurde dies damit, dass diese Regionen Wüstengebiete seien und „kurdische Lebensstile“ sich nicht für diese Gebiete eigneten. Angedeutet wurden damit die rassistischen Stereotypen, Araber würden in die Wüste und Kurden in die Berge gehören.

Unverlässlichkeit von Wahlumfragen aufgrund der großen Katastrophe

Die Erdbeben von Anfang Februar, haben wie schon erwähnt zu einer großen Binnenmigration geführt, weshalb viele Vertriebene in ihren neuen Heimaten wählen müssen. Der International Organization for Migration zufolge liegt die Zahl der Emigrierten bei mindestens 2,7 Millionen Menschen. Für die Ummeldung hatten die Bürger*innen bis zum 17. März Zeit. Wie viele tatsächlich wählen werden können, ist jedoch bis heute unklar.

Hierbei sind für Wahlbeobachter*innen wie auch für Umfrageinstitute neue Probleme entstanden. Die von den Erdbeben betroffenen Gebiete sind eigentlich Hochburgen der aktuellen Regierung. Das Katastrophenmangement der aktuellen Regierung hat jedoch zu einer großen Unzufriedenheit in den betroffenen Regionen geführt. Die große Unordnung macht es selbst seriösen Umfrageinstituten unmöglich, verlässliche Ergebnisse zu liefern. Außerdem ist bis heute unklar, wie die Wahlen in den vom Erdbeben zerstörten Gebieten ablaufen sollen, was die Arbeit der Wahlbeobachtung erschwert.

Von Engin Atasoy.

In den nachfolgenden Artikeln werden die Themen „Situation der türkisch-kurdischen Linken“, „Wahrscheinlichstes Szenario für die Wahl“, „Aussicht für die Zukunft und außenpolitische Haltungen“ behandelt werden.

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