Mit dem Koalitionsvertrag der künftigen Regierung aus CDU und SPD wird klar: Wer hierzulande Israels Kriegsverbrechen kritisiert, gerät zunehmend ins Fadenkreuz des deutschen Staats. Im Namen seiner Staatsräson wird sich an die rechtsradikale Regierung Israels gekettet und der Feldzug gegen kritische Stimmen im Innern forciert – mit Kultur als Feindbild, Migration als Bedrohung und dem Missbrauch des „Kampfs gegen Antisemitismus“ als Waffe gegen linke, migrantische und jüdische Strukturen.
Die Koalitionsverhandlungen sind abgeschlossen: CDU und SPD stellten am Mittwoch ihre Pläne für die kommende Regierung vor. Und was dort im 146-seitigen schwarz-roten Koalitionsvertrag mit dem nichtssagenden Titel „Verantwortung für Deutschland“ zu lesen ist, lässt wenig Hoffnung aufkommen, wenn es um Themen wie die Unterstützung des israelischen Völkermordes in Gaza, Migration, den so genannten Kampf gegen Antisemitismus oder die Situation für kritische Stimmen in Solidarität mit den Palästinensern geht.
Staatsräson schlägt Völkerrecht
Kurz nach seinem Wahlsieg am 23. Februar telefonierte der künftige Kanzler Merz vom rechten CDU-Flügel mit Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und lud ihn zum Besuch nach Berlin ein. Es gäbe „Mittel und Wege“, dass der vom ICC wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen gesuchte Regierungschef Deutschland besuchen könne, ohne festgenommen zu werden, versicherte Merz hier, dass die Staatsräson unter seiner Führung über dem Völkerrecht stehen wird.
„Das Existenzrecht und die Sicherheit Israels sind und bleiben Teil der deutschen Staatsräson“, heißt es im außenpolitischen Abschnitt des Vertrags; dazu werde man „Israel bei der Gewährleistung der eigenen Sicherheit“ unterstützen. Schon heute ist Deutschland nach den USA der zweitgrößte Waffenlieferant Israels: Laut SIPRI stammten im letzten Jahrzehnt rund 30 Prozent der israelischen Waffenimporte aus Deutschland. 2023 verzehnfachte die Ampelregierung die Exportgenehmigungen für Rüstungsgüter nach Israel – ein Großteil davon nach dem 7. Oktober.
Ein Wort zur Zerstörung Gazas oder dem anhaltenden Genozid sucht man im Koalitionsvertrag vergeblich. Stattdessen bekennt man sich zur Zweistaatenlösung als angeblich „tragfähiger Perspektive für ein friedliches Zusammenleben“. Wie diese zwei Staaten aussehen sollen, wenn einer der beiden in weiten Teilen in Trümmern liegt, bleibt das Geheimnis der künftigen Bundesregierung. Auch findet sich die Drohung, dass man die Finanzierung der UNRWA künftig „von umfassenden Reformen abhängig“ machen wolle – Das UN-Palästinenserhilfswerk ist der einzige Akteur in Israels Krieg gegen die Zivilbevölkerung in Gaza, der überhaupt imstande ist zu verhindern, dass sich zu Massakern mit Bomben und Raketen noch ein Massensterben aufgrund von Hunger und Epidemien gesellt. Die Zerstörung von UNRWA ist integraler Bestandteil der genozidalen Kriegsführung Israels und die künftige Bundesregierung macht sich auch in diesem Aspekt zur Komplizin – 2023 war die BRD mit 213 Millionen USD hinter den USA mit Abstand der zweitgrößte Donor an UNRWA.
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Nahm die Unterstützung des israelischen Völkermords unter der Ampelregierung bereits auf sämtlichen Ebenen – Waffen, Politik, Diplomatie, UN, Propaganda – schwindelerregende Dimensionen an, wird diese unter der rechten Merz-Regierung wohl ungeahnte Ausmaße erreichen. Ist ein direkter Waffengang deutscher Soldaten in Nahost zwar kaum denkbar und politisch nicht zu vermitteln, bleibt abzuwarten, wie hoch die Anziehungskraft der extrem rechten Internationale sein wird, und welche Dynamiken sich ergeben, wenn sich Trump, Netanyahu, Merz die rechten Hände schütteln.
„Schutz jüdischen Lebens“ als repressives Instrument
Wird sich außenpolitisch bedingungslos an die Seite des israelischen Regimes gestellt, sollen im Inland linke und migrantische Stimmen verfolgt werden, die sich mit den unter Genozid und Apartheid geknechteten Palästinensern solidarisieren – „Kampf gegen Antisemitismus“ und „Schutz jüdischen Lebens“ dienen als politische Codewörter in diesem autoritären Umbau. Denn in der Vergangenheit hatte sich die Union mehrfach für die IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus starkgemacht, die im Grunde jede Kritik an der israelischen Regierung als „antisemitisch“ brandmarkt; zuletzt prominent in einer feindseligen Bundestagsresolution im Januar, in der unter dem Deckmantel „Antisemitismusbekämpfung“ die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit massiv unter Beschuss genommen wurde.
Im Koalitionsvertrag heißt es darauf aufbauend: „Antisemitismus und Israelfeindlichkeit haben keinen Platz an Schulen und Hochschulen.“ Dass eine ablehnende Haltung gegenüber einem Staat, der gegenwärtig einen Genozid verübt, dem der ICJ „Apartheid“ bescheinigte, und dessen Regierungschef wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen international gesucht wird, an Horten des freien Denkens „keinen Platz“ haben soll, ist objektiv eine groteske Prämisse und ergibt nur durch die Brille der deutschen Staatsräson überhaupt einen Sinn. Lehrkräfte sollen dann auch zur Detektion von und zum Vorgehen gegen „Antisemitismus“ sensibilisiert und befähigt werden. Einsicht in entsprechendes Workshop-Material von einer Berliner Schule zeigt exemplarisch, dass es bei solchen „Sensibilisierungen“ schon heute viel um Israel und wenig um Antisemitismus geht – öffentlich Bedienstete, die jungen Menschen kritisches Denken lehren sollen, werden künftig zunehmend zu Spitzeln im Dienste der Staatsräson degradiert.
Weiter möchte die neue Regierung „die Vielfalt des jüdischen Lebens in Deutschland“ fördern, was freilich nicht die zahlreichen jüdischen Stimmen, die sich in Opposition zur israelischen Regierung und auch der deutschen Staatsräson stellen, meint: Als im Mai 2023 – auf einer Nakba-Gedenkveranstaltung – erstmals seit 1945 wieder Juden auf offener Straße von Vertretern der deutschen Staatsgewalt verprügelt und festgenommen wurden, war von den bürgerlichen Kräften kein Wort des Protests zu hören.
Die künftige Regierung bekennt sich zur „Sicherheit jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger“ – im Land der Shoah, in dem die im Kern antisemitische AfD in jüngsten Umfragen erstmals stärkste Kraft wurde, ist dies selbstredend eine fundamental bedeutende Aufgabe. Nur ist es beschämend, dass hier verschiedene Rassismen gegeneinander ausgespielt und priorisiert werden. Denn entsprechende Bekenntnisse etwa zu muslimischem Leben oder dem Kampf gegen Islamfeindlichkeit – quantitativ die häufigste Rassismusform – findet sich bei dieser rechten Koalition freilich nicht: Wieso sollte man auch die eigene Ideologie angreifen wollen? Der Begriff „Islam“ taucht im Vertrag folgerichtig ausschließlich als Bedrohungsszenario in Form der „Islamismusbekämpfung“ auf.
Nach der Ära Merkel übernahm der rechte CDU-Flügel die Zügel und ist die Union nach diesem bedeutenden Rechtsruck in ihrer rassistischen Rhetorik – insbesondere von Merz selbst – nicht mehr von der AfD zu unterscheiden. Auch wenn sich im Koalitionsvertrag noch explizit von den Rechtsextremen distanziert wird, ist davon auszugehen, dass die nächsten vier Jahre der rhetorischen, parlamentarischen und medialen Vorbereitung einer Zusammenarbeit zwischen CDU und AfD den Weg bereiten werden, die final auf eine schwarz-blaue oder blau-schwarze Koalition auf Bundesebene – wenn nicht in vier, dann möglicherweise in acht Jahren – hinauslaufen wird.
Feenstaub und Förderstopp: Feindbild kritische Kultur
Kein Land auf der Welt hat juristisch ein Existenzrecht – zumindest konnte noch niemand auf einen Paragraphen eines völkerrechtlichen bindenden Vertrags verweisen, in der ein solches Recht verbrieft ist. Angesichts dieses trivialen Umstands öffnet sich die künftige Regierung ein Tor der Repression mit nicht existenten Grenzen, wenn sie schreibt, sie werde sicherstellen, „dass keine Organisationen und Projekte finanziell gefördert werden, die Antisemitismus verbreiten oder das Existenzrecht Israels in Frage stellen“. Auf welcher rechtlichen Grundlage kann etwas sanktioniert werden, wenn dieses etwas etwas infrage stellt, was nicht existiert? Die Argumentation hat etwas Religiöses und stellt sich somit auf ein unergründliches Fundament, welches der Willkür des repressiven Staats proaktiv beliebige Mittel in die Hand gibt – der Kampf gegen kritische Kulturschaffende wird an Fahrt aufnehmen.
Sätze wie „Unser Land soll ein Leuchtturm für freie Kunst und Kultur in der Welt sein“ könnte man beschmunzeln, ahnten wir nicht, dass es wohl zu einem Kahlschlag im kulturellen Sektor kommen wird, zur Gesinnungsprüfung, zum Trimmen auf die Staatsräson und zur Bekämpfung vor allem migrantischer Safespaces und darüber hinaus generell von Projekten, die sich in Fundamentalopposition zur Unterstützung der BRD an israelischen Verbrechen positionieren. Joe Chialo (CDU) wird als Kulturstaatsminister im Kabinettsrang gehandelt und wird diese Angriffe wohl künftig koordinieren. Im Gegensatz zur amtierenden Claudia Roth (Grüne) – die eher mit ihrem grotesken Rassismus, sie habe bei der Berlinale nur für den Israeli, nicht für den Palästinenser geklatscht: #Clapartheid, für internationale Schlagzeilen sorgte – hat Chialo sich in der Bekämpfung kritischer Räume bereits einen Namen gemacht.
Seit seinem Amtsantritt 2023 als Berlins Kultursenator sorgte der CDU-Politiker für massive Kritik in der freien Berliner Kulturszene: Begleitet von einem autoritärem Stil und fehlender Transparenz leitete Chialo drastische Kürzungen im Kulturetat ein und versuchte über – eine später juristisch gekippte – Einführung einer „Antisemitismus-Klausel“ nach IHRA-Definition, die Kulturförderung in der Hauptstadt de facto ans Bekenntnis zu knüpfen, Verbrechen des israelischen Staats nicht zu kritisieren. Rund 4.000 Kulturschaffende protestierten in einem offenen Brief gegen Chialos „Gesinnungsschnüffelei“.
Im November 2023 verkündete Chialo das Defunding des linken migrantisch-feministischen Zentrums Oyoun in Berlin-Neukölln. Auslöser war die Abhaltung der 20-Jahr-Feier des linken Vereins Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost im Oyoun (so viel auch zum Thema „Vielfalt des jüdischen Lebens“ fördern). Chialo wollte im Oyoun „versteckten Antisemitismus“ entdeckt haben: Da es auch hier nicht um seh-, hör- oder wie auch immer detektierbare Fakten, sondern um Dinge einzig in den Köpfen der Rechten geht, argumentiert man wie schon beim Existenzrecht von Staaten mit Feenstaub: Die wahrnehmbare Realität erscheint ihnen für ihr Anliegen nicht zweckdienlich, daher transferieren sie ins Metaphysische und gießen von dort aus das Fundament ihrer Repressionsfestung mit Bauchgefühlen und Vibes. Chialo wird sein Portfolio der Zerschlagung linker Strukturen nun von der Hauptstadt auf die Ebene des Bundes hieven.
Widerstände organisieren
Zahlreiche weitere Kabinettsposten sollen mit Personen besetzt werden, die sich in der Vergangenheit stets schützend vor den israelischen Staat stellten. Chef des Kanzleramts – diesem Posten obliegt auch die Aufsicht über sämtliche Geheimdienste des Bundes – soll Thorsten Frei (CDU) werden. Kurz nach Beginn des israelischen Kriegs gegen die Zivilbevölkerung in Gaza forderte der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Unions-Bundestagsfraktion Frei im Oktober 2023, dass für den Erhalt des deutschen Passes Bewerber künftig „ein unmissverständliches Bekenntnis zum Existenzrecht des Staates Israel abgeben“ sollen; auch hier wieder: Man soll sich juristisch zu etwas juristisch nicht Existentem bekennen. Die politische Willkür bezüglich der Auslegung dieses Konzepts ist hier natürlich mit Vorsatz einprogrammiert: Es existiert keine Grauzone, der gesamte Ansatz ist die Grauzone. Im vergangenen Oktober denunzierte Frei in seiner Bundestagsrede die linke jüdische Organisation Jewish Voice for Peace als „antisemitische Organisation“: Ein deutscher Katholik schmäht eine global vernetzte Friedensbewegung Zigtausender Jüdinnen und Juden als „antisemitisch“ und bekommt dafür fraktionsübergreifenden Applaus – Staatsräson macht‘s möglich.
Für das Wirtschaftsministerium wurde Carsten Linnemann ins Spiel gebracht. Der CDU-Generalsekretär forderte kürzlich, dass Asylbewerber nach zwei Straftaten künftig automatisch abgeschoben werden sollen – auch für Kleinstdelikte wie Öffisfahren ohne Fahrschein. Und in die Kriegs- und Krisengebiete Syrien und Afghanistan möchte Linnemann auch abschieben: Eine menschenverachtende Forderung, die sich nun im Koalitionsvertrag wiederfindet.
Die neue schwarz-rote Bundesregierung wird die deutsche Unterstützung der rechtsradikalen Regierung in Israel auf ein ungeahntes Level heben, und es werden wahrlich düstere Zeiten auf all jene zukommen, die sich mit den geschundenen Menschen in Palästina solidarisieren. Es bleibt die Aufgabe der kollektiven Linken, sich diesen Angriffen des Staatsräson-Deutschlands auf linke, migrantische und jüdische Strukturen entgegenzustellen und den Schutz von Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus zu organisieren.