Argentinien in Aufruhr: Proteste, Repression und der Abbau sozialer Rechte

Während Javier Milei mit Dekreten, Einschnitten in soziale Rechte und zunehmender wirtschaftlicher Deregulierung regiert, gehen die Massenproteste weiter und spiegeln die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung wider. Neben Demonstrationen von Studenten und Arbeitern haben vor allem die Proteste von Rentnern und Pensionären die größte mediale Aufmerksamkeit auf sich gezogen, während sie von der Polizei brutal unterdrückt wurden. Argentinien befindet sich in einer kritischen Phase drastischer wirtschaftlicher Anpassungen und einer erneuten Anbindung an den IWF, wodurch sich die soziale und wirtschaftliche Krise, die das südamerikanische Land erschütterte, weiter verschärft.

Seit den 1990er Jahren haben Rentner und Pensionäre in Argentinien an Mittwochen mobilisiert, um bessere Renten zu fordern. Diese Bewegung entstand als Reaktion auf die von Präsident Menem eingeführten Rentenreformen, mit denen ein eigens von privaten Unternehmen verwaltetes Kapitaldeckungssystem geschaffen wurde. Diese Unternehmen nutzten die Rentengelder unter dem Vorwand der Gewinnerzielung für Investitionen an der Börse. Das System wurde 2008 abgeschafft, nachdem private Verwalter illegale Geschäfte betrieben und die Gelder zur betrügerischen Bereicherung veruntreut hatten. Zudem hatte sich dieses Modell – erstmals in Chile unter Pinochets Militärdiktatur mit Unterstützung des Internationalen Währungsfonds (IWF) eingeführt – bereits als Fehler erwiesen.

Heute gibt es in Argentinien nur noch ein staatliches öffentliches Rentensystem, nachdem das private System unter der Regierung von Cristina Kirchner abgeschafft wurde. Allerdings führten Rentenreformen von Mauricio Macri im Jahr 2017 nicht nur zu Rentenkürzungen, sondern erhöhten auch die Bedingungen für die Anspruchsberechtigung sowie das Rentenalter. Diese Maßnahmen wurden durch Forderungen des IWF angetrieben, welche die Kürzung der öffentlichen Ausgaben als Bedingung für die Gewährung eines Darlehens in Höhe von 50 Milliarden Dollar vorsahen – das größte Darlehen welches die Institution jemals an ein einzelnes Land vergeben hat. Diese Entscheidung löste massive Proteste in Argentinien aus, ließ die Auslandsverschuldung des Landes weiter in schwindelerregende Höhe schnellen und führte schließlich sechs Jahre später zu einer Betrugsuntersuchung gegen Macri.

Das Ley de Bases y Puntos de Partida para la Libertad de los Argentinos („Gesetz der Grundlagen und Ausgangspunkte für die Freiheit der Argentinier“), welches Milei innerhalb der ersten zwanzig Tage seiner Präsidentschaft vorlegte, umfasste Reformen in den Bereichen staatliche Verwaltung, Sicherheit und Verteidigung, Renten, Arbeitsrecht, öffentliche Gesundheit, innere Angelegenheiten, Infrastruktur und mehr – viele davon betrafen Bereiche, die nicht in die Zuständigkeit der Exekutive fallen. Das Gesetz wurde im Juni von der Abgeordnetenkammer gebilligt, wobei der Senat erhebliche Änderungen vornahm.

Einer der bemerkenswertesten Aspekte des Gesetzes war die Liste von 41 staatlichen Unternehmen, die zur Privatisierung oder Veräußerung vorgesehen waren, welche der Senat auf sechs reduzierte. Darüber hinaus räumte der ursprüngliche Entwurf der Exekutive die Befugnis ein, in den ersten zwei Jahren von Mileis Amtszeit in 11 Bereichen des Staates unter Ausrufung des Ausnahmezustands zu intervenieren, mit der Möglichkeit, diese Befugnis nach Ermessen der Exekutive um weitere zwei Jahre zu verlängern. Der Senat beschränkte diese Notstandsbefugnisse jedoch auf vier Sektoren – Verwaltung, Wirtschaft, Finanzen und Energie – und beschränkte sie auf ein Jahr.

Die arbeitsrechtlichen Reformen des „Basisgesetztes“ sind besonders kritisiert worden. Mit diesem Gesetz wurde ein Arbeitnehmer-Mitarbeiter-Modell geschaffen, bei dem ein Arbeitgeber Mitarbeiter außerhalb des Arbeitsvertragsgesetzes einstellen kann, also ohne die in diesem Gesetz vorgeschriebenen arbeitsschutzrechtlichen Maßnahmen. Ebenfalls konnte vor dem Gesetz ein Arbeitnehmer, der von einem Arbeitgeber aus diskriminierenden Gründen entlassen wurde, sei es wegen seiner Ethnie, seines Geschlechts, seiner sexuellen Orientierung, seiner politischen oder religiösen Überzeugungen oder aus anderen Gründen, nicht nur eine Abfindung für die diskriminierende Entlassung verlangen, sondern auch die Wiedereinstellung an seinem Arbeitsplatz. Die Reform von Milei erschwert den Anspruch auf Wiedereinstellung und erhöht die Entschädigung. Mit anderen Worten, sie erlaubt es den Unternehmen, für ihre Diskriminierung zu bezahlen, was sie in diesem Vorgehen schützt und zu einem Mangel an Arbeitsschutz für die Arbeitnehmer führt. Diese Reform ermöglicht eine Rückkehr zu gewerkschaftsfeindlichen Praktiken; der Arbeitgeber muss lediglich eine höhere Entschädigung zahlen, aber die Entlassung wegen Diskriminierung ist gültig.

Führende Menschenrechts- und Verfassungsexperten haben die Reform für verfassungswidrig erklärt. Dennoch haben multinationale Unternehmen bereits damit begonnen, das neue Gesetz zu nutzen. So hat der deutsche Konzern Volkswagen in Argentinien einen ehemaligen Gewerkschaftsführer entlassen und obwohl ein Gericht dies für ungültig erklärte, hat das Unternehmen ihn noch nicht wieder eingestellt. Ähnliche Fälle gab es bei dem amerikanischen Unternehmen Praixar, dem transnationalen Unternehmen Pilkington Automotive und dem britischen multinationalen Unternehmen Shell. Letzteres mit drei Entlassungen von Gewerkschaftsmitgliedern, die bereits 2014 von den Arbeitsgerichten wegen Entlassungen aufgrund von Diskriminierung wieder eingestellt wurden.

Doch was ist in den letzten Tagen geschehen? Mileis Regierung hat einen ähnlichen Weg wie Macri 2017 eingeschlagen, indem sie den IWF um eine Kapitalspritze bot, und genau wie vor fast einem Jahrzehnt ist dieser Kredit an Bedingungen geknüpft, von denen einige immer noch nicht bekannt sind. Eine dieser Forderungen ist die Beendigung des Rentenmoratoriums, was nicht nur die laufenden Renten betreffen würde, sondern auch die Personen, die nicht über eine ausreichende Anzahl von Jahren verfügen, um die Mindestrente zu erhalten. Die Milei-Regierung hat bereits angekündigt, dass sie das Moratorium nicht fortsetzen wird, obwohl die meisten Menschen nach diesem Modell in Rente gehen.

Milei bemühte sich um die Verabschiedung eines Dekrets, das es ihm erlaubt, direkt mit dem IWF über ein Darlehen für Argentinien zu verhandeln, ohne die Höhe des Darlehens oder die Grundlage der Vereinbarung zu kennen, was als Blankoscheck eingestuft wurde und schädlich für die Wirtschaft des Landes sein könnte. Politische Gruppen der Opposition und Verfassungsexperten bezeichnen dieses Gesetz als verfassungswidrig. Am Mittwoch dieser Woche stimmte der Kongress für die Verabschiedung dieses Dekrets, was Milei dazu ermächtigt, mit dem IWF zu verhandeln und damit einen Präzedenzfall für das Regieren per Dekret schuf. Diese Art das Land zu führen ist ein Zeichen für den Autoritarismus der Regierung von La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran), da sie keinen Konsens mit anderen politischen Kräften vorsieht.

Andererseits ist die Strategie der sozialen Benachteiligung nichts neues in dieser Regierung. Im September legte Milei sein Veto gegen ein Gesetz ein, das eine Erhöhung der Renten um 17.000 argentinische Pesos (weniger als 15 Euro) vorsah, eine minimale Anpassung an den inflationsbedingten Anstieg der Grundnahrungsmittelpreise. Darüber hinaus beschloss die Regierung einen Bonus von 70.000 Pesos (60 Euro) einzufrieren, eine Anpassung zu stoppen und denjenigen, die eine Rente von mehr als 260 Euro beziehen, den Zugang zu dieser Prämie zu verwehren. Gleichzeitig wurde auch die Deckung von Arzneimitteln eingeschränkt, obwohl die Preise für Medikamente – in der Regel von älteren Menschen benötigt – um durchschnittlich 200 % gestiegen sind.

Die Regierung hat auch Vorschriften für den Pharmasektor aufgehoben. Dies ist von besonderer Bedeutung, wenn man bedenkt, dass viele argentinische Großaktionäre Eigentümer von Laboren sind, welche ihren Umsatz in Mileis erstem Jahr um 360 % gesteigert haben. Ein weiteres wichtiges Veto war Mileis Ablehnung des „Ley de Financiamiento Universitario“ (Universitätsfinanzierungsgesetz). Dieses Veto bedeutet, dass die Gehälter der Lehrkräfte oder die Betriebskosten der nationalen Universitäten nicht an die Inflation angepasst werden. Zusätzlich hat die Regierung das Einkommen der Bundespolizei erhöht, was die Empörung der Bevölkerung noch verstärkt hat.

In den letzten Monaten gab es immer wieder Bilder von Massendemonstrationen von Rentnern auf den Straßen der Hauptstadt und anderer Städte des Landes, unter ihnen größtenteils ältere Mitbürger, welche von den Polizeikräften hart unterdrückt wurden. Die Mainstream-Medien, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene, machen sich immer wieder mitschuldig, indem sie die Gewalt als Zusammenstöße bezeichnen und die rücksichtslose Aggression der Polizei gegen die Senioren und andere Demonstranten verschweigen.

Die Demonstranten sprechen von einem Gefühl des Imstichlassens – nicht nur von der Regierung, die trotz steigender Preise Rentenerhöhungen blockiert, sondern auch von anderen politischen Sektoren, einschließlich der Oppositionsparteien, die im Kongress zugunsten Mileis Anhänger gestimmt haben. Darüber hinaus gab es starke Aufrufe an die Gewerkschaften, insbesondere an den größten Gewerkschaftsverband des Landes, der sich bisher geweigert hat, einen Streik zur Unterstützung der Rentner auszurufen.

Die mittwöchlichen Proteste wurden seit August ununterbrochen fortgesetzt, wobei sich andere Gruppen den Demonstrationen anschlossen, insbesondere Studentenverbände, soziale Organisationen und Gewerkschaften, die ebenfalls von Mileis Politik betroffen sind. Dazu gehören Beschäftigte des Gesundheitswesens, Lehrer, Angestellte von Flughäfen und Fluggesellschaften sowie Unterstützer und Organisationen von Fußballvereinen. Letztere, die sich vor einer Woche massenhaft den Protesten anschlossen, wurden von der Regierung und den Medien als gewalttätige „barras bravas“ (Hooligans) bezeichnet, doch Aufnahmen von polizeilicher Unterdrückung sprechen eine andere Sprache.

In den 16 Monaten seit dem Amtsantritt der Regierung von La Libertad Avanza kann man sagen, dass es kaum wirkliche Freiheit gegeben hat. Die Rentner haben Rechte verloren, die jahrzehntelang erkämpft wurden; ihre Kaufkraft ist so stark gesunken, dass sich viele mit ihrer Rente nicht einmal mehr die grundlegenden Dinge des Existenzminimums leisten können.

Es ist klar, dass Mileis Agenda darauf abzielt, soziale Rechte erheblich einzuschränken, und das nicht nur bei den Renten. So hat er beispielsweise die privaten Energieunternehmen dereguliert, was sich darin zeigt, dass sich die Gas- und Kraftstoffpreise 2024 mehr als verdoppelt und damit internationales Niveau erreicht haben; in einem Land, das einer der größten Produzenten selbiger ist und über eine der wichtigsten Gasreserven der Welt verfügt. Darüber hinaus hat Milei auf Verlangen des IWF und in dem Bemühen einen Überschuss für die Schuldentilgung zu erzielen, die staatlichen Subventionen gekürzt und die Last der steigenden Energiepreise auf die Verbraucher abgewälzt.

Mit seinen so genannten „Kettensägenreformen“ hat Milei soziale Rechte abgebaut, die nach einer brutalen Diktatur und autoritären, populistischen Regierungen wie der von Menem erreicht wurden. Seine Regierung hat vor allem Großunternehmen und Wirtschaftseliten begünstigt. Im Bankensektor beispielsweise haben einige Banken ihre Gewinne in den ersten Monaten seiner Präsidentschaft verdoppelt. Ebenso hat der Privatsektor von den extrem niedrigen Kreditzinsen profitiert, was Argentinien weiterhin als hochprofitablen Finanzmarkt für das große Bankenkapital erhält.

Die großen Firmenkonglomerate im Bereich der Lebensmittelproduktion – ein Oligopol, bei dem drei Unternehmen 75 % des Lebensmittelmarktes kontrollieren – haben exorbitante Gewinne erzielt. Arcor zum Beispiel hat seinen Gewinn in den ersten neun Monaten des Jahres 2024, dank der Deregulierung der Preise in diesem Sektor, im Vergleich zu 2023 mehr als verdoppelt. Dies hat zu einem sprunghaften Anstieg der Preise geführt, der weit über die Inflationsrate hinausgeht. Die Familien, die hinter den großen argentinischen Lebensmittelunternehmen Arcor und Molinos stehen – die Familien Pagani und Pérez Companc – stehen inzwischen häufig auf der Forbes-Liste privater Vermögen.

Auch Frauen sind von der Politik Mileis unverhältnismäßig stark betroffen. Im Jahr 2024 fielen sieben von zehn Haushalten von Alleinerziehenden unter die Armutsgrenze und das geschlechtsspezifische Lohngefälle erreicht fast 30 %. Daten des Wirtschaftsministeriums zeigen einen anhaltenden Rückgang der Frauenbeschäftigung und eine Arbeitslosenquote, die bei Frauen 19 % höher ist als bei Männern. Das Fehlen eines Arbeitsschutzes für Frauen ist ein weiterer großer Rückschlag. Obwohl Mileis Arbeitsreformen die Formalisierung von Beschäftigung fördern, hat seine Regierung versucht, einen Artikel des Gesetzes über die häusliche Beschäftigung (Ley de Empleo Doméstico) abzuschaffen, der eine Entschädigung für den Fall vorsieht, dass Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer nicht anmelden. Dieser Schritt untergräbt die Regulierung eines Sektors, der überwiegend aus Frauen besteht, von denen ein hoher Prozentsatz Migranten sind, und der global von nicht vorhandener Regulierung betroffen ist. Darüber hinaus hat die Regierung, ungeachtet des Anstiegs an Frauenmorden, die Förderung von Programmen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt gekürzt.

Mileis bisherige Bilanz lässt ein klares Muster erkennen: Vorrang für die wirtschaftliche Deregulierung auf Kosten der sozialen Grundrechte. Seine Regierung hat systematisch den Arbeitsschutz für Arbeitnehmer, Rentner und Pensionäre sowie generell für schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen abgebaut, während sie gleichzeitig Großunternehmen und Finanzeliten begünstigt hat. Ungeachtet der anhaltenden massiven Proteste, bei denen Rentner und Pensionäre – größtenteils ältere Menschen – den Widerstand anführen und eine nationale Solidarität aufgebaut haben, indem sie verschiedene, von Mileis weitreichenden Maßnahmen betroffene Sektoren vereinten. Der Kampf für Würde, wirtschaftliche Gerechtigkeit und sozialen Sicherheit geht weiterhin Woche für Woche auf die Straße und zeigt die wachsende Unzufriedenheit mit einer Politik, welche die soziale Ungleichheit vertieft und die wirtschaftlichen Folgen für die ärmsten Teile der Gesellschaft verschlimmert hat.

Dieser Beitrag von Juliana Rivas erschien zunächst in Englisch – Übersetzung: Michael Täuber

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