Glaubenskrieger an der Virenfront

Ja, wir leben in anstrengenden Zeiten. Während die einen um ihre wirtschaftliche Existenz und die anderen um ihre Gesundheit fürchten müssen, oder gar um beides, fühlen sich viele zu unrecht gegängelt, bevormundet und in ihrer Freiheit beschränkt.

Naturkatastrophen – und mit so einer haben wir es gerade zu tun – bringen häufig gesellschaftliche Konflikte, Brüche und soziale Verwerfungen hervor, deren Auswirkungen ebenso drastisch sein können wie die Katastrophe selbst. Vor allem bieten sie Raum für Erzählungen und Erklärungen, die den Menschen helfen, die Katastrophe zu deuten und in ihre Weltsicht zu integrieren.

Die Katastrophengeschichte der Menschheit ist voll von diesen Erfahrungen. Man muss nur das Alte Testament aufschlagen, in dem sich ein strafender und rächender Gott immer wieder durch katastrophische Ereignisse maßregelnd in das Leben „seines“ Volkes einmischte: Von der Vernichtung von Sodom und Gomorrha als Strafe für Sünden, über Heuschreckenplagen und die Ermordung der ägyptischen Erstgeborenen bis zur Sintflut – die Katastrophen bekamen immer einen eindeutigen Urheber und ein klares Motiv. Im antiken Griechenland galten Katastrophen weniger als pädagogische Maßnahmen, hier waren es nach Auffassung der Menschen häufig Streitigkeiten unter den Göttern, die Poseidon, Zeus oder Apollo so erregten, dass sie die Elemente entgleisen ließen und die Natur aus dem Gleichgewicht brachten. Aber auch hier sieht man: Eine klare Ursache und ein benennbarer Urheber helfen den Menschen, ein unfassbares Ereignis, das das Leben Vieler aus dem Gleichklang bringt, zu erklären und in ihre eigene Geschichte einzubauen.

Im europäischen Mittelalter reagierten die Menschen auf die Pest mit verschiedenen Erklärungsmustern. Mal galten sie als Strafe Gottes für sündiges Verhalten und brachten die Menschen dazu, sich zu kasteien und zu geißeln, zu fasten und zu beten, oder zumindest viel Geld in die Opferstöcke zu werfen, um den Erlass der Sünden zu erreichen. Mal waren sie von üblen Kräften, Ketzern, Juden oder Hexen verursacht, um dem Satan Seelen zuzutreiben und die Gläubigen zu quälen. Und die Vernichtung des Übels erforderte die Vernichtung seiner Verursacher*innen.

Heute erforschen wir die Weiten des Weltalls und die subatomaren Ebenen der Materie, wir wissen, dass Atomkerne gespalten und Gensequenzen manipuliert werden können, und dennoch greifen Menschen nach wie vor nach quasi-religiösen Erklärungen und Satansglauben, wenn sie durch eine Naturkatastrophe aus ihrem gewohnten Alltag gerissen werden.

Nun bin ich die letzte, die Wissenschaft per se für neutral, unabhängig und aus sich selbst heraus für nobel hält. Denn auch die Wissenschaft wird von Menschen gemacht, die Irrtümern erliegen, die Sachzwängen unterworfen sind, die Interessen verfolgen oder die schlicht betriebsblind sein und die gesellschaftlichen Folgen ihrer Forschung nicht absehen können. Trotzdem: Es ist und bleibt richtig, das zu tun, was Goethe als das höchste Glück des denkenden Menschen bezeichnete: Das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren.

Mich beunruhigt, wie viele Menschen in dieser tief verstörenden und beunruhigenden Situation Wissenschaft als grundsätzlich fragwürdig betrachten und als wissenschaftlich seriös nur anerkennen, was in ihr eigenes Weltbild passt, sei es religiös oder ideologisch bestimmt. Ich beobachte einen Glaubenskrieg um Fragen, die nach rationalen wissenschaftlichen Kriterien durchaus als geklärt gelten dürfen:

  • Ist das neue Coronavirus gefährlich? Ja. Es ist lebensgefährlich, wenn auch individuell unterschiedlich. Es ist gefährlicher als die üblichen Influenzaviren und es kann auch bei Überlebenden schwere Folgeschäden verursachen. Dafür gibt es viele Belege aus unterschiedlichen Quellen.
  • Helfen Vorsichtsmaßnahmen wie der Verzicht auf Menschenansammlungen und die Beachtung von Hygieneregeln? Ja. Sie helfen und zwar umso besser, je früher sie angewandt und je breiter sie akzeptiert oder durchgesetzt werden. Welche genauen Maßnahmen für welchen Zeitraum angeordnet und wie diese Anordnungen durchgesetzt werden, das ist dann wieder keine wissenschaftliche, sondern eine politische Frage.
  • Sind Impfungen sinnvoll gegen Viren? Definitiv. Es gibt gegen Viruserkrankungen allgemein keine wirksamere Vorbeugung als eine Schutzimpfung. Die Frage, ob ein konkreter Impfstoff gegen eine konkrete Erkrankung wirksam und sicher ist und ob er für bestimmte Gruppen oder die gesamte Bevölkerung zur Anwendung empfohlen werden kann, ob er überhaupt in ausreichender Menge zur Verfügung steht und wer zuerst versorgt werden soll, steht dann wieder auf einem anderen Blatt und kann nicht geklärt werden, bevor er entwickelt ist. 

Wenn wir diese Punkte als geklärt voraussetzen würden, blieben immer noch  genügend Themen, über die es sich zu streiten lohnt:

  • Welche Einschränkungen von Grundrechten sind nötig, hinnehmbar oder gerade noch erträglich, um Leben und Gesundheit von Menschen zu retten? Welche Nebenwirkungen von Maßnahmen sind den Individuen und der Gesellschaft zumutbar?
  • Wie kann den Menschen, die durch die Maßnahmen wirtschaftliche Verluste erleiden, der Verdienstausfall so kompensiert werden, dass sie die ohnehin belastende Zeit nicht auch noch mit Existenzängsten durchleben müssen?
  • Wie setzen wir durch, dass Menschen, die beruflich in engem Kontakt mit anderen Menschen arbeiten müssen, geschützt und entlastet werden?
  • Welche Unternehmen brauchen Staatshilfen, welche nicht? Mit welchen Konditionen? Wie kann die Krise auch zum sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaft beitragen?
  • Wie verhindern wir, dass die Krisenkosten der Allgemeinheit aufgeladen werden, während die Krisengewinner lustig ihre Profite einstreichen?
  • Wer soll eigentlich einen Impfstoff entwickeln und unter welchen Bedingungen soll er produziert werden? Und wer soll, wer darf ihn bekommen?
  • Wie vermeiden wir, dass eine konzerngesteuerte Politik alles für das Seelenheil der Aktionär*innen tut, aber Beschäftigte, Kleingewerbetreibende und Kulturschaffende dauerhaft an den sozialen Abgrund gedrängt werden?
  • Was muss sich ganz grundsätzlich an unserer Art des Lebens und Wirtschaftens ändern, damit Menschen vor den Folgen solcher einschneidenden Naturereignisse besser geschützt sind?
  • Was ist uns gesellschaftlich wichtiger: Dass die 85-Jährige im Altenheim wieder Besuch bekommen kann oder dass die Produktion in Wolfsburg, Ingolstadt und Stuttgart möglichst schnell wieder auf allen Bändern läuft?

Auf all diese Fragen hat die Bundesregierung keine nachhaltige Antwort. Wir erleben auch eine Krise der Staatlichkeit, wie wir sie kennen. Der Staat hat seine Aufgaben in der Krisenvorsorge aufgegeben, zugunsten der Privatisierung des Gesundheitswesens. Er hat die Kommunen kaputtgespart, die daraufhin den öffentlichen Gesundheitsdienst heruntergefahren haben. Er hat Krankenhäuser zu profitorientierten Unternehmen gemacht, angebliche Überkapazitäten abgebaut und das Pflegepersonal vernachlässigt.

Wenn wir heute die Todeszahlen der Pandemie international vergleichen, dann können wir schon eine Feststellung sicher treffen: Dort, wo diese Profitlogik zuerst und am stärksten durchgesetzt wurde, ist die Katastrophe am Schlimmsten. New York ist das traurige Beispiel dafür.

Wenn es in Deutschland noch einigermaßen erträglich geblieben ist, dann hat das nicht nur etwas mit dem schnellen Lockdown zu tun, sondern auch mit den aus Sicht der Bertelsmann-Stiftung überflüssigen Krankenhausbetten, die durch den Widerstand der Bevölkerung und der Beschäftigten vor der Zentralisierung gerettet wurden.

Es hat auch damit zu tun, dass die Gewerkschaften mit langen Streiks die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erkämpft haben und somit Menschen nicht gezwungen sind, krank zur Arbeit zu gehen, wo sie viele andere Menschen anstecken können.

Es hat sehr viel damit zu tun, dass viele Ehrenamtliche und Kleinunternehmen das Staatsversagen ausgeglichen haben und Millionen von Behelfsmasken produzierten, als im Gesundheitswesen die Schutzmittel ausgingen.

Es ist jetzt an der Zeit, diese Fähigkeit zu Gemeinsinn, Solidarität und entschlossenem Handeln einzusetzen, um das Kräfteverhältnis in unserer Gesellschaft durchgreifend zu verändern. Nach dem Lockdown geht es um die Frage: Wem gehört unser Land? Gehört es den Autobossen und Pharmaaktionär*innen, den Rüstungsschmieden, Internetgiganten und Datenkraken? Oder gehört es der Pflegekraft, dem Taxifahrer, der Schlosserin, dem Müllfahrer, der Künstlerin, dem Erzieher und der Kassiererin? In wessen Hand sollen die Betriebe sein, die mit Steuermilliarden vor der Pleite gerettet werden? Warum finanzieren wir alle die Forschung, aber die Pharmagiganten dürfen die Preise für neue Medikamente allein festlegen?

Diese Fragen an Macht, Eigentum und Demokratie jetzt zu stellen, ist möglich. Dafür ist es notwendig, die solidarischen Kräfte zusammenzuschließen und gemeinsam zu handeln. Dafür brauchen wir keine quasi-religiösen Erzählungen, wie sie der Ober-Vegan-Influencer, der Reichsbürger-Barde und der Schnellsprech-Märchenerzähler an der Front der Glaubenskrieger verbreiten, sondern klare, rationale und schonungslose Analysen und eine Idee, die Hoffnung macht: Selbst gegen eine Naturkatastrophe waren wir gemeinsam nicht völlig machtlos. Warum sollten wir es gegen den menschengemachten Kapitalismus sein?

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2 Antworten

  1. „Mich beunruhigt, wie viele Menschen in dieser tief verstörenden und beunruhigenden Situation Wissenschaft als grundsätzlich fragwürdig betrachten und als wissenschaftlich seriös nur anerkennen, was in ihr eigenes Weltbild passt, sei es religiös oder ideologisch bestimmt. Ich beobachte einen Glaubenskrieg um Fragen, die nach rationalen wissenschaftlichen Kriterien durchaus als geklärt gelten dürfen:“

    Das ist ja genau die Kritik viele Menschen, dass es eben nur diese eine Sichtweise geben soll, was definitiv nicht stimmt. Für fast alle aufgelisteten Thesen, gibt es Wissenschaftler die etwas anderes sagen, als es die offizielle und überwiegend nur vom RKI vorgetragenen Zahlen und Strategien tun. Also die Standpunkte als „durchaus geklärt“ zu deklarieren ist falsch und eben der Grund darüber das vielen unklar ist, warum diese Maßnahmen durchgeführt wurden und vor allem auch auf Basis welcher Berechnungen und Zahlen.

    Prof. Bakdi https://www.youtube.com/watch?v=bxVFqZnDHkA
    Prof. Haditsch https://www.youtube.com/watch?v=oYVdWw2FNGY
    Ulrich Keil, Jahrgang 1943,war Direktor des Instituts für Epidemiologie und Sozialmedizin der Universität Münster https://www.nachdenkseiten.de/?p=60685
    John P. A. Ioannidis http://www.clemensheni.net/prof-ioannidis-ist-besorgt/

    Wo es aber im Rahmen dieser ganzen Situation eine Gemeinsamkeit einer wie auch immer linken Politik geben soll erschliest sich mir nicht. Mittlerweile sind alle mehr oder weniger von Merkel begeistert und für jede noch so leise Kritik an den Massnahmen wird man schnell diffamiert und beschimpft.

    D.h. wir befinden uns in einer Obrigkeitsschleife. Nur wer den Regeln zustimmt gehört dazu, alle anderen sind ausgeschlossen. In so einer Situation verlieren alle freiheitlichen Positionen. Was letztlich auch die Umfragen zeigen.

  2. Katrin Vogler schreibt: »Ist das neue Coronavirus gefährlich? Ja. Es ist lebensgefährlich, wenn auch individuell unterschiedlich. Es ist gefährlicher als die üblichen Influenzaviren und es kann auch bei Überlebenden schwere Folgeschäden verursachen. Dafür gibt es viele Belege aus unterschiedlichen Quellen.«

    Vielleicht wäre es nicht schlecht, die Quellen mal zu nennen. Dann können sie überprüft werden.

    Laut den Daten der am besten untersuchten Länder und Regionen liegt die Letalität von Covid19 bei durchschnittlich ca. 0.2% und damit im Bereich einer starken Influenza (Grippe) und rund zwanzigmal tiefer als von der WHO ursprünglich angenommen. Hier sind meine Quellen

    Ja, das Virus ist agressiv. Ja, Covid-19 ist eine gefährliche Krankheit. Ich frage mich nur, weshalb ausgerechnet bei dieser Todesursache alle Techniken zum Einsatz kommen, welche die moderne Welt zu bieten hat, um die Regierenden und Regierten in Angst und Schrecken zu versetzen. Und bei anderen Todesursachen, die ebenfalls bekämpfbar und vermeidbar wären – mit zum Teil noch viel, viel mehr Todesfällen – das große Schweigen im Wald herrscht.

    Und weshalb bei dieser Todesursache nahezu die ganze Welt in Schockstarre versetzt wird. Rational ist das nicht zu erklären. Die Daten geben dies nicht her. Ende Januar wurde die erste Infektion mit SARS-CoV-2 in Deutschland festgestellt. Seitdem sind rund 100 Tage vergangen. Täglich sterben in Deutschland – aus welchen Gründen auch immer – etwa 2.600 Menschen. Das heißt in diesen 100 Tagen sind in Deutschland 260.000 Menschen verstorben. Im Zusammenhang mit Covid-19 etwa 8.000. So traurig der Tod jedes Menschen ist, sei die Frage erlaubt: Ist es verhältnismäßiges und verantwortliches Regierungshandeln, angesichts dieser Daten ein ganzes Land derart lahmzulegen? Von den ökonomischen, sozialen und psychischen Schäden mal ganz abgesehen?

    Und ist derjenige, der diese Fragen aufwirft, ein Menschenfeind, ein Spinner, ein Rechter, ein unverantwortlicher Egoist? Nö.

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