„Gekränkte Freiheit“ ist erst im Herbst 2022 erschienen. Aber es steht schon seit Wochen auf der Sachbuch-Bestenliste. Nun wurde es sogar für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Worum geht es also in dem fast 500 Seiten starken Werk von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey, das offensichtlich den Zahn der Zeit trifft?
Verkürzt ließe sich sagen, die Autoren greifen gesellschaftliche Widersprüche auf und versuchen, diese zu verstehen. Im Zentrum steht dabei die Frage nach dem Charakter der coronakritischen Proteste. Blumenketten, der Bezug aufs Grundgesetz, Proteste im Namen der Freiheit – diese an sich progressiven Protestelemente verbanden sich im Zuge der Corona-Pandemie mit einer destruktiven, aufgeladenen und hochaggressiven Establishmentkritik. Amlinger und Nachtwey sprechen zudem von verschwörungstheoretisch geprägten Weltbildern, antisemitischen Einordnungsversuchen und sogar von Gewaltphantasien. Die beiden Autoren kommen auf der Grundlage einer Online-Umfrage mit 1.050 Querdenkern und 45 ausführlichen Interviews aber auch zu dem Schluss, dass viele ihrer Interviewpartner jahrelanges gesellschaftliches Engagement vorweisen können: Gewerkschaftsmitgliedschaften, Aktivitäten in progressiven Bürgerbewegungen, Sozialverbänden oder Vereinen, parteipolitisches Engagement bei SPD oder Grünen, Ehrenamtsarbeit in der Flüchtlingshilfe, eine gewisse Weltoffenheit durch Bildungsreisen nach Asien oder Nahost.
Dieser biografische Grundwiderspruch ihrer Interviewpartner – progressive Vergangenheit einerseits und regressive Gegenwart andererseits – wird für Amlinger und Nachtwey zum Ausgangspunkt ihrer Analyse. Dazu machen sie drei Betrachtungsebenen auf: eine subjektive, psychoanalytische Betrachtung der Querdenker. Im zweiten Schritt eine soziologische Betrachtung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, innerhalb derer diese agieren. Und schließlich eine Betrachtung politischer Kräfteverhältnisse, verbunden mit der Frage nach rechtspopulistischen Zwangsläufigkeiten.
„Libertäre Autoritäre“
In einem ersten Schritt analysieren sie die Protagonisten der Querdenker-Bewegung als „libertäre Autoritäre“. Diese führten einen destruktiven Kampf im Namen der Freiheit. Im Querdenker-Diskurs hört Freiheit auf, ein gesellschaftliches Verhältnis zu sein, schreiben Amlinger und Nachtwey, sie wird vielmehr zu einer verdinglichten, einer negativen Freiheit. Reklamiert wird ein individuelles Anrecht auf die Durchsetzung ihrer Freiheitsrechte. Die individuelle Freiheit wird zu einer Projektionsfläche unerfüllter Sehnsüchte und stellt am Ende nur noch die entpolitisierte Forderung eines privatisierten Individuums dar. Der Freiheitsbegriff der Querdenker ist also ein negativer Freiheitsbegriff. Auf seiner Grundlage entwickeln diese eine abwertende Feindseligkeit gegenüber all jenen, die das individuelle Freiheitsrecht in ihren Augen missachten, und richten ihren Groll gegen übergeordnete Instanzen. Dabei projizieren sie ihren Zorn auf unterlegene Gruppen wie Frauen, Transgender oder Migranten. Sie fühlen sich an keine sozial verpflichtenden Normen mehr gebunden. Sie haben jegliche verinnerlichte Rücksichtnahme abgestreift. Sie agieren enthemmt und aggressiv.
Amlinger und Nachtwey wären keine Soziologen, würden sie bei dieser Betrachtung stehen bleiben. Dass sie die normative Unordnung der Querdenker in den Kontext krisengeschüttelter gesellschaftlicher Entwicklungen stellen, macht ihre Untersuchung schließlich zu einer fundierten Zeitdiagnose. Dazu ordnen sie negative Gefühle wie Wut, Zorn und Ressentiments nicht als subjektiv verursachtes Fehlverhalten ein, sondern als gesellschaftliches Verhältnis. Es entsteht aus dem alltäglichen Gefühl persönlicher Niederlagen. Nach dreißig Jahren Neoliberalismus basiert die spätmoderne Individualität auf einer deregulierten Eigenverantwortung und einem gesteigerten Selbstverwirklichungsanspruch. Gleichzeitig verhindern strukturelle Hürden die Erfüllung sozialer Normen. So führt der Zwang zur individuellen Selbstverwirklichung zu einer strukturellen Überforderung des Einzelnen. Statt sich also frei entfalten zu können, fühlen sich viele Menschen in den allgegenwärtigen Wettbewerbsbeziehungen vor allem ohnmächtig.
Amlinger und Nachtwey arbeiten heraus, dass egoistische und rücksichtslose Verhaltensweisen auf dem Boden dieser ungeregelten Konkurrenzbeziehungen erwachsen. Die gesellschaftlichen Spannungen hinterlassen schließlich auf den vereinzelten Individuen ihre Spuren und bilden sich in einer gebrochenen Art und Weise in ihnen ab. Doch nicht die sozioökonomische Ungleichheit an sich führt zu einer Kultur der Enttäuschung, sondern das Wechselspiel von sozialer Selektion und permanentem sozialen Vergleich. Nach dreißig Jahren Neoliberalismus, Vereinzelung und dem Zwang zur Selbstoptimierung stehen die Menschen unter einem enormen sozialen Druck – sodass ihnen kaum eine andere Wahl bleibt, als sich unangepasst zu verhalten, so das Fazit der Autoren.
Auf einer dritten Betrachtungsebene beleuchten sie schließlich das komplizierte politische Selbstverständnis der von Anfang an höchst ambivalenten Querdenker-Bewegung. So waren in der frühen Phase der Mobilisierungen wohlsituierte Familien mit Kindern, alt gewordene Hippies, Atomkraftgegner und Esoteriker unter den Teilnehmern. Insbesondere bei den Berliner Hygiene-Demonstrationen überwogen liberale und linke Formen der Kritik an biopolitischer Kontrolle. Die Bewegung grenzte sich jedoch nicht nach rechts ab, sondern stand rechten Gruppierungen indifferent bis offen gegenüber. Diese fehlende Abgrenzung verschob schließlich Positionen und Ausrichtung. Ging es beispielsweise beim Bezug aufs Grundgesetz zunächst darum, die von der Verfassung geschützten Grundrechte zu verteidigen, wurde das Gesetz bald zu einem Symbol mangelnder Souveränität – eine Einschätzung, die auch Reichsbürger vertreten.
Ehemalige Linke und Grüne
Für Amlinger und Nachtwey ist klar: Der überwiegende Teil ihrer Gesprächspartner kommt aus dem alten links- und grünaffinen Alternativmilieu. Ihre Herrschaftskritik entwickelte sich jedoch innerhalb der Querdenker-Bewegung nach rechts, sie selbst wurden zu libertären Autoritären. Das lag zum einen daran, dass gesellschaftliche Umbruchphasen nicht nur die soziale Ordnung, sondern auch die Wahrnehmung und Problematisierung sozialer Realitäten destabilisieren. Es lag aber auch daran, dass sich die gesellschaftliche Linke in einer Phase intensiver Orientierungssuche auf moralische Verurteilung beschränkte, anstatt der auf den Kopf gestellten Herrschaftskritik der Verschwörungstheoretiker eine linke Systemkritik entgegenzusetzen. Soziale Bewegungen gehören zum Immunsystem der Gesellschaft, schreiben Amlinger und Nachtwey. Aber ihre Ausrichtung ist nicht immer widerspruchsfrei, sondern auf linke Impulse angewiesen. „Hier gab es im Zuge der Pandemie eine Lücke. Betrachtet man das Ausmaß der Freiheitsbeschränkungen, war es doch überraschend, dass es kaum starke liberale oder linke Stimmen gab, die die Zweckmäßigkeit der Maßnahmen (…) vernunftorientiert in Frage gestellt hätten.“
„Gekränkte Freiheit“ stößt auf Interesse, weil es Antworten gibt. Das Buch ist ein Angebot, wie man ressentimentbefreit auf die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen schauen kann. Es ist ein Kompass, um sich im Dschungel tiefer gesellschaftlicher Erosionsprozesse und unübersichtlicher Gegenmobilisierungen zurechtzufinden. Alles in allem haben Amlinger und Nachtwey eine soziologische Betrachtung individuellen Protestverhaltens in der aktuellen gesellschaftlichen Krisensituation vorgelegt, die in linken Strategiedebatten ihre Berücksichtigung finden sollte. Mit der notwendigen Empathie stellen die Autoren die regressive Rebellion in den Kontext von sozialen Unwägbarkeiten, wachsendem Leistungsdruck und politischer Entfremdung.
Dabei stellen sie fest: Der Herrschaftskritik der Querdenker fehlt vor allem ein normativer Bezugsrahmen einer besseren Welt. Stattdessen stützen sie sich auf eine dünne Rahmenerzählung für das kollektive Handeln, die sich im Dagegensein erschöpft. Linke Strategiebildung sollte diese Entwicklung ins Zentrum ihrer Analyse stellen und daraus die offenen Fragen nach einer alternativen Gesellschaftsutopie ebenso wie die nach den klassenpolitischen Bündnispartnern ableiten. Die Freiheitskonflikte der Gegenwart, das arbeiten Amlinger und Nachtwey klar heraus, bergen Protestformen in sich, in denen sich regressive und emanzipatorische Elemente auch weiterhin kreuzen werden. Sich dazu nicht zu verhalten, fällt als Option weg – das zeigt die destruktive Entwicklung der Coronaproteste. Vielmehr braucht es Impulse von links, die Systemkritik und Gesellschaftsalternative miteinander verbinden, um in den sozialen Bewegungen der Gegenwart um eine systemverändernde Ausrichtung zu ringen.
2 Antworten
Was für ein ausgemachter Quatsch. Küchenpsychologie trifft fehlende Analyse-Fähigkeiten.
Der Widerstand ist bunt gemischt. Was ihn eint ist, dass er aus lauter Menschen besteht, die der Obrigkeit nicht willenlos wie Schafe folgen.
Das ist aber auch das einzige, was sie eint. Ansonsten gibt’s da alles – ja, sogar die Klischees, die hier ausgebreitet werden. Nicht dass die in Zahlen relevant wären, natürlich. Sind ja blosse Klischees.
Und nach rechts driften die wenigsten dort. Diejenigen, die von rechts zum Widerstand kommen, bleiben rechts.
Eher eine Frage an Ulrike, weil ich das Buch nicht gelesen habe. Diese Behauptung ist sehr verallgemeinernd, falls sie im Buch steht, wie ist denn die Empirie dazu? Nach meiner Einschätzung trifft das für einen großen Teil der Leute, die gegen die Corona-Maßnahmen demonszriert haben, nicht zu: „Der Freiheitsbegriff der Querdenker ist also ein negativer Freiheitsbegriff. Auf seiner Grundlage entwicklen diese eine abwertende Feindseligkeit gegenüber all jenen, die das Individuelle Freiheitsrecht in ihren Augen mißachten, und richten ihren Groll gegen übergeordnete Instanzen. Dabei projizieren sie ihren Zorn auf unterlegene Gruppen wie Frauen, Transgender oder Migranten. Sie fühlen sich an keine sozial verpflichtenden Normen mehr gebunden. Sie haben jegliche verinnerlichte Rücksichtnahme abgestreift. Sie agieren enthemmt und aggressiv.“
Auf weitergehende Fragen, die ich an Oliver Nachtwy selbst stellt, abe ich von ihm keine Antwort bekommen, vielleicht kann Ulrike etwas dazu sagen: Es gibt die Rechten und ihre Vereinnahmungsversuche, aber ist es überhaupt berechtigt, was ja der Ausgangspunkt ist, die Proteste gegen die Corona-Politik von Querdenken und Co. insgesamt oder in ihrer Breite unter „Autoritarismus“ zu verhandeln? Ich denke nein, und zwar nicht nur, weil wie selbst festgestellt wird, „im Unterschied zum klassischen autoritären Charakter (…) eine »ausgeprägte autoritäre Unterwürfigkeit nicht zu erkennen« sei“, sondern eher eine rebellische und insoweit antiautoritäre Haltung, die sie zu dem komischen Begriff des „libertären Autoritarismus“ dafür führt.
Als ich den Begriff „libertärer Autoritarismus“ das erste Mal hörte, dachte ich er meinte was ganz Anderes, was mir naheliegender erscheint: nämlich die faktisch autoritäre Haltung der radikalen Verfechter sehr strenger Corona-Maßnahmen, die keine abweichenden Auffassungen dazu dulden und Proteste dagegen pauschal als „rechts“ oder gar „Nazi“ diffamieren, also insb. die libertären bis antideutschen pseudo-linken „Antifas“. Auf der Ebene der herrschenden Politik stellt sich das dar in zunehmender Einschränkung von Meinungs- und politischer Betätigungsfreiheit, Konformitätsdruck, verbunden mit faktischen Zensurmaßnahmen im Internet und Elementen von Cancel-Culture sowie verstärkter Überwachung durch Geheimdienste unter Nutzung des Internet, auch der übers Internet abgewickelten Alltagstätigkeiten wie Bestellungen und Zahlungen, und zunehmender propagandistischer Beeinflussung, in Fragen die sozusagen zur Staatsraison erhoben werden. Das galt für die Corona-Politik, aber noch stärker jetzt in der internationalen und Kriegspolitik gegen Russland, China und Co.
Und zum anderen kommt mir die Assoziation des neoliberalen Autoritarismus, der sich in Institutionen wie den Binnenmarktfreiheiten und der economic governance der EU und Investitionsschutzverträgen und Schuldenbremse usw. darstellt und demokratische Gestaltungsmöglichkeiten systematisch einschränkt und in grundlegenden Fragen verhindert, sozusagen den Neoliberalismus zur unhinterfragbaren Grundverfassung zementiert. Diese beiden Varianten von Autoritarismus finde ich ehrlich gesagt erheblich gefährlicher als die in dem Artikel angesprochenen. Da wäre ich für Fokussierung auf die wirklichen und organisierten Rechten und insb. Nazis, die doch ganz andere Ziele haben als die auf den Demos weit verbreiteten Slogans von Freiheit, Frieden, Liebe usw., die ich weder als rechts noch als verkappt autoritär bezeichnen würde.
Ich finde auch problematisch, dass implizit davon ausgegangen wird, die ein den beschriebenen Protesten angesprochenen Kritikpunkte an der herrschenden Politik und ihre Narrativen seien grundsätzlich unberechtigt. Da müssen doch Zweifel angebracht sein und zumindest zulässig sein, zumal auch die Kommunikation von oben nicht vor Übertreibungen bis zu Falschmeldungen zurück schreckt(e), nicht objektive und ausgewogenen Information war und ist, sondern zweckgetriebene Kommunikation, um möglichst viele Leute zum Impfen und Einhalten der Regeln zu bewegen, teils durchaus Propaganda. Und auch die Kritik an den Einschränkungen von Meinungsfreiheit und an Kontrolle ist zwar übertrieben und teils schief und überhöht und verbunden mit Verschwörungserzählungen, die kritischer Überprüfung nicht stand halten. Aber sie sind auch nicht aus der Luft gegriffen, teils gibt es reale Grundlagen und Entwicklungen, die in der Tat problematisch sind, und auch Einflussnahmen aus Konzernen und Elitennetzwerken gibt es ja, wenn sie auch nicht überhöht werden dürfen. Wer da sehr solide recherchiert ist Norbert Häring https://norberthaering.de/ , auch wenn ich finde dass auch er übertreibt und zu sehr fixiert ist darauf, aber das kommt irgendwie auch aus der Befassung mit diesen Fragen und dem fehlenden kritischen Umgang der Massenmedien damit. Jedenfalls ist doch eine Anforderung an seriöse Debatte, die Argumente aller Seiten zu hören und zu prüfen und zur Diskussion zuzulassen, soweit sie eine gewisse Qualität haben, auch wenn sie nicht ins eigene Bild oder den gewollten Zweck passen. Das fehlt(e) aber, sowohl bei der Corona-Diskussion wie heute bei der um den Krieg in der Ukraine. Wenn man das nicht tut, wird eine rein sozialpsychologische Betrachtung der Proteste selbst problematisch, weil sie diese Fragen verdrängt.