Die Linke und die falsche Nato-Debatte

Gandhi sagte einmal, eine der sieben Todsünden der modernen Gesellschaft sei eine Politik ohne Prinzipien. Ein Prinzip war für die deutsche Politik so wichtig, dass es nach Ende des von Deutschland entzündeten faschistischen Weltkrieges 1949 in die Präambel unseres Grundgesetzes hineinformuliert wurde: Das deutsche Volk sei von dem Willen beseelt … „dem Frieden der Welt zu dienen“. Seither hat die politische Interpretation dieses Prinzips groteske Veränderungen durchgemacht.

Von der Remilitarisierung 1955 über die Einführung der Wehrpflicht 1956, den Beschluss zur Bewaffnung der Bundeswehr mit atomaren Trägersystemen 1958, die Notstandsgesetze 1968, den NATO-Doppelbeschluss 1989 bis hin zum Verfassungsgerichts-Urteil über die „out of area“-Einsätze der Bundeswehr 1994 und das „Tornado-Urteil“ zum Afghanistan-Einsatz 2007 wurde das Verbot eines Angriffskrieges in Artikel 26,1 des Grundgesetzes Schritt für Schritt ausgehöhlt und abgeschafft. Auf das „Nie wieder Krieg“ folgte ein „Nie wieder Krieg ohne uns“, das heute die Außen- und Militärpolitik dieses Landes prägt.

Mit den entsprechenden Auswirkungen: Der Rüstungsetat beträgt derzeit nachNATOKriterien 53 Mrd. Euro und soll nach den Vorstellungen von CDU/CSU und FDP auf etwa 80 Milliarden steigen. Im Rahmen der „nuklearen Teilhabe“ der NATO üben Bundeswehr-Piloten der Einsatz von Atomwaffen. Militäreinsätze wie in Mali, in der gesamten Sahel-Region, an der „Ostflanke der NATO“ oder im südchinesischen Meer verschärfen Konflikte und behindern, dass sie an ihren Ursachen bekämpft werden.  Und ganz aktuell mit einer politischen Argumentationslinie, die sogar aus der krachenden Niederlage am Hindukusch noch eine völlig absurde Begründung für neue Aufrüstung und Kriegsvorbereitung zu stricken versucht: Kramp-Karrenbauer fordert für künftige Kriege den Aufbau einer militärischen „Koalition der Willigen“ im Rahmen der EU. All das steht im Widerspruch nicht nur zum Geis der Verfassung, sondern auch zum Willen der Mehrheit.

Nicht verändert hat sich in den letzten 72 Jahren, dass die Mehrheit der Bevölkerung meint, dass der Einsatz von Militär kein Mittel der Außenpolitik sein soll. Auf die Frage, welche Mittel Deutschland in der Außen- und Sicherheitspolitik einsetzen sollte, antworteten 2019 ganze 85 Prozent der Befragten „mit diplomatischen Verhandlungen“, nur 27 Prozent hielten „Kampfeinsätze“ für ein probates Mittel der Außenpolitik. In dieser bundeswehreigenen (!) Erhebung wird dann auch konstatiert: „Hinsichtlich ihrer außenpolitischen Grundorientierungen sind die Bundesbürger als anti-militaristisch, anti-atlantizistisch und multilateralistisch zu charakterisieren, d.h. sie glauben nicht an militärische Gewalt als effektives oder moralisch angemessenes Mittel der Außenpolitik, sprechen sich eindeutig für eine Zusammenarbeit mit befreundeten Staaten und Bündnispartnern aus und wünschen sich eine außenpolitische Emanzipation von den USA.“

Positionen von SPD und Grünen

Klarer kann man auch die außenpolitischen Prinzipien der Partei DIE LINKE nicht zusammenfassen. Sie steht damit hinter der Mehrheit der Gesellschaft und den Forderungen der Friedensbewegung. Umso befremdlicher, dass uns jetzt im Wahlkampf gerade die SPD und die Grünen zu einem Glaubensbekenntnis pro NATO und pro Militäreinsätze nötigen wollen. Denn sie haben im Lauf der letzten Jahrzehnte einige ihrer eigenen Prinzipien zugunsten von Machtzuwachs und Regierungsbeteiligung entsorgt. Ein paar Zitate helfen, diese historische Entwicklung besser zu verstehen. Noch 1998 bestätigte der SPD-Parteitag in Leipzig das Berliner Grundsatzprogramm, in dem formuliert war:

„Unser Ziel ist es, die Militärbündnisse durch eine europäische Friedensordnung abzulösen. Bis dahin findet die Bundesrepublik Deutschland das ihr erreichbare Maß an Sicherheit im Atlantischen Bündnis (…) Im Bündnis muss der Grundsatz gleicher Souveränität gelten. Das Bündnis muss verteidigungsfähig, defensiv und entspannungsbereit sein. Der politische Wille muss über Militärstrategie, Militärtechnik und wirtschaftliche Interessen der Rüstungsindustrie herrschen, nicht umgekehrt. Friede ist eine politische, keine waffentechnische Aufgabe.“

Und Die Grünen formulierten in ihrem gemeinsamen Programm zur ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990:

„Wenn in der Auseinandersetzung um die Durchsetzung einseitiger Abrüstung die NATO­Mitgliedschaft der BRD zur Diskussion steht bzw. die NATO in eine Zerreißprobe geführt wird, so sind wir zum Bruch mit der NATO bereit. Wir müssen raus aus der NATO. weil es mit der NATO keinen Frieden geben kann und die Schwächung, Desintegration und schließliche Aufhebung dieses Militärpakts unabdingbar ist, um Frieden zu schaffen. Friedenspolitik kann nicht auf der Basis von Militärblöcken betrieben werden.“ (DIE GRÜNEN, Das Programm zur I. gesamtdeutschen Wahl 1990)

Und noch heute erhalte ich für meine friedenspolitischen Reden und Vorträge auch viel positive Resonanz von Mitgliedern dieser beiden Parteien. Auch im Bundestag arbeiten Abgeordnete aller drei Parteien konstruktiv zusammen, etwa wenn es um den Ausbau der zivilen und gewaltfreien Konfliktbearbeitung, die Förderung des Zivilen Friedensdienstes oder die Abschaffung der Atomwaffen und der Rüstungsexporte zumindest in Krisen- und Kriegsgebiete geht. Wir haben fraktionsübergreifend den „Parlamentskreis Atomwaffenverbot“ und den „Parlamentskreis Seenotrettung“ gegründet, in dem wir uns für sichere und legale Fluchtwege engagieren. Also, da könnte doch was gehen?

Aber die Parteispitzen und die Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten von SPD und Grünen tut nun so, als könne man mit der LINKEN in der Außenpolitik nicht zusammenarbeiten, solange sie so ähnliche Forderungen vertritt, wie sie noch vor einigen Jahren bei diesen Parteien selbst mehrheitsfähig gewesen sind. Man merkt den Zweck und ist verstimmt: Wir sollten nicht über höhere Löhne und Renten, die Bekämpfung von Kinderarmut, niedrigere Mieten und wirksamen Klima- und Umweltschutz verhandeln können, solange DIE LINKE sich nicht zur NATO bekennt? Wie absurd das ist, merkt man ja, wenn man vergleicht, welche grundsätzlichen Bekenntnisse zum Beispiel von der FDP vor der Aufnahme von Gesprächen verlangt werden: Nämlich keine. Dabei zeigt ein Vergleich der Wahlprogramme, dass es zwischen den Mitte-Links-Parteien erheblich größere Schnittmengen gibt als zur FDP, der Front der Privatisierungsgewinner.

Wenn SPD und Grüne nicht über jedes Stöckchen springen würden, das ihnen Laschet und Lindner hinhalten, könnte man über die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede sachlich sprechen. Was am Ende dabei herauskäme, müsste ja auf jeden Fall noch von Parteitagen und Mitgliederentscheiden bestätigt werden. Und die Mitglieder und Delegierten würden wohl darauf achten, dass die Prinzipien, die sie für wirklich wichtig halten, eingehalten werden. Ein politischer Richtungswechsel, der die Lebensverhältnisse der Mehrheit in diesem Land deutlich verbessert, ist nämlich nach Jahrzehnten der Umverteilung von unten nach oben überfällig.

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