Am 29. November finden in Irland die Generalwahlen statt, in denen das parlamentarische Unterhaus Dáil Éireann gewählt wird. Dieses Unterhaus wird aus 174 Teachtaí Dála, also Abgeordneten, verteilt auf 43 Wahlbezirke bestehen. Jeder Wahlbezirk stellt je nach Population drei bis fünf Abgeordnete. Die ursprünglich für Februar 2025 angesetzte Wahl wurde vorgezogen. Nach dem Rücktritt von Leo Varadkar im April 2024, sowohl als Taoiseach (Regierungschef) als auch als Parteichef von Fine Gael, wurden schon vorher verlautbare Rufe nach vorgezogenen Neuwahlen unüberhörbar.
Die gegenwärtige Koalitionsregierung ist seit Juni 2020 im Amt. Sie setzt sich zusammen aus der neoliberalen, christlich-konservativen Fine Gael, der liberalkonservativen Fianna Fáil und der Green Party, die sich als Teil der linken Mitte versteht, aber genauso gern der politischen Rechten und dem Kapitalismus zuarbeitet wie die deutschen Grünen. Diese Koalition ging mit schweren Geburtswehen einher, da alle drei Partner sehr schlechte Beziehungen zueinander hatten. Auf der letzten Sitzung der vorherigen Dáil hatte Fianna-Fáil-Parteichef Micheál Martin den Fine-Gael-Vorsitzenden Leo Varadkar noch als “nasty piece of work” (widerliche Person) betitelt. Varadkar hatte im Gegenzug nichts Gutes über Martin zu sagen und verglich ihn im Wahlkampf mit John Delany, dem damals gerade wegen finanzieller Ungereimtheiten und persönlicher Bereicherung entlassenen vorherigen CEO der Football Association of Ireland.
Nach damals neun Jahren in der Regierung, zunächst in Koalition mit Labour (2011–2015) und dann mit der Unterstützung von neun unabhängigen Teachtái Dála waren sich Fine Gael ihrer Sache sehr sicher. Entsprechend groß war der Schock, als die Wahlergebnisse ein anderes Bild malten. Eine Bevölkerung, frustriert mit der anhaltenden Austeritätspolitik trotz permanent kommunizierten wirtschaftlichen Aufschwungs wählte in unerwarteten Zahlen die irisch-republikanische, demokratisch-sozialistische Partei Sinn Féin. Plötzlich war Fine Gael mit 35 erreichten Sitzen nur die drittstärkste Kraft, nach Fianna Fáil mit 38 gewählten Kandidaten und Sinn Féin mit 37. Mit 160 Sitzen in der Dáil war eine Mehrheit von mindestens 81 Sitzen notwendig, um eine Regierung zu bilden.
Jede Koalition mit Sinn Féin war schon vor der Wahl von sowohl Fine Gael als auch Fianna Fáil ausgeschlossen worden. Auf der linken Seite des Spektrums wurden nicht genug Sitze erreicht, um eine Koalition mit Sinn Féin zu bilden. Mithilfe der zwölf gewonnenen Sitze der Green Party, die als Juniorpartner der Koalition beitraten, erreichten Fine Gael und Fianna Fáil in Koalition die Regierungsfähigkeit.
Die Bilanz nach rund viereinhalb Regierungsjahren ist traurig. Die Zahl der Obdachlosen ist höher als je zuvor. Im August lag die Zahl derer in Notquartieren bei 14.429. Wichtig ist zu verstehen, dass diese Nummer niemanden einschließt, der auf der Straße lebt, couch-surfed oder temporär bei Familie oder Freunden untergekommen ist. Die tatsächliche Zahl der Obdachlosen liegt sehr viel höher, und dies in einem sehr wohlhabenden Staat mit nur knapp über fünf Millionen Einwohnern. Die Regierung versprach im Jahr 2024, 9.300 neue Sozialwohnungen zu bauen. Lediglich 158 wurden tatsächlich gebaut. Gleichzeitig sind Mieten zunehmend unbezahlbar und Hauskredite fast unmöglich zu bekommen. Vorige Woche erzählte der ehemalige Minister für Wohnen, Eoghan Murphy (Fine Gael), der Zeitung Business Post im Interview, dass Fine Gael Wohnraum nicht zu einer Priorität gemacht habe, weil sie es schlicht nicht wollten.
Ebenso deprimierend ist der sich stetig verschlechternde Zustand des öffentlichen Gesundheitswesens. Auf einen Termin mit einem Spezialisten kann man Jahre warten. Ich selbst hatte 2023 endlich einen Augenarzttermin, auf den ich zuvor sieben Jahre gewartet hatte. Mangel an Krankenwägen und Personal bedeutet lebensgefährliche Wartezeiten, vor allem in ländlichen Gegenden. Doch selbst wenn man es zur nächsten oft weit entfernten Notaufnahme oder zum Krankenhaus schafft, sind diese komplett überfüllt mit oft tagelangen Wartezeiten, überarbeitetem Personal und bei weitem nicht genug Betten und Pflegekräften. Fine Gael und Fianna Fáil haben sich über ihre gesamte respektive Regierungsgeschichte hinweg immer mehr für die Wirtschaft als die Bevölkerung interessiert. Der Fokus liegt darauf, Unternehmen, Geierfonds und Vermieter zu unterstützen. Irland ist mit 12,5 Prozent Unternehmenssteuer eine Steueroase für multinationale Konzerne. Diese verschenkten potenziellen Einnahmen gehen auf Kosten der Bevölkerung, da sie in der gefährlichen Unterfinanzierung öffentlicher Dienste resultieren.
Als wäre dies nicht verheerend genug, ist die Koalitionsregierung sehr bemüht, Irlands militärische Neutralität zu untergraben. Seit Erreichen der Unabhängigkeit der Republik aus der britischen Besatzung blieb Irland bewusst neutral – mit einer offiziellen Enthaltung im Zweiten Weltkrieg (nicht ohne aber dennoch die Alliierten zu unterstützen) und einer stetigen Weigerung, der NATO beizutreten. Nach Irlands Beitritt zu den Vereinten Nationen 1955 wurden allerdings Rufe laut, sogenannte Friedensmissionen zu unterstützen. Ein gesetzlicher Rahmen wurde 1960 erschaffen, der die Teilnahme irischer Truppen an Auslandsmissionen erlaubt, allerdings ausschließlich limitiert auf Einsätze, die von der UN unterstützt werden.
Durch die Verträge von Nizza und Lissabon wurde eine Verschärfung dieser Legislative notwendig. Eine Zustimmung auf drei Ebenen (das sogenannte Triple Lock) ist notwendig, um mehr als zwölf Soldaten in eine Auslandsmission zu schicken. Diese Ebenen sind die Regierung, Dáil Éireann und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Seit 2022 hat die Regierung mehr und mehr versucht, die irische Neutralität zu untergraben, etwa indem US-Militärflugzeugen erlaubt wird, den Shannon Airport zu nutzen. Des Weiteren versucht die Regierung gegen den erklärten Willen der Mehrheit der Bevölkerung, das Triple Lock aus dem Gesetz zu entfernen. So verzweifelt ist man bei Fine Gael und Fianna Fáil, sich bei den von der Leyens, Macrons, Scholzs und den restlichen Kriegstreibern in der EU einzuschmeicheln.
Des Weiteren stimmte Fine Gael im April dieses Jahres erneut gegen die gesetzliche Verfügung der Occupied Territories Bill. Die OTB ist ein 2018 von der parteilosen Senatorin Frances Black vorgelegter Gesetzentwurf, der jeglichen Handel und ökonomisches Engagement mit israelischen Siedlungen auf illegal besetztem Land verbieten und strafbar machen würde. Der Gesetzentwurf wurde unterstützt von Fianna Fáil, Sinn Féin, Labour, Solidarity Party, People Before Profit, Green Party, Social Democrats und von der Ireland Palestine Solidarity Campaign. Der Gesetzentwurf wurde mehrheitlich angenommen, sowohl im Senat als auch in Dáil Éireann. Fine Gael hat die tatsächliche gesetzliche Verfügung bisher blockiert. Die Ratifizierung eines Gesetzentwurfes bedarf zunächst einer Untersuchung bezüglich potenzieller ökonomischer Konsequenzen. Doch Fine Gael weigert sich schlicht und ergreifend, diese Untersuchung durchzuführen, um so die Ratifizierung zu unterbinden.
Vor der Wahl stellt sich nun die Frage nach Alternativen. Sinn Féin wird sicher wieder eine ernstzunehmende Kraft sein, doch nach einigen Skandalen in den letzten Monaten ist es fraglich, ob sie dieses Mal genug Sitze bekommen werden. Kurz vor den Kommunalwahlen im Juni 2024 schockte die Partei ihre Wählerbasis und auch viele Mitglieder mit der Ankündigung einer strengeren Immigrationspolitik. Diese Entscheidung kostete die Partei zweifelsohne zahlreiche Stimmen. Der schlechte Nachgeschmack hält an.
Umfragen vom November sagen eine Verteilung von 48 Sitzen für Fine Gael, 43 für Fianna Fáil, 33 für Sinn Féin, 21 für unabhängige Kandidaten. Die Green Party verschwindet in der Projektion mit lediglich einem Sitz in die Irrelevanz. Das Problem der letzten Wahl wiederholt sich. Es gibt nicht genug projizierte Sitze für die linke Seite des politischen Spektrums, um eine regierungsfähige Koalition mit Sinn Fèin zu bilden. In der linken Mitte des Spektrums, aber mit einer deutlichen Affinität für linksorientierte Kollaboration verfügen die Social Democrats in der Projektion über sechs Sitze. Des Weiteren haben wir das Bündnis aus den trotzkistischen People Before Profit und der sozialistischen Solidarity Party, das laut Hochrechnungen kombiniert mit sechs Sitzen rechnen kann. Die in der linken Mitte angesiedelte sozialdemokratische Labour Party wird laut Wahlumfragen auf fünf Sitze kommen, Independents4Change, ein Bündnis linker unabhängiger Kandidaten, dem beispielsweise die ehemaligen MEPs Mick Wallace und Clare Daly angehören, können mit zwei Sitzen rechnen. Right2Change, eine sozialistische Kleinpartei und die Workers and Unemployed Action Party werden laut Projektion je einen Sitz bekommen.
Was sich aus diesen Hochrechnungen lesen lässt, ist die ernüchternde Erkenntnis, dass ohne ein sehr überraschendes signifikantes Wachstum von Stimmen für die linke Seite des politischen Spektrums die dringend notwendigen Veränderungen in Irlands Regierung auch nach dieser Wahl unerreichbar ist.
Annie de Bhal ist Mitglied bei Jews for Palestine und der britischen Organisation Tzedek, die sich weltweit für die Bekämpfung extremer Armut einsetzt.