Katalonien: Die EU-Eliten schweigen zu Gewalt und Entdemokratisierung- Im Gespräch mit Andrej Hunko

Andrej Hunko am Wahltag in Barcelona

Vor wenigen stimmte die Mehrheit der katalanischen Bevölkerung für die Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien, am Wahltag versuchte die spanische Polizei in Katalonien mit massiver Gewalt das Referendum zu unterdrücken. Andrej Hunko, Bundestagsabgeordneter der Linken, war als einziger deutscher Parlamentarier vor Ort wir sprachen mit ihm über die Gewalt der Polizei, die internationalen Reaktionen und die Haltung der katalanischen, spanischen und internationalen Linken.

Die Freiheitsliebe: Andrej du warst vorletzte Woche in Katalonien, was hat dich dazu bewogen?

Andrej Hunko: Ich beschäftige mich seit Jahren mit den Entwicklungen in Spanien, auch mit den Unabhängigkeitsbewegungen. Vor einigen Jahren hatte der spanische Geheimdienst meine Mails mitgelesen, als ich mich mit Vertretern der baskischen Linken treffen wollte. Auch deutsche Staatsbürger, die (unpolitisch) in Konflikt mit spanischen Behörden gerieten wandten sich an mich. Meine Erfahrungen mit spanischen Behörden waren teilweise kafkaesk. Sie haben mich zur Überzeugung gebracht, dass im spanischen Staat Traditionen vorherrschen, die es so in den meisten anderen europäischen Ländern nicht gibt.
Was Katalonien betrifft hatte ich in den letzten Jahren Gespräche mit den verschiedenen katalonischen Parteien, die mich alle gebeten hatten, dorthin zu fahren, was dann jeweils an anderen Verpflichtungen scheiterte. Die Einladung zu einer internationalen Parlamentarier-Delegation zur Beobachtung des Referendums am 1. Oktober 2017 war dann eine Möglichkeit, endlich den Prozess in Katalonien aus nächster Nähe zu erleben. Ich hatte dann noch einige Tage dran gehängt und konnte so auch den Generalstreik am 3. Oktober beobachten und an Vermittlungsgesprächen im Madrider Parlament teilnehmen.

Die Freiheitsliebe: Was geschah am Wahltag?

Andrej Hunko:Die Stimmung vor dem 1. Oktober war vor allem davon geprägt, dass nach Umfragen über 75 Prozent für das Recht auf Abstimmung waren, während die Befürworter einer tatsächlichen und einseitigen Unabhängigkeitserklärung keine eigene Mehrheit hatten. Die Reaktion von Madrid war trotzdem vor allem durch Repression geprägt: Das Referendum wurde für illegal erklärt, katalanische Minister wurden verhaftet, 10.000 Mitglieder der paramilitärischen Guardia Civil wurden nach Katalonien verlegt, Rajoy erklärte, dass der spanische Staat das Referendum verhindern werde.
Man muss dabei wissen, dass dieses Referendum der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung ist, die sich vor allem in den letzten zehn Jahren aufgebaut hatte: Die Neuordnung des Autonomiestatuts scheiterte an der harten Haltung Madrids, wo damals die sozialdemokratische PSOE regierte. Auch der jetzige rechtskonservative Regierungschef Rajoy spielte dabei eine Schlüsselrolle. Hinzu kam die Austeritätspolitik, die auf deutschen Druck über Madrid durchgesetzt wurde. Bei den katalanischen Parlamentswahlen 2015 erreichten die Befürworter einer Unabhängigkeit erstmals eine Mehrheit, zugleich verschob sich das Spektrum nach links, u.a. mit der Verdreifachung der Sitze der linksradikalen pro-Unabhängigkeitsorganisation CUP.
Die etwa 30 internationalen Beobachterinnen und Beobachter teilten sich am Wahltag in mehrere Gruppen. Ich war in einer Gruppe mit dem deutschen ehemaligen Landtagsabgeordneten Bernhard von Grünberg (SPD) und einem Vertreter der flämisch-nationalkonservativen NVA aus Belgien. Wir waren in Barcelona und Girona. Vor allen Wahllokalen, die wir besuchten, gab es Trauben von mehreren hundert Menschen, teils um wählen zu gehen, teils um die Schulen gewaltfrei vor Übergriffen der Guardia Civil zu schützen. In der Nähe aller Wahllokale sah ich Vertreter der katalanischen Polizei Mossos d’Esquadra, die nicht eingriff.

In einer Schule in Barcelona nahe der Sagrada Familia konnte ich beobachten, wie die Guardia Civil gewaltsam in die Schule eindrang und die Urnen entwendete. Dort setzte sie auch Gummigeschosse gegen friedliche Demonstranten ein, ich habe die Schüsse gehört und die Verletzten gesehen. Gummigeschosse sind in Katalonien, ebenso wie in Rumänien, Irland, Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland und Österreich verboten. Ab Nachmittags hatte ich den Eindruck, dass das aggressive Vorgehen nachließ. Bei der Auszählung am Abend gab es die Befürchtung, dass die Schule von der Guardia Civil gestürmt würde, was aber glücklicherweise auch bei den anderen Wahllokalen nicht passierte.
Der brutale Polizeieinsatz am 1. Oktober mit über 800 Verletzten machte weltweit Schlagzeilen. Sowohl der der Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen als auch der Menschenrechtskommissar des Europarates forderten eine unabhängige Untersuchung. Die EU-Eliten blieben aber stumm, die Bundesregierung weigerte sich sogar diese Polizeigewalt überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.

Die Freiheitsliebe: Die Regierung hat die Unabhängigkeit nun ausgesetzt, was hat sie dazu bewogen?

Andrej Hunko:Der katalanische Regierungschef Puigdemont setzt auf Verhandlungen und möchte eine gewaltsame Auseinandersetzung vermeiden. Gleichzeitig steht er unter dem Druck einer mittlerweile sehr starken und sich nach links entwickelnden Unabhängigkeitsbewegung. Im Parlament ist er auf die Zustimmung der antikapitalistischen CUP angewiesen. Madrid droht mit Inkraftsetzen des Artikels 155, der dem Zentralstaat das Recht gibt, die Autonomiebehörden außer Kraft zu setzen. Das wird allerdings nur gegen den Widerstand hunderttausender Demonstranten möglich sein. Aktuell werden in diesem Kontext durch Madrid erzwungene Neuwahlen in Katalonien diskutiert. Puigdemont versucht das Ergebnis des Refrendums für die Unabhängigkeit politisch zu vertreten, ohne Madrid die juristische Handhabe zur Entmachtung der Autonomiebehörden zu geben. Daher die verklausulierten Erklärungen. Gleichzeitig spielt er auf Zeit und fordert Gespräche unter internationaler Beteiligung, die allerdings Madrid ablehnt.

Die Freiheitsliebe: Wie hat die internationale Gemeinschaft auf diese Erpressungversuche reagiert?

Andrej Hunko:Mit einigen kleinen Ausnahmen stellen sich die EU-Regierungschefs und andere europäische Schlüsselakteure voll hinter Rajoy. Jede Initiative zur Vermittlung wird abgelehnt. Besonders die Bundesregierung, aber auch Erdogan, sind bei diesem Schulterschluss an vorderster Front. Es ist kein Zufall, dass die Interpol-Verhaftungen von kritischen Schriftstellern wie Doğan Akhanlıausgerechnet in Spanien stattfanden. Man muss davon ausgehen, dass Rajoy grünes Licht für eine auch gewaltsame Niederschlagung der katalanischen Bewegung hat.
Der Pressesprecher der PP, Pablo Casado, drohte vor gut einer Woche auf einer offiziellen Pressekonferenz Puigdemont mit dem gleichen Schicksal, wie Lluis Companys, der 1934 die katalanische Republik als Teil einer (künftigen) Bundesrepublik Spanien ausrief. Companys floh nach dem Sieg des spanischen Faschismus nach Frankreich, wurde dort 1940 von der Gestapo festgenommen, an die Franquisten ausgeliefert, gefoltert und erschossen. Dass diese Aussage, die sich offen in die Tradition des Faschismus stellt, durch den Pressesprecher einer Schwesterpartei der CDU/CSU so völlig ohne Reaktionen blieb, spricht Bände.

Gerade von deutscher Seite ist das Schweigen dazu skandalös: Bis heute zahlt Deutschland Renten an die Kämpfer der Division Azul (Blaue Division), eine spanische Freiwilligentruppe, die in den 40er Jahren gemeinsam mit den Nazis an der Ostfront gegen die Sowjetunion kämpfte. Grundlage dafür ist ein Vertrag von Adenauer und Franco, der bis heute gilt und von keiner Bundesregierung jemals aufgekündigt wurde. Die jetzige Unterstützung Berlins für Rajoy stellt sich auch in eine üble historische Tradition.

Die Freiheitsliebe: Was ist die Position der Linken vor Ort?

Protest in Katalonien – Bild von Krystyna Schreiber

Andrej Hunko:Die Lage ist komplex: Es gibt eine Erklärung von Zaragoza, die von vielen Linken, auch international, getragen wird, darunter großer Teile von Podemos und Izquierda Unida. Sie spricht sich für einen Dialog aus, verurteilt die Repression und spricht sich für die Möglichkeit eines Referendums in Übereinstimmung mit dem spanischen Staat aus, also ähnlich etwa dem Modell von Schottland oder Quebec.
In Katalonien gibt es zudem noch die „Esquerra Republicana de Catalunya“ (ERC, Republikanische Linke), die für die katalanische Republik ist und wirtschaftspolitisch eher linkssozialdemokratisch, sowie die Candidatura d’Unitat Popular (CUP, Kandidatur für die Volkseinheit), die sich als antikapitalistisch versteht. Beide sind für eine auch einseitige Unabhängigkeitserklärung und haben in letzter Zeit stark an Einfluss gewonnen.

Insgesamt ist die Unabhängigkeitsbewegung zunehmend links geprägt, in den letzten Jahren gab es auch Druck der linken Unabhängigkeitsparteien zahlreiche fortschrittliche Beschlüsse, z. B. gegen Zwangsräumungen und für Energielieferungen für arme Familien im Winter, für sozialen Wohnungsbau, gegen Fracking und für die Gleichstellung von Frauen am Arbeitsplatz.

Die Freiheitsliebe: Teilst du die Sorge vieler Linken vor eine Balkanisierung und widerspricht diese Sorge nicht dem Selbstbestimmungsrecht?

Andrej Hunko:Viele Linke in Deutschland sehen die Unabhängigkeitsbewegungen in Spanien vor der Folie der Zerschlagung Jugoslawiens. Deutschland erkannte 1991 die einseitige Unabhängigkeitserklärung Sloweniens und Kroatiens an und befeuerte damit den Bürgerkrieg. 1999 bombardierte die NATO mehrere Monate lang Jugoslawien, um die Unabhängigkeit des Kosovos durchzusetzen, der bis heute von vielen Staaten, darunter Spanien, nicht anerkannt wird. Deshalb gibt es eine verständliche Distanz zu Sezessionsbewegungen.
Meines Erachtens muss man sich die Situation jeweils sehr konkret anschauen. Weder der Charakter des spanischen Staates ist mit demjenigen Jugoslawiens vergleichbar, noch ist es der Charakter der Bewegungen. Auch die internationale Lage ist völlig anders. Nach dem Putsch 2014 in der Ukraine erklärte sich die Krim (mit russischer Unterstützung) unabhängig und schloss sich Russland an, als die ukrainische Armee im April 2014 gegen den Donbass eingesetzt wurde, erklärten sich Donezk und Lugansk unabhängig. Dies wurde von den meisten Linken zwar nicht direkt unterstützt, allerdings mit gewissem Verständnis angesichts des Charakters des Kiewer Regimes gesehen.

Dieses Verständnis halte ich auch im Fall Kataloniens gegenwärtig für angebracht. Es gibt völkerrechtlich allerdings kein absolutes Selbstbestimmungsrecht. Nicht jede einseitige Unabhängigkeitserklärung kann sich auf das Selbstbestimmungsrecht berufen. Hinzu kommt im Fall Kataloniens, dass die Region zu den industrialisierteren Teilen Spanien gehört und das BIP pro Kopf höher ist als im Durchschnitt Spaniens (allerdings nicht so hoch wie in Madrid oder dem Baskenland). Daraus leiten manche einen chauvinistischen Charakter der Unabhängigkeitsbewegung ab. Ich halte das für sehr verkürzt. Wünschenswert wäre sicherlich eine Reform des spanischen Staates, eine spanische Republik, die die Reste des Franquismus überwindet und für alle Regionen eine Perspektive darstellt. Podemos spricht in diesem Zusammenhang von einer zweiten Transition, die notwendig ist.
Die Linke in Deutschland sollte meines Erachtens sehr entschieden und konkret gegen die Unterstützung der Bundesregierung für den autoritären Kurs Rajoys Stellung beziehen. Was die Beurteilung der katalanischen Bewegung angeht, empfehle ich mehr Zurückhaltung und genaues Hinschauen.

Die Freiheitsliebe: Danke dir für das Gespräch.

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