Dies ist der 2. Teil der Übersetzung eines Interviews, das James Wilt für die Webseite „Canadian Dimension“ am 14. Oktober 2024 mit Adam Hanieh führte. Teil 1 findet ihr hier. Das Orginal des Textes kann hier nachgelesen werden. Der Text wurde übersetzt von Paul Michel vom „Netzwerk Ökosozialismus“ https://netzwerk-oekosozialismus.de/) Wir bedanken uns bei der Redaktion von „Canadian Dimension“ für die Erlaubnis zur Übersetzung des Textes.
Ständig steigender Energiebedarf
CD : Ein wichtiger Punkt, den Sie ansprechen, ist, dass historische und aktuelle „Energiewenden“ stets ein Prozess der Hinzufügung und nicht der Ersetzung waren. Können Sie einige Beispiele aus der Vergangenheit nennen. Und wie könnte uns dieses Verständnis dabei helfen, sogenannte kohlenstoffarme Technologien wie Kohlenstoffabscheidung und -speicherung und Wasserstoffenergie zu verstehen ?
AH : Ich denke, die Art und Weise, wie Energiewenden üblicherweise betrachtet werden, ist in vielerlei Hinsicht fehlerhaft. Allgemein wird angenommen, dass der Kapitalismus sich von fossilen Brennstoffen abwendet und auf erneuerbare Energieträger und verschiedene Arten von grünen Technologien setzt. Wir können uns darüber streiten, wie schnell das geschieht, aber die Annahme dem zugrunde liegt, ist, dass Öl, Gas und fossile Brennstoffe auf dem Rückzug sind.
Aber wenn man sich die Geschichte ansieht, waren Energieübergänge im Kapitalismus immer additiv. Der sogenannte Übergang von Kohle zu Öl, der Mitte des 20. Jahrhunderts stattfand, ist ein gutes Beispiel. Anfang des 20. Jahrhunderts machte Kohle etwa 85 Prozent der weltweiten Primärenergie aus. Heute ist es viel, viel weniger: etwa 25 Prozent. Aber wenn man die Gesamtmenge der verbrauchten Kohle betrachtet, produzieren wir mehr Kohle als je zuvor. Dasselbe gilt für Erdgas. Erdgas wurde erst in den 1980er und 1990er Jahren wirklich zu einer wichtigen Energiequelle. Heute ist es bedeutend und substanziell, insbesondere bei der Stromerzeugung. Aber das bedeutet nicht, dass Öl oder Kohle in Bezug auf ihre absolute Produktion und ihren Verbrauch zurückgegangen sind.
Der Grund hierfür ist ein weiteres Merkmal des Kapitalismus: die Tendenz, den Energiedurchsatz zu steigern, neue Formen der Energieerzeugung heranzuziehen und die Gesamtmenge der verbrauchten Energie und damit auch die Menge der produzierten Waren zu erhöhen. Das Problem besteht darin, dass die Klimadebatte in vielen Fällen nur das relative Verhältnis der verschiedenen Energieformen zueinander betrachtet, die Höhe des gesamten Energieausstoßes aber außer Acht lässt. Entscheidend ist die absolute Höhe der Produktion fossiler Brennstoffe, nicht ihr relativer Anteil.
Es kommt äußerst selten vor, dass der globale Energieverbrauch zurückgeht. Das geschah Anfang der 1980er Jahre mit der globalen Rezession, von der ich gerade gesprochen habe. Das geschah 1973 mit der globalen Rezession infolge des Ölpreisschocks. Das geschah 2008, und das geschah mit Covid . Aber in den letzten sechzig Jahren gab es nur diese viermal einen nachhaltigen Rückgang des globalen Ölverbrauchs.
Wenn wir uns also die erneuerbaren Energien ansehen, ist es klar, dass es einen Anstieg bei den erneuerbaren Quellen geben wird, insbesondere bei der Stromerzeugung. Es mag sein, dass der relative Anteil fossiler Brennstoffe an Dingen wie der Stromerzeugung sogar sinkt. Ich halte es aber für unwahrscheinlich, dass wir im Kapitalismus einen echten Rückgang von fossilen Brennstoffen erleben werden. In diesem Sinne ist der grüne Wandel ein Mythos. Er findet nicht statt – und sicherlich nicht in dem Tempo, das nötig wäre, um die schlimmsten Szenarien der Klimakatastrophe abzumildern.
Die Frage der KI und der enorme Energiebedarf, der für diesen Sektor erforderlich ist, bestätigen diesen Punkt eindeutig. Einige der Vorhersagen bezüglich des erhöhten Strom- und Wasserbedarfs für den Betrieb von Rechenzentren sind schockierend. Und ein zunehmender Anteil könnte aus Solar- und Windenergie (und Kernenergie) stammen. Dies macht es jedoch noch unwahrscheinlicher, dass wir einen Rückzug der Industrie von fossilen Brennstoffen erleben werden.
Die anderen Technologien, die Sie erwähnen, wie Wasserstoff und Speicherung von Kohlendioxid im Untergrund –(CCS) – diese sogenannten kohlenstoffarmen Lösungen – werfen eine ganze Reihe anderer Probleme auf, die ich in meinem Buch ausführlich bespreche. Kurz gesagt, ich glaube, dass es sich hierbei um falsche oder trügerische Lösungen handelt, die von den Ölkonzernen propagiert werden, im Wesentlichen, weil sie eine immer höhere Öl- und Gasproduktion ermöglichen. In diesem Sinne sind sie sogar noch gefährlicher als einige der Illusionen, dass erneuerbare Energieträger fossile Brennstoffe ersetzen könnten.
Neue Kohlenwasserstoffachse
CD: Ein weiteres wichtiges Argument des Buches betrifft die Bildung einer „ Ost-Ost-Kohlenwasserstoffachse“ zwischen dem Nahen Osten und Asien, an der – im Gegensatz zu Nordamerika und Westeuropa – riesige nationale Ölkonzerne und größtenteils konventionelle Ölressourcen beteiligt sind. Auch dieser Aspekt scheint übersehen worden zu sein, wobei der Schwerpunkt verständlicherweise auf den privaten westlichen Ölriesen (Exxon, Chevron, Shell, BP and TotalEnergie) und dem Verbrauch liegt. Kurz gesagt: Wann begann diese Ost-Ost-Kohlenwasserstoffachse Gestalt anzunehmen, und wie sollte sie unser Verständnis der globalen Industrie prägen?
AH: Wir müssen damit beginnen, Öl als entscheidendes Gut im globalen Kapitalismus zu verorten und die große Verlagerung eines Großteils der globalen Produktion nach China und Ostasien zur Kenntnis zunehmen, die in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat. Diese Verlagerung der globalen Produktion, von der ein Großteil für Märkte in Nordamerika und Westeuropa bestimmt ist, ging mit einem massiven Anstieg der Nachfrage nach Öl in Ostasien einher.
Der Anteil des chinesischen Ölverbrauchs beträgt heute rund 14 Prozent des weltweiten Ölverbrauchs. Er hat sich somit seit Anfang der 1990er Jahre verdreifacht. Damit liegt China beim weltweiten Ölverbrauch heute nur noch hinter den USA. Das ist der Hauptgrund, warum der weltweite Ölverbrauch heute rund 40 Prozent höher ist als 1995. China verfügt im Inland über große Ölvorräte, die jedoch nicht ausreichen, um diesen Bedarf zu decken. Daher musste der Bedarf durch Importe gedeckt werden. Diese Importe kamen und kommen vor allem aus den Golfstaaten des Nahen Ostens: Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und die anderen Monarchien am Golf.
Heute wird etwa ein Drittel des weltweit geförderten Öls in Ostasien verbraucht, und der Großteil davon wird importiert. Chinas Anteil an den weltweiten Ölimporten liegt mittlerweile bei über 20 Prozent. Das bedeutet, dass ein Fünftel der weltweiten Ölimporte allein nach China geht. Etwa 70 Prozent aller Rohölexporte aus dem Nahen Osten gehen nach Asien. Das ist es, was ich mit diesem Ost-Ost-Kohlenwasserstoffkreislauf meine.
Aber nicht nur Rohöl ist für diese Geschichte von Bedeutung. Um auf die Frage der Petrochemie zurückzukommen: Wir sehen auch, wie Produkte, die aus Öl erzeugt werden, aus dem Nahen Osten nach China und Ostasien wandern. Und wir sehen grenzüberschreitende Investitionen von großen Ölkonzernen in der Golfregion und von Öl- und Petrochemieunternehmen in China. Die Investitionen wandern praktisch zwischen den beiden Regionen hin- und her: Es gibt Joint-Venture Strukturen bei großen chinesischen Petrochemieunternehmen, die jetzt in saudischem Besitz sind oder zumindest teilweise saudischen Unternehmen gehören. Und so weiter. Wir können ähnliche Muster in Ostasien, insbesondere in Südkorea und Japan, beobachten.
Es ist wichtig, dies bei unserer Sicht auf die globale Lage zur Kenntnis zu nehmen. Die USA und Kanada sind große Ölproduzenten – die USA sind sogar der größte Ölproduzent der Welt. Aber der Großteil dieses nordamerikanischen Öls zirkuliert innerhalb Nordamerikas. Die Ölproduktion am Golf geht jetzt nach Osten.
Dies hat unter anderem die Stärkung der großen, mehrheitlich staatlichen oder nationalen Ölkonzerne mit Sitz im Nahen Osten bewirkt. Das herausragende Unternehmen hier ist „Saudi Aramco“, das saudi-arabische Staatsunternehmen. Es ist das mit Abstand größte Ölunternehmen der Welt. Sein Gewinn im letzten Jahr betrug etwa 121 Milliarden Dollar. Zählt man die Gewinne von ExxonMobil, Chevron, TotalEnergies, Shell und BP zusammen, übersteigt der Gewinn von Aramco den aller anderen zusammen. Es handelt sich also um ein riesiges Unternehmen. Und es ist nicht mehr nur ein Rohölproduzent. Es ist jetzt auch eines der größten Petrochemieunternehmen der Welt. Es ist ein bedeutender Betreiber von Ölraffinerien- und Öltankern. Es besitzt Anlagen zur Düngemittelproduktion. Aramco und die anderen großen Golfproduzenten sind also entlang der gesamten Wertschöpfungskette vertreten. Sie folgen demselben Muster der Downstream-Integration, dem die westlichen Ölgiganten im frühen und mittleren 20. Jahrhundert folgten. Das alles soll nicht heißen, dass die westlichen Unternehmen unwichtig sind. Sie sind nach wie ein entscheidender Faktor. Mein Hinweis auf sie ist eine ein Aufruf, die Vielfalt der heutigen Akteure in der globalen Ölindustrie zu erkennen.
USA, China und der Nahe Osten
CD : Wie können wir die Rolle des Öls im Kontext des globalen Militarismus verstehen und gleichzeitig die jüngsten erheblichen Verschiebungen in der Ölproduktion berücksichtigen, wobei Kanada einen größeren Anteil am US-Ölverbrauch hat und die OPEC-Importe ersetzt ?
AH Es gibt viele vereinfachende Narrative in Bezug auf Öl, den amerikanischen Imperialismus und den Nahen Osten. Die Vorstellung, dass die USA die Ölvorräte am Golf oder anderswo in der Region an sich reißen wollen, ist falsch. Das saudi-arabische Öl gehört Saudi-Arabien und wird von Saudi-Arabien produziert. Die USA haben nicht die Absicht, sich dieses Öl anzueignen. Der andere Mythos ist, dass die USA von Öl aus der Region abhängig sind. In Wirklichkeit sind die USA der größte Ölproduzent der Welt: Sie brauchen keine Ölimporte aus dem Nahen Osten.
Das heißt aber nicht, dass der Nahe Osten und sein Öl für den amerikanischen Imperialismus nicht von großer Bedeutung sind. Ich glaube nicht, dass wir den Völkermord im Gazastreifen heute oder die entscheidende Rolle des Nahen Ostens in den geopolitischen Ambitionen der USA verstehen können, ohne die Rolle Öls als zentraler Faktor zu berücksichtigen. Das ist seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall. Die USA wurden parallel zum Aufstieg des Öls zum wichtigsten fossilen Brennstoff zur führenden kapitalistischen Macht weltweit. Diese beiden Entwicklungen im Weltsystem waren miteinander verbunden und begünstigten sich gegenseitig – und der Nahe Osten war der entscheidende Schmelztiegel in diesem Prozess, wie ich in meinem Buch ausführlich darlege.
Heute ist der Aufstieg Chinas und die relative Erosion der amerikanischen Macht eng mit der Bedeutung des Nahen Ostens für den US-Imperialismus verknüpft. Aufgrund der Abhängigkeit Chinas vom Öl des Nahen Ostens und aller damit verbundenen Ölderivate und chemischen Produkte gibt es eine wachsende politische wie wirtschaftliche Verbindung zwischen China und der gesamten Nahost-Region. Angesichts der Verstärkung des chinesischen Einflusses in der Region versuchen die USA ihre frühere Vormachtstellung im Nahen Osten z.B. durch Allianzen mit den Golfmonarchien, wiederherzustellen.
Sollten die USA beispielsweise jemals Sanktionen gegen China verhängen wollen, wird eine Schlüsselfrage sein, woher China sein Öl bezieht und wie es den Zugang zu den Ölvorräten des Nahen Ostens sicherstellen kann. Von Bedeutung wird auch die Frage der Währung sein, in der China seinen Handel abwickelt sowie insgesamt die Rolle des US-Dollars im globalen Finanzsystem. Einer der Wege wie Russland aktuell versucht, die Sanktionen der NATO Staaten zu umgehen, ist dass es versucht seinen Handel mehr in Renminbi (chinesischer Yuan) abzuwickeln. China versucht aktuell, den Ölhandel mit den Golfstaaten künftig in Renminbi statt in US-Dollar abzuwickeln. Im Fall von US-Sanktionen oder einer Verschärfung des Konflikts zwischen den USA und China wäre das sicher von großer Bedeutung. Wir müssen in diesem Zusammenhang auch an die riesigen Mengen an Petrodollars denken, die sich mittlerweile in den Golfstaaten angesammelt haben – wir sprechen hier von Billionen von Dollar. Wo diese Mittel investiert werden und welche Rolle sie bei der Stützung des US-Dollars spielen, ist dabei ein wirklich von großer Bedeutung. .
Um auf die umfassendere Geopolitik der Region zurückzukommen: Historisch gesehen hatten die USA im Nahen Osten zwei große Einfluss- und Machtsäulen. Die eine waren Saudi-Arabien und die Golfmonarchien, die zweite war Israel, insbesondere nach dem Krieg von 1967. In den letzten Jahrzehnten haben die USA versucht, diese beiden Säulen zusammenzubringen: die Beziehungen zwischen den Golf-Staaten und Israel unter amerikanischer Hegemonie zu normalisieren. Das ist ihnen in erheblichem Maße gelungen. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben die Beziehungen zu Israel normalisiert, ebenso Bahrain. Saudi-Arabien hat offen erklärt, dass es dazu bereit wäre, wenn es eine Einigung in der Palästinafrage gäbe. Diese beiden Säulen amerikanischer Macht bleiben also absolut entscheidend dafür, ob die USA ihre Dominanz im Nahen Osten wiederherstellen können.
Dies ist letztlich der Grund, warum die USA Israel und seinen Krieg gegen das palästinensische Volk und mittlerweile auch in der gesamten Region weiterhin finanzieren, unterstützen und fördern. Dies ist ein Versuch, die amerikanische Macht angesichts der Rivalitäten, die wir weltweit entstehen sehen, wiederherzustellen. Der Nahe Osten ist aufgrund der anhaltenden zentralen Bedeutung des Öls für den Kapitalismus ein so wichtiger Teil dieses globalen Bildes.
James Wilt ist ein in Winnipeg ansässiger Doktorand und freiberuflicher Autor. Sein neuestes Buch trägt den Titel Dogged and Destructive: Essays on the Winnipeg Police.