Zwischen Realität und Utopie

Gaza - Bild Hosny Salah

Was bedeutet es, Palästinenser zu sein – in einer Welt, die dein Leid ignoriert und deine Existenz infrage stellt? Zwischen Verlust, Widerstand und der Kraft des Sumud erzählt dieser sehr persönliche Text von Abed Hassan, Initiator von United4Gaza, von einem Leben im Kampf um Würde und Wahrheit.

Was es wirklich bedeutet, Palästinenser zu sein, lässt sich kaum in Worte fassen. Ich habe sehr früh in meinem Leben gespürt, dass ich benachteiligt bin. Ich musste kämpfen – jeden Tag, um meine Existenz, um das Alltägliche. Ich wusste: Wenn ich für meine Rechte eintrete, riskiere ich Gefangenschaft oder sogar den Tod.

In Deutschland habe ich oft erlebt, dass Palästina als Totschlagargument benutzt wird. Reflexartig hieß es: „Palästina sei kompliziert“, das Thema habe hier keinen Platz. Sport und Schule müssten unpolitisch bleiben – nur um später festzustellen, dass bei anderen Themen sehr wohl politisch diskutiert wird.

Ich bin als Kind mit einem Dokument aufgewachsen, auf dem „staatenlos“ stand. Auf den wenigen Reisen nach Gaza musste ich mit meiner Mutter auf der Straße schlafen, tagelang an Checkpoints warten und hoffen, dass wir nicht zurückgeschickt würden, weil Besatzungssoldaten die Grenze nach Gaza geschlossen hatten.

In Deutschland musste ich um meine Anerkennung kämpfen. Wenn ich in der Schule wegen der Kriege in Gaza weinte, wegen der Angst um meine Familie, bekam ich keinen Trost. Stattdessen wurden meine Verwandten als Terroristen beschimpft. Ich musste mir anhören, dass wir Palästinenser angeblich an allem schuld seien und dass wir das Leid, das uns widerfährt, „verdient“ hätten. Ich sollte meine Identität ablegen, weil Rassismus und Vorurteile allgegenwärtig waren. Ich wusste früh, dass ich in dieser Gesellschaft nie die gleichen Rechte haben würde wie andere.

Palästinenser zu sein heißt für mich, Genozid zu überleben. Es heißt, dem Tod mehrmals knapp zu entkommen, Leichen vor meinen Augen zu sehen, mitzuerleben, wie ein Krankenhaus in der Nachbarschaft bombardiert wird – und gleichzeitig zu erfahren, dass meine deutschen Freunde eher der israelischen Militärpropaganda aus den Nachrichten glaubten als mir, dem Augenzeugen.

Palästinenser zu sein heißt, die Hölle zu erleben: zu hungern, an Krankheiten oder unter Bomben zu sterben, während die sogenannte freie Welt darüber diskutiert, ob das alles „verhältnismäßig“ sei. Akzeptiert werde ich nur, wenn ich das stille Opfer bleibe, mich füge, Mitleid ertrage – ohne dass jemand bereit ist, mit mir für Gerechtigkeit zu kämpfen.

Ich sehe, wie aus Opfern Täter gemacht werden und aus Tätern Opfer. Ich muss auf jedes gesprochene Wort achten, damit ich nicht auch noch im Exil meine Lebensgrundlage verliere. Ich weiß, dass ich jeden Tag kämpfen muss, dass ich jeden Tag aufs Neue etwas verliere – und dass es für mich keine Sicherheit gibt.

Ich bin gezwungen, mich zu entscheiden: Entweder ich kämpfe für mich, meine Familie und mein Volk, um in Würde und Freiheit zu leben – oder ich verleugne meine eigene Existenz und Kultur, um in einer verlogenen, ungerechten Scheinwelt überhaupt atmen zu dürfen. Doch tief in mir weiß ich: In Wahrheit gibt es keine Wahl. Wer an der Wahrheit festhält und Standpunkte vertritt, riskiert alles.

Und trotzdem bedeutet es für mich, Palästinenser zu sein: standhaft zu sein, stark zu sein, Sumud – Beständigkeit – zu leben. Seit zwei Jahren erleben wir einen Genozid, seit über 77 Jahren eine Besatzung, seit fast einem Jahrhundert die Entrechtung unseres Landes. Und trotzdem: Meine Stimme, unsere Stimmen sind lauter denn je.

Der Genozid tut mir weh. Sehr weh. Ich habe die Hälfte meines engen Freundeskreises verloren. Einige meiner liebsten Tanten mit ihren Kindern wurden ermordet. Viele Menschen, die ich liebte, wurden mir entrissen. Doch ich habe keine Zeit zu trauern. Ich kämpfe, solange ich kann, für meine Rechte – bis die Welt sich endlich bewegt.

Ein Beitrag von Abed Hassan, Initiator von United4Gaza in Deutschland. Er war zu Beginn des Genozids selbst in Gaza bei seiner Familie.

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