Karl Marx schrieb im Maschinenfragment über die Verdrängung menschlicher Arbeit durch Maschinen. Im Licht der KI-Entwicklungen der letzten Jahre scheinen seine Überlegungen aktueller denn je.
Das Ende des Kapitalismus gestaltet sich folgendermaßen: Er wird mit der proletarischen Revolution begraben. Dieser Gedanke dürfte allen, die sich schon einmal mit Kapitalismuskritik und Marx auseinandergesetzt haben, bekannt vorkommen. Denn hierbei handelt es sich um die klassische marxistische Argumentation, die sich auch etwa im Manifest der kommunistischen Partei findet.
Im Maschinenfragment, einem Text aus Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, der Vorarbeit zum Kapital, beschreibt Marx eine weitere Möglichkeit, wie das Gesellschaftssystem zu Grunde gehen kann: Durch immer besser werdende Maschinen zerstört sich der Kapitalismus zunehmend von innen heraus. Nimmt man diese Überlegung als Ausgangspunkt, lassen sich einige Schlüsse über die Auswirkungen von KI auf unsere Produktionsweise ziehen. Das taten Nick Dyer-Witheford, Atle Mikkola Kjøsen und James Steinhoff 2019 in ihrem Buch Inhuman Power ausführlich. Derzeitige Entwicklungen fordern jedoch eine Aktualisierung ihrer Thesen.
Die Maschine als Subjekt
Der zentrale Punkt im Maschinenfragment ist, dass Arbeiterinnen/Arbeiter und Maschinen ihre Rolle im Produktionsprozess tauschen. Letztere stellen nun den Mittelpunkt, das Subjekt, dar. Soll heißen: Die Arbeit, die nötig ist, um ein Produkt herzustellen, wird hauptsächlich von Maschinen ausgeführt. Probleme resultieren nun aus folgendem Grundsatz der marxistischen Theorie: Nur menschliche Arbeit schafft Wert.
Warum das so ist, ist eine komplexe Frage, deren Beantwortung man sich aus verschiedenen Richtungen nähern kann. Für das Verständnis des Maschinenfragments macht Inhuman Power den folgenden Aspekt stark: Der Kapitalismus kann nur funktionieren, wenn die Klasse der Arbeiterinnen Produkte, die sie selbst produziert hat, von dem Lohn kauft, den die Kapitalistinnen ihnen zahlen. Stehen in einer Fabrik nur noch Maschinen, die alles allein produzieren und keine Menschen mehr, gibt es zwar niemanden, dem die Kapitalistinnen Lohn zahlen müssen – aber auch niemanden, der einen Lohn erhält, um die Produkte kaufen zu können. Der Kapitalkreislauf wird damit durchbrochen, das System fällt in sich zusammen.
„Es muss eine Menge an wissenschaftlicher Arbeit von sehr vielen Menschen geleistet werden, bevor eine Maschine gebaut werden kann.„
Marx drückt das folgendermaßen aus: Weil keine menschliche Arbeit mehr im Produkt vorhanden ist, schwindet der Wert der Waren. Bevor es jedoch so weit kommen kann, müssen die Produktionsmittel eine „Metamorphose“ durchlaufen, an deren Ende ein „automatisches System der Maschinerie“ steht. Zentral ist hierfür die Entwicklung des general intellect. Kurz gesagt handelt es sich dabei um allgemein zugängliches, gesellschaftlich erarbeitetes Wissen. Marx bezieht dieses wieder auf Maschinen – weil eine Menge an wissenschaftlicher Arbeit von sehr vielen Menschen geleistet werden muss, bevor eine Maschine gebaut werden kann.
Als Marx zwischen 1857 und 1858 diese Zeilen schrieb, befand er sich in der Zeit der (Weiter-)Entwicklung von Dampfmaschine, Eisenbahn oder mechanischem Webstuhl. Vergleicht man das mit der Technik, die man heute in modernen Fabriken findet, wird klar, dass der Anteil menschlicher Arbeit noch einmal radikal zurückging. In vielen Bereichen übernehmen nun hochentwickelte Roboter einen Großteil des Produktionsprozesses. Die Tätigkeit einer Arbeiterin in einer solchen Fabrik gestaltet sich nun tatsächlich so, dass sie die Maschinen – wie Marx bereits im 19. Jahrhundert schrieb – „überwacht und sie vor Störungen bewahrt“. Im Gegensatz zu seiner Schlussfolgerung hat sich der Kapitalismus bis jetzt nicht selbst erledigt. Trotz enormer Automatisierungsschübe ist menschliche Arbeit noch immer zentral für unsere Produktionsweise.
Neues Level der Automatisierung
Bei KI-Automatisierung handelt es sich nun jedoch, zumindest der Ansicht einiger Expertinnen nach, um ein völlig neues Level, wie auch in Inhuman Power beschrieben wird. Maschinen und Roboter beherrschen schon lange die Fabriken, die Arbeit einer Journalistin oder eines Juristen kann heute noch keine KI übernehmen. In den letzten Jahren war deshalb stets klar, dass KI noch weiterentwickelt werden muss, bis kognitive Arbeiten auf einem Level automatisiert werden können, wie es für manuelle bereits möglich ist. Dafür müsste die Technologie zuerst, laut Dyer-Witheforde und Co., als means of cognition (dt. etwa Wahrnehmungsmittel) zum Teil der allgemeinen Produktionsbedingungen werden, etwa so wie unsere Transport- oder Kommunikationsmittel. Aufgrund aktueller Durchbrüche, wie ChatGPT, ergibt sich die Notwendigkeit, kritisch zu überprüfen, in welchem Stadium dieser Entwicklung wir uns bereits befinden.
Als Datengrundlage für GPT-3.5, das Modell, welches aktuell noch für das kostenlos zugängliche Chatprogramm verwendet wird, dienen Bücher, Online-Texte und die gesamte Wikipedia. Man könnte auch sagen: Unser general intellect. Natürlich hält OpenAI, die Firma hinter der KI, keine Rechte an diesem gesellschaftlich erarbeiteten Wissen inne. Obwohl ChatGPT ursprünglich als Open Source und Non-Profit entwickelt wurde, wird die Software mittlerweile von der For-Profit-Firma OpenAI LP kontrolliert. Früher oder später wird sie profitabel für das Kapital; etwa, wenn Microsoft sie zukünftig für seine Bing-Suchmaschine einsetzt. Dafür soll GPT-4 verwendet werden, welches OpenAI Mitte März vorstellte. Dieses neue Modell zeichnet sich vor allem durch verbessertes Abschneiden in verschiedenen akademischen Disziplinen aus und kann nun auch Bild-Input verarbeiten.
Eine explosionsartige Verbreitung von KI
Dass für das Überwachen und Trainieren der Modelle noch immer eine Menge menschlicher Arbeit notwendig ist, ist ein wichtiger Aspekt, der verdeutlicht, dass die KI noch nicht das Subjekt im Produktionsprozess geworden ist. Arbeiterinnen und Arbeiter durch KI ersetzen zu lassen, ist meist noch nicht möglich oder schlichtweg nicht profitabel. Doch die KI-Modelle werden gerade in rasanter Geschwindigkeit weiterentwickelt – und das nicht nur von OpenAI. Wir befinden uns inmitten einer Phase, in der sie explosionsartig Einzug in die verschiedensten Bereiche unseres Lebens erhalten.
ChatGPT ist bei Weitem nicht fehlerfrei. Jedoch hat das Programm bereits jetzt einen riesigen Nutzen, sei es beim Programmieren, als Hilfe zum Recherchieren oder bei der Bearbeitung der Hausaufgaben. Folgt man Inhuman Power, muss KI flächendeckend angewandt werden, um zu means of cognition aufzusteigen. Einiges spricht gerade für eine Entwicklung hin zu den großen Verbesserungen der KI, die notwendig sind, um Marx’ Prognose Wirklichkeit werden zu lassen.
„KI fungiert als Werkzeug des Kapitals. Damit sie zur Chance für die Emanzipation der Arbeiterklasse wird, müssen wir aktiv für höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten kämpfen.„
In einer Produktionsweise, in der die Akkumulation von Kapital nicht an erster Stelle steht, wäre die Verdrängung menschlicher Arbeit nichts Schlechtes, weil so eine Verringerung unserer Arbeitszeit erreicht werden könnte. Dieser Punkt nimmt auch eine eindrückliche Rolle im Maschinenfragment ein: Marx beschreibt, wie sich eine Zukunft gestalten würde, in der der Kapitalismus zusammengebrochen ist, Arbeiterinnen und Arbeiter mehr Freizeit haben und ihren Interessen nachgehen können. Die Maschinen haben in dieser postkapitalistischen Welt nämlich noch immer ihren Gebrauchswert – KI, also unser gemeinsam erarbeiteter general intellect, könnte dafür eingesetzt werden, uns allen das Leben zu erleichtern.
Profite gehören der Allgemeinheit!
Szenarien, die thematisieren, dass KI Bewusstsein erlangt oder sich gegen die Menschheit richtet, verschleiern die relevanten Diskurse. Was wir brauchen, ist eine materialistische Analyse. Die Technologie fungiert aktuell als Werkzeug des Kapitals. Damit sie zur Chance für die Emanzipation der Arbeiterklasse wird, müssen wir aktiv für höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten kämpfen. Wichtig ist, dass die Produktionsmittel demokratisiert und vergesellschaftet werden. Profite gehören, wie unser gesellschaftlich erarbeitetes Wissen, der Allgemeinheit und nicht den Konzernen. Die Profiteure des Systems werden ihren Reichtum nicht kampflos aufgeben. Wir müssen uns noch immer selbst befreien – auch wenn vieles darauf hindeutet, dass sich der Kapitalismus von innen angreift.
Lea Klingberg studiert Medienwissenschaft in Bonn und ist seit 2018 im SDS organisiert. Ihre Hausarbeiten schreibt sie nicht mit, sondern über ChatGPT.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der critica Nr. 30 – Semesterzeitung von Die Linke.SDS.