Drei Monate nach dem Sturz des Assad-Regimes steht Syrien an einem prekären Scheideweg. Während die anfängliche Euphorie verblasst, sieht sich die neue Führung mit zunehmenden wirtschaftlichen Turbulenzen, einem dringenden Bedarf an politischen Reformen und der Last der Übergangsjustiz konfrontiert. Wird Syriens zerbrechliche neue Regierung diese Herausforderungen meistern, um einen stabilen, integrativen Staat wieder aufzubauen – oder werden Fehltritte das Land in ein noch tieferes Chaos stürzen? In dieser ausführlichen Analyse werden die kritischen Entscheidungen, welche die Zukunft Syriens bestimmen werden, aufgeschlüsselt.
Hinweis: Dieser Artikel basiert auf Informationen, Daten
und Nachrichten mit Stand vom 10. März 2025.
Drei Monate sind seit dem Sturz des Assad-Regimes in Syrien vergangen – ein Zeitraum, der zu kurz ist, um greifbare Ergebnisse vor Ort zu erwarten, aber lang genug, um die anfängliche Welle der naiven Euphorie abklingen zu lassen. Es ist auch der richtige Zeitpunkt, um damit zu beginnen, kritische Fragen zu stellen und die ersten Schritte der neuen syrischen Behörden genau zu bewerten, bevor sich das Zeitfenster für einen sinnvollen Wandel zu schließen beginnt.
In diesem Artikel werden die Schlüsselfragen umrissen, anhand derer der Erfolg oder Misserfolg der neuen Führung letztlich beurteilt werden wird. Dabei werden die Faktoren hervorgehoben, die Syrien in die derzeitige Krise geführt haben, während gleichzeitig die Erwartungen und Prioritäten des syrischen Volkes angesprochen werden. Für ein tieferes Verständnis dieser Themen im breiteren politischen Kontext wird den Lesern empfohlen, unseren früheren Artikel über die Baath-Partei in Syrien zu lesen.
Souveränität und Sicherheit
Ein Grundpfeiler für den erfolgreichen Wiederaufbau des syrischen Staates ist die Wiedervereinigung des Landes unter einer einzigen, zentralisierten Behörde in Damaskus mit einer nationalen Armee, die unter dem Kommando des Staates operiert. Für eine dauerhafte Stabilität ist es unerlässlich, dass nur der Staat über ein organisiertes Militär verfügt, das die Aufgabe hat, alle Syrerinnen und Syrer zu schützen – andernfalls wäre jede erreichte Stabilität brüchig und vorübergehend.
Die Komplexität dieses Themas ergibt sich aus der Beteiligung zahlreicher Akteure. Auf lokaler Ebene gehören dazu die SDF-Milizen, die derzeit einen erheblichen Teil des syrischen Territoriums kontrollieren. Diese Gebiete, die reich an natürlichen Ressourcen sind, sind für die syrische Wirtschaft, insbesondere für den Ölsektor, von entscheidender Bedeutung. Ohne die Wiedererlangung der Kontrolle über diese Ressourcen wären die syrischen Ölreserven praktisch nicht mehr vorhanden.
Am 10. März 2025 unterzeichneten der syrische Übergangspräsident Ahmed al-Sharaa und der Oberbefehlshaber der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), Mazloum Abdi, ein Abkommen zur Integration aller zivilen und militärischen Einrichtungen im Nordosten Syriens in die Verwaltung des syrischen Staates. Dazu gehören wichtige Infrastrukturen wie Grenzübergänge, der Flughafen sowie Öl- und Gasfelder. Es wird erwartet, dass das Abkommen, sofern es vollständig umgesetzt wird, einen entscheidenden Schritt zur Wiedervereinigung Syriens darstellt und gleichzeitig die Rechte aller Bürger schützt, die nationale Souveränität bewahrt, die Streitkräfte unter dem Kommando von Damaskus konsolidiert und die territoriale Integrität gewährleistet. Unter den Syrern ist die Hoffnung weit verbreitet, dass sich beide Seiten an das Abkommen halten und seine Bestimmungen in die Tat umsetzen werden, insbesondere die bedingungslose Integration der SDF-Kämpfer als Einzelpersonen – und nicht als Block – in die syrische Armee unter einem einheitlichen zentralen Kommando in Damaskus. Die Einheit der Streitkräfte wird als eine nicht verhandelbare souveräne Angelegenheit und als Grundvoraussetzung für jeden sinnvollen Fortschritt im Land angesehen.
Während es angemessen und notwendig ist, in der neuen Verfassung kulturelle Rechte, bürgerliche Freiheiten und gleiche Staatsbürgerschaft für alle Syrer zu garantieren, wird gleichwohl die Idee, einer bewaffneten Gruppierung, nicht nur den SDF, ein gewisses Maß an Unabhängigkeit bei militärischen Entscheidungen zu gewähren, als inakzeptabel angesehen. Ein solches Szenario würde das Konzept eines souveränen Staates effektiv zerstören und ausländischen Mächten die Tür öffnen, um interne bewaffnete Allianzen zu fördern, wodurch Syrien ohne echte Souveränität dastünde. Zahlreiche Beispiele aus dem Libanon, dem Irak, Libyen und dem Sudan zeigen die Gefahren solch fragmentierter militärischer Strukturen. Dieses Modell vorzuschlagen, würde darauf hinauslaufen, den politischen Übergang in Syrien vorzeitig zu sabotieren.
Die Zukunft Syriens muss als einheitlicher, souveräner Staat bestehen. Jegliche Vorschläge, die militärische Teilungen, bewaffnete Fraktionen, die außerhalb der staatlichen Autorität operieren oder politische Machtanteile auf der Grundlage von Identitäten vorsehen, müssen kategorisch abgelehnt werden. Syrien kann es sich nicht leisten, ein weiterer Irak oder Libanon zu werden. Wie Dr. Azmi Bishara in einem Interview über die Zukunft Syriens treffend formulierte: „Die Regel muss sein, dass niemand aufgrund seiner Identität von der politischen Teilhabe ausgeschlossen wird – aber niemandem sollte die Teilhabe allein aufgrund seiner Identität garantiert werden.“
Eine weitere entscheidende Herausforderung für die nächste syrische Führung wird darin bestehen, die volle Kontrolle über alle militärischen Gruppierungen zu erlangen, sicherzustellen, dass sie strikt im Rahmen einer einheitlichen nationalen Armee operieren, und alle ausländischen Kämpfer von syrischem Boden zu vertreiben. Fraktionszwang ist grundsätzlich unvereinbar mit der Professionalität und Disziplin, die in einer nationalen Armee unter staatlicher Autorität erforderlich sind.
Das jüngste Blutvergießen an der syrischen Küste hat die Gefahren des Faktionalismus drastisch vor Augen geführt und die Unfähigkeit Ahmad al-Sharaas verdeutlicht, die unter seinem Kommando operierenden Kräfte zu zügeln. Auch wenn die genaue Zahl der zivilen Opfer noch ungewiss ist, gehen die meisten unabhängigen und zuverlässigen Quellen davon aus, dass die Zahl der Opfer in die Hunderte geht und damit die Zahl der Toten unter den Überresten des früheren syrischen Regimes übersteigt. Dies kann nicht länger als eine Reihe isolierter Fehler abgetan werden, sondern deutet vielmehr auf ein Systemversagen hin, wenn bewaffnete Gruppierungen in der Region unkontrolliert bleiben. Noch besorgniserregender wäre es, wenn diese Aktionen nicht nur das Ergebnis individueller oder struktureller Unzulänglichkeiten wären, sondern vom Staat gebilligt würden – eine Frage, die nur die Zeit beantworten wird.
Die außerordentlich hohe Rate so genannter „individueller Verstöße“ einiger Kämpfer – Verstöße, die nicht mehr als Einzelfälle entschuldigt werden können – macht deutlich, dass sich viele dieser Personen immer noch als irreguläre Kämpfer und nicht als disziplinierte Soldaten verstehen, und zeigt ein strukturelles Problem in den neuen Streitkräften auf. In der Vergangenheit war es den Offizieren der syrischen Armee beispielsweise verboten, religiöse Symbole, Slogans oder Zugehörigkeiten jeglicher Art zu zeigen. Dieser Grundsatz wurde jedoch ausgehöhlt, nachdem iranische Elemente in die Struktur der Armee eingegliedert wurden. Heute hat es den Anschein, dass die neue Militärführung diese Protokolle völlig missachtet und den Soldaten erlaubt, religiöse Symbole und Zugehörigkeiten öffentlich zu zeigen. Dies beeinträchtigt das Image der Armee als nationale Institution und vermittelt stattdessen eine konfessionelle Identität – was die Bemühungen um die Integration aller ethnischen und religiösen Gruppen in das künftige syrische Militär erheblich behindern wird.
Neben den internen Herausforderungen muss sich Syrien auch mit den zunehmenden Übergriffen Israels auf sein Territorium auseinandersetzen. Dies könnte sich angesichts der derzeitigen extremen Schwäche des syrischen Staates – militärisch, wirtschaftlich und politisch – als die schwierigste Aufgabe erweisen. Syrien ist nicht in der Lage, die Bedingungen des Rückzugabkommens von 1974 durchzusetzen, gegen das Israel wiederholt verstoßen hat. Tatsächlich baut Israel weiterhin militärische Stellungen innerhalb Syriens auf und verstärkt sie mit einer Infrastruktur, welche die Absicht signalisiert, eine langfristige Präsenz aufrechtzuerhalten. Dies ist Teil einer umfassenderen Strategie, die darauf abzielt, bereits unterzeichnete Abkommen an neue Bedingungen zu knüpfen und dabei die Schwäche Syriens und die passive Akzeptanz der israelischen Verstöße – einschließlich Besetzung, Tötungen, Landnahme und anderer Verstöße gegen das Völkerrecht – durch die internationale Gemeinschaft auszunutzen.
Schließlich ist es von entscheidender Bedeutung, die Souveränität Syriens gegenüber allen externen Akteuren zu schützen – insbesondere gegenüber denjenigen, die am Wiederaufbau des Landes beteiligt sind oder denjenigen, die die derzeitige Regierung seit langem unterstützen, wie etwa die Türkei. Die Verhinderung der Bildung von bewaffneten Gruppen außerhalb des nationalen Militärs darf ebenfalls nicht verhandelbar sein. Die Wahrung der Souveränität und territorialen Integrität des Staates ist eine Grundvoraussetzung für die Sicherung der Unabhängigkeit und langfristigen Stabilität Syriens.
Politischer Übergang
Die Frage des politischen Übergangs und der friedlichen Machtübergabe ist eines der dringendsten und sensibelsten Themen für die Syrer, insbesondere angesichts der Belastung durch die Ära Assad. Deshalb müssen die derzeitigen Übergangsbehörden mit äußerster Vorsicht vorgehen, denn schon die kleinste Fehleinschätzung könnte den Eindruck von Gleichgültigkeit erwecken und die Befürchtung schüren, dass ein autoritäres Regime lediglich durch ein anderes ersetzt wird. In Anbetracht der Schwere dieser Angelegenheit muss jede Entscheidung sorgfältig geprüft werden, und es sollten keine Erklärungen abgegeben oder Maßnahmen ergriffen werden, die nicht gut durchdacht sind, den Erfordernissen des Augenblicks entsprechen und die Bestrebungen des syrischen Volkes widerspiegeln. Es ist zwar unrealistisch, alle Fehler zu vermeiden, aber es ist wichtig, vermeidbare und naive Fehler zu vermeiden. Der pragmatischste Ansatz besteht darin, die Erfahrungen mit dem demokratischen Übergang in anderen Ländern zu untersuchen, insbesondere in Ländern mit einem ähnlichen demografischen und kulturellen Kontext. Auch wenn viele solcher Übergänge gescheitert sind, lassen sich doch wertvolle Lehren aus diesen Fehlschlägen ziehen.
Eine wichtige Säule eines erfolgreichen demokratischen Übergangs ist das Engagement aller Fraktionen für die Stärkung des Staates und nicht für seine Zersplitterung. Politische Differenzen müssen so gehandhabt werden, dass sie keine existenzielle Bedrohung für das Land darstellen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass katastrophale Entscheidungen hingenommen werden, nur um einen Konflikt zu vermeiden, denn ein solches Vorgehen würde langfristige Folgen haben. Stattdessen müssen sich alle Parteien potenzieller Fehltritte bewusst sein, sie frühzeitig angehen und radikale oder extremistische Reaktionen vermeiden, insbesondere in einer fragilen Phase, in der schon geringe Instabilität zum Zusammenbruch des Staates führen könnte.
Diese Sichtweise deckt sich mit den Erkenntnissen des palästinensischen Intellektuellen Azmi Bishara, der argumentiert hat, dass die Festlegung eines theoretischen Rahmens für den demokratischen Übergang aufgrund der zahlreichen Einflussfaktoren zwar schwierig ist, das wesentliche Ziel jedoch darin besteht, eine klare Vision zu entwickeln und die staatliche Stabilität zu gewährleisten. In ähnlicher Weise betonte der amerikanische Politikwissenschaftler Dankwart Rustow, dass die nationale Einheit eine Grundvoraussetzung für die Demokratie sei und nicht allein die wirtschaftlichen oder sozialen Bedingungen.
Diese Ideen unterstreichen die Bedeutung des menschlichen Handelns bei demokratischen Übergängen neben strukturellen Faktoren wie wirtschaftlichen und bürokratischen Grundlagen. Die Syrer wissen, dass der Aufbau eines bürokratischen Staates, der ein pluralistisches politisches System und Wahlen unterstützen kann, ein langfristiger Prozess ist. Das Fehlen eines klaren, detaillierten Plans mit einem konkreten Zeitplan könnte jedoch katastrophale Folgen haben. Die Vorlage eines solchen Plans zu verzögern – nicht nur durch vereinzelte Erklärungen einzelner Personen, sondern in Form eines offiziellen Fahrplans – ist eine der unverantwortlichsten Maßnahmen, die die Übergangsregierung ergreifen kann.
Mit der Zeit droht diese Verzögerung Frustration bei einer Öffentlichkeit hervorzurufen, die bisher bemerkenswert geduldig und verantwortungsbewusst geblieben ist. Einer der größten Fehltritte der Übergangsregierung war ihr vertrauen in Ernennungen statt Repräsentation bei der Gestaltung ihrer Vision für ein demokratisches Syrien. Während die politische Homogenität anfangs als notwendige Maßnahme zur Vermeidung von Chaos akzeptiert worden sein mag, wird die Unzufriedenheit der Öffentlichkeit wahrscheinlich wachsen, wenn Schlüsselpositionen, die die Zukunft des Staates bestimmen, weiterhin durch Ernennung statt durch demokratische Auswahl besetzt werden. Die Behörden argumentieren zu Recht, dass Syrien derzeit nicht über die notwendige Infrastruktur für eine demokratische Regierungsführung verfügt und dass überstürzte Wahlen mehr schaden als nützen könnten. Dies rechtfertigt jedoch nicht, dass ernannte Personen – die von einer De-facto-Behörde ausgewählt werden – langfristige Entscheidungen treffen dürfen, die die politische Zukunft Syriens gestalten werden. Stattdessen muss sich die Interimsregierung auf eine übergangsweises Regieren konzentrieren und darauf hinarbeiten, repräsentative Gremien zu bilden, welche die vielfältige syrische Gesellschaft wirklich widerspiegeln und sicherstellen, dass sowohl zivile als auch säkulare Oppositionsgruppen eine sinnvolle Beteiligung haben.
Die Behörden in Damaskus müssen dringend einen umfassenden und detaillierten politischen Übergangsplan mit einem klaren Zeitplan vorlegen. Dieser Plan sollte sich mit den bürokratischen und wirtschaftlichen Herausforderungen befassen und gleichzeitig gewährleisten, dass alle Syrer, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes, an künftigen Wahlen im Rahmen eines transparenten und rechenschaftspflichtigen Prozesses teilnehmen können. Darüber hinaus muss die Übergangsregierung ihren vorläufigen Status anerkennen und entsprechend handeln, indem sie von langfristigen politischen Änderungen in Bereichen wie dem Bildungswesen absieht, für die sie nicht die rechtmäßige Befugnis besitzt.
Die Konferenz über den nationalen Dialog am 25. Februar 2025 wurde kurzfristig einberufen, um die äußerst komplexen Probleme Syriens an einem Tag zu behandeln. Das Ergebnis war nicht mehr als eine Reihe von unverbindlichen Empfehlungen, die die Teilnehmer tief enttäuscht zurückließen. Alle bestehenden politischen Parteien wurden aufgelöst, und die Gründung neuer Parteien wurde verboten – ohne ein alternatives Parteiengesetz vorzustellen. Die Teilnehmer wurden ausschließlich als Einzelpersonen eingeladen, ohne dass organisierte politische Parteien oder einflussreiche zivile Organisationen sinnvoll vertreten waren. Der gesamte Prozess war überstürzt, und das Endergebnis bot keine verbindlichen Lösungen.
Übergangspräsident Ahmed Al-Sharaa ernannte einen siebenköpfigen Ausschuss, dem auch zwei Frauen angehörten, um eine Verfassungserklärung für den politischen Übergang in Syrien auszuarbeiten. Der Entwurf wurde jedoch nur wenige Stunden nach seiner Ankündigung veröffentlicht und löste breite Kritik aus. Viele warfen dem Prozess vor, rein symbolisch zu sein, da die Verfassung bereits vorformuliert sei. Zu den umstrittenen Bestimmungen gehörte, dass der Präsident Muslim sein muss und dass er die Befugnis erhält, Parlamentsmitglieder zu ernennen. Der Entwurf sieht auch vor, dass Parteien bis zur Verabschiedung eines neuen Parteiengesetzes nicht mehr aktiv sein dürfen, was Bedenken hinsichtlich der Zukunft des politischen Pluralismus in Syrien weckt.
Übergangsjustiz
Die Folgen der Unterdrückung unter dem früheren Regime haben die Übergangsjustiz in Syrien zu einem äußerst sensiblen Thema gemacht, das von der öffentlichen Forderung nach Rechenschaftspflicht und Gerechtigkeit angetrieben wird. Die weit verbreitete Forderung nach einer strafrechtlichen Verfolgung der Verantwortlichen für die Verbrechen der Vergangenheit wird durch die Besorgnis über mögliche persönliche Racheakte verstärkt, die angesichts der anhaltenden Instabilität und des Fehlens staatlicher Autorität in vielen Regionen schwer zu kontrollieren sind. Trotz der Dringlichkeit und Komplexität des Themas haben die derzeitigen Behörden wichtige Aspekte des Prozesses falsch gehandhabt. Ein bedeutender Fehler war die unkoordinierte Massenentlassung von Gefangenen ohne ordnungsgemäße Identitätsprüfung oder vorausschauende Planung, gefolgt von einem Versäumnis, die Gefängnisse zu sichern. Dies führte zur Plünderung offizieller Dokumente – potenziell wichtige Beweise für künftige Ermittlungen – die eine entscheidende Rolle bei der Verfolgung der Täter hätten spielen können.
Wenn die Einrichtung eines strukturierten, fairen und glaubwürdigen Prozesses der Übergangsjustiz aufgeschoben wird, besteht die Gefahr, dass die Kriminalitätsrate, die Gewalt und die Frustration der Bevölkerung eskalieren. Die Behörden in Damaskus müssen ein Gleichgewicht zwischen der Gewährleistung von Gerechtigkeit für die Kriegsverbrecher des früheren Regimes und der Wahrung der nationalen Stabilität finden. Dies erfordert einen rationalen Ansatz, der emotional getriebene oder Vergeltungsmaßnahmen vermeidet, insbesondere gegen all jene, die in staatlichen Institutionen unter der Baath-Partei gearbeitet haben. Ein gut durchgeführter Prozess würde die Rechte des syrischen Volkes schützen und gleichzeitig einen bürokratischen Zusammenbruch und weitere Unruhen verhindern.
Außerdem sollte sich die Rechenschaftspflicht nicht auf die Verbrechen des ehemaligen Regimes beschränken. Die Gräueltaten ausländischer Kämpfer, die sich bewaffneten islamistischen Oppositionsgruppen angeschlossen haben – die oft eher von radikalen Ideologien als von einem echten Interesse an der Freiheit Syriens angetrieben werden – müssen ebenfalls aufgearbeitet werden. Diese Personen sollten strafrechtlich verfolgt und deportiert werden, wobei ihre früheren und aktuellen Verbrechen anerkannt und nicht als „individuelle Fehler“ abgetan werden sollten.
Das jüngste Massaker an Zivilisten an der syrischen Küste unterstreicht die dringende Notwendigkeit einer Übergangsjustiz, die sich nicht auf ehemalige Regimevertreter beschränken sollte. Eine beträchtliche Anzahl von Soldaten der derzeitigen syrischen Streitkräfte hat Taten begangen, die auf Staatsterror hinauslaufen. Wenn die Übergangsbehörden nicht entschlossen handeln und undisziplinierte bewaffnete Gruppen zur Rechenschaft ziehen und den Opfern in einer Weise Gerechtigkeit widerfahren lassen, die zeigt, dass niemand über dem Gesetz steht, werden ihre Versprechen für die Zukunft leer bleiben. Ein umfassender Ansatz für die Justiz, der sich mit Verbrechen befasst, die sowohl vom ehemaligen Regime als auch von islamistischen Kämpfern innerhalb des umstrukturierten syrischen Militärs begangen wurden, ist von entscheidender Bedeutung, um künftige Unruhen zu verhindern, die von Hass und dem Wunsch nach Rache getrieben werden.
Bürgerrechte
Syrien galt seit seiner Unabhängigkeit lange Zeit als relativ säkular, solange die Bürgerrechte vom politischen Einfluss getrennt blieben. Das Land hat nie eine Hidschab-Pflicht durchgesetzt oder strenge islamische Gesetze zu Fragen wie Kleidungsfreiheit, Glaubensfreiheit oder Alltagsleben, einschließlich des Verzehrs von Lebensmitteln und der Geschlechtertrennung in Schulen oder Universitäten, erlassen. Viele Syrer sind entschlossen, diese Freiheiten aufrechtzuerhalten und sogar zu erweitern, aber dieses Ziel zu erreichen, scheint nun eine zunehmend schwierige Herausforderung zu sein. In Anbetracht des derzeitigen politischen Klimas und der religiösen Ausrichtung der neuen syrischen Führung scheint ein nennenswerter Fortschritt bei den Bürgerrechten unrealistisch. Daher konzentrieren sich die Syrer jetzt in erster Linie darauf, die bisherigen bürgerlichen Freiheiten zu bewahren, anstatt sie zu erweitern.
Nach dem Sturz des brutalen Regimes von Bashar al-Assad befürchteten viele Syrer, dass Damaskus das gleiche Schicksal ereilen würde wie die zuvor von islamistischen Gruppierungen kontrollierten Gebiete, in denen die bürgerlichen Freiheiten stark eingeschränkt waren und die Scharia durchgesetzt wurde. Auch wenn solche Maßnahmen auf staatlicher Ebene noch nicht umgesetzt wurden, bleiben die Bedenken bestehen. Eine bezeichnende Mahnung war, dass der syrische Übergangspräsident Ahmed al-Sharaa der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock nicht die Hand gab. Dieser Moment diente als Weckruf für diejenigen, die die potenzielle Bedrohung der Bürgerrechte unterschätzt hatten und versuchten, die reaktionäre Politik der neuen Regierung zu rechtfertigen. Berichte über die Verhaftung von Personen wegen „Blasphemie“ und sektiererische Racheakte, die sich in alarmierendem Ausmaß ereignen – vor allem in Städten wie Homs, Latakia und Tartus – haben diese Ängste weiter geschürt. Auch auf offizieller Ebene hat der Staat Schritte zur Islamisierung Syriens unternommen und Entscheidungen getroffen, die von vielen als rücksichtslos und zutiefst provokant angesehen werden.
Einer der umstrittensten Schritte war die Streichung der Evolutionstheorie aus den syrischen Lehrplänen, wodurch ein grundlegendes wissenschaftliches Konzept aus der Bildung entfernt wurde. Zudem haben die Behörden „Religion“ wieder als Pflichtfach für die Abiturprüfungen eingeführt und damit die jahrzehntelang schwindende Bedeutung dieses Fachs im Bildungssystem rückgängig gemacht. Darüber hinaus hat die Regierung historische Hinweise auf das kanaanäische und aramäische Erbe Syriens gestrichen, Begriffe wie „Göttin“ entfernt und sogar den Unterricht über die Geschichte der Königin Zenobia eingestellt, da sie als fiktive Figur betrachtet wird. Diese Änderungen haben vor allem unter Intellektuellen Empörung ausgelöst, die sie als reaktionäre, ignorante und potenziell gefährliche Manipulationen des Bildungssystems betrachten.
Kürzlich hat der Direktor der religiösen Stiftungen in Damaskus, Samer Birkdar, einen offiziellen Antrag an den Minister für religiöse Stiftungen gestellt, in dem er vorschlug, eine Richtlinie zu erlassen, die allen öffentlichen und privaten Einrichtungen vorschreibt, die Heiligkeit des Ramadan zu wahren, indem sie das Essen in der Öffentlichkeit während des heiligen Monats verbieten. Dieser Vorschlag stieß auf den heftigen Widerstand vieler Syrer, die darin eine Verletzung der persönlichen Freiheiten und einen Schritt zur Durchsetzung religiöser Praktiken durch die Staatsgewalt sahen.
Diejenigen, die diese Entscheidungen mit dem Argument verteidigen, es sei noch zu früh, um ein Urteil zu fällen oder dass die Bürgerrechte unangetastet bleiben, unterschätzen möglicherweise die entscheidende Rolle, welche die Bildung für die Gestaltung der Zukunft Syriens spielt. Möglicherweise verkennen sie auch, dass die derzeitige scheinbare „Toleranz“ der Regierung nicht auf ein echtes Engagement für die Bürgerrechte zurückzuführen ist, sondern eher auf das Bewusstsein für den fragilen Zustand Syriens. Möglicherweise vermeiden die Behörden im Moment einfach drastische Veränderungen, um Unruhen zu vermeiden. Die Gefahr weiterer, extremerer Veränderungen bleibt ein dringendes Problem. Um dies zu verhindern, muss dringend ein Aktionsplan entwickelt werden, der die Bürgerrechte friedlich schützt und gleichzeitig die Stabilität des Staates gewährleistet.
Journalismus (4. Gewalt)
Unter der Herrschaft von Assad war Syrien für Journalisten eines der gefährlichsten Länder der Welt. Jahrzehntelang schränkte der Staat die Presse stark ein und erteilte nur denjenigen Medien eine Arbeitserlaubnis, die sich der Regierungspropaganda anpassten. Selbst im Internet überwachten die Behörden Personen, die der Illoyalität gegenüber dem Regime verdächtigt wurden. Viele Journalisten wurden verhaftet und gefoltert, während Syrien stets zu einem der tödlichsten Länder für Journalisten zählte. Aufgrund dieser langen Geschichte von Unterdrückung und staatlicher Kontrolle hat die Pressefreiheit für das syrische Volk oberste Priorität und ist ein wichtiger Maßstab, an dem die derzeitige Führung gemessen wird. Trotz der erwarteten Fortschritte haben die neuen Behörden in Syrien jedoch noch nicht bewiesen, dass sie sich wirklich für einen unabhängigen Journalismus einsetzen. Zwar hat die Möglichkeit, in verschiedenen Medien zu veröffentlichen und Meinungen zu äußern, leicht zugenommen, doch scheint diese Entwicklung eher auf die allgemeine Schwäche des Staates als auf eine echte Politik zur Förderung der Pressefreiheit zurückzuführen zu sein. Es gibt keine klaren Anzeichen dafür, dass die Führung in Damaskus eine unabhängige Presse als ein zu schützendes Grundrecht ansieht.
Berichten zufolge verlangt die derzeitige syrische Regierung von Journalisten nach wie vor eine Arbeitserlaubnis. Selbst mit diesen Genehmigungen können viele nicht frei arbeiten, da mehrere Regionen de facto unter der Kontrolle lokaler Behörden stehen, welche sich nicht immer an die Anweisungen aus Damaskus halten. Journalisten, die für Medien arbeiten, die mit dem Übergangspräsidenten al-Sharaa verbündet sind, können ohne Einschränkungen arbeiten, aber diejenigen, die kritisch oder investigativ berichten, müssen extreme Vorsicht walten lassen, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Viele Journalisten in Syrien verwenden weiterhin Pseudonyme oder vermeiden es, ihr Gesicht zu zeigen, wenn sie für Organisationen arbeiten, die die neue Regierung nicht uneingeschränkt unterstützen.
Abgesehen von diesen Herausforderungen klafft nach wie vor eine große Lücke in der offiziellen Kommunikation zwischen dem Staat und der Öffentlichkeit. Da es keine klare Darstellung der Regierung gibt, müssen sich die Syrer oft auf undichte Stellen, ungeprüfte Berichte und unzuverlässige Quellen verlassen. Eine einfache Lösung für dieses Problem wäre die Ernennung eines offiziellen Sprechers, der regelmäßig aktuelle Informationen liefert und Fragen unabhängiger Journalisten auf täglicher oder wöchentlicher Basis beantwortet. Doch selbst eine solche grundlegende Reform ist noch nicht umgesetzt worden, was Zweifel am Engagement der Regierung für Transparenz und Reformen aufkommen lässt. Eine wirklich unabhängige vierte Gewalt, die nicht von der Regierung kontrolliert und eingeschränkt wird, ist für den Übergang in Syrien unerlässlich. Leider wurden bisher keine ernsthaften strukturellen Reformen unternommen, um die Pressefreiheit im Lande zu gewährleisten.
Die Wirtschaft
Die Wirtschaftskrise in Syrien ist eines der drängendsten Probleme, von dem Millionen Menschen betroffen sind, die mit einem noch nie dagewesenen Maß an Armut und Arbeitslosigkeit konfrontiert sind. Grundlegende Dinge wie Energiequellen, öffentliche Dienstleistungen und Elektrizität sind nach wie vor knapp, während die steigenden Preise für Waren das Durchschnittsgehalt bei weitem übersteigen, was das tägliche Überleben zu einem Kampf macht. Wenngleich sich die syrische Wirtschaft nie in einem schlechteren Zustand befand als seit 2011, hat die Krise weitaus tiefere und komplexere Wurzeln als bloße Sanktionen und Blockaden, deren Ursprünge lange vor den aktuellen Unruhen liegen.
Die schwere Wirtschaftskrise in Syrien anzugehen, ohne die vergangenen Entscheidungen der Regierung gründlich zu analysieren, wäre unverantwortlich und würde keine praktischen oder wirksamen Lösungen hervorbringen. Die Krise auf allgemeine Begriffe wie „Sanktionen“, „Krieg“ und „Korruption“ zu reduzieren – obwohl unbestreitbar wirkmächtig – vereinfacht die Situation zu sehr, lässt tiefere Zusammenhänge außer Acht und schiebt die Verantwortung letztlich von den Verantwortlichen ab.
Angesichts der Komplexität und Herausforderungen der anhaltenden Krise in Syrien ist es verständlich, dass eine sofortige Lösung möglicherweise nicht möglich ist. Dennoch ist es für die derzeitigen Behörden von entscheidender Bedeutung, einen klaren und wirksamen Plan umzusetzen, der mittelfristig Fortschritte gewährleistet. Die Stabilisierung der Wirtschaft ist nach wie vor ein grundlegender Schritt, um allgemeinere Probleme anzugehen und mögliche öffentliche Unruhen mit unvorhersehbaren Folgen zu verhindern.
Dieses Kapitel gibt einen Überblick über die wichtigsten wirtschaftlichen Veränderungen in Syrien seit der Erlangung der Unabhängigkeit von der französischen Kolonialherrschaft und soll die verschiedenen Faktoren beleuchten, welche Syrien in seine derzeitige katastrophale Wirtschaftslage geführt haben. Nach der Erlangung der Unabhängigkeit stützte sich die syrische Wirtschaft hauptsächlich auf die Landwirtschaft, während die Leichtindustrie eine geringere Rolle spielte. Die Investitionen in die sozialen Dienste waren mit Ausnahme des Bildungssektors minimal, während die Militärausgaben nach der palästinensischen Nakba von 1948 erheblich anstiegen. Diese schwache, sich entwickelnde Wirtschaft stand vor erheblichen Herausforderungen in einer gerade erst unabhängig gewordenen Nation, die zu einem Schlachtfeld für lokale, regionale und globale ideologische und politische Konflikte geworden war.
In dieser Zeit herrschte in Syrien ein äußerst unsicheres und angespanntes politisches Klima, während das Land mit zahlreichen Krisen und Konflikten zu kämpfen hatte. Spannungen zwischen den zivilen Behörden und dem Militär sowie der weitreichendere ideologische Kampf zwischen Ost und West hatten schon früh erhebliche Auswirkungen auf das Land. Zu diesen Herausforderungen kamen verschiedene lokale Probleme hinzu, die sich alle in einer Wirtschaft abspielten, die zu schwach war, um der Instabilität und Schwäche des Staates standzuhalten. Diese Unruhen trugen entscheidend dazu bei, dass der Drang nach Einheit beschleunigt wurde und die Bedingungen des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser akzeptiert wurden, einschließlich der Auflösung der zahlreichen politischen Parteien in Syrien, die in der demokratischen Phase des Landes floriert hatten. Die wirtschaftlichen Bedingungen ließen damals das Gefühl aufkommen, dass das Überleben Syriens ohne einen starken Staat gefährdet sei, was die Gründung der Vereinigten Arabischen Republik (UAR) mit Nasser als mögliche Lösung zur Stabilisierung des Landes und seiner Wirtschaft erscheinen ließ.
Die Vereinigte Arabische Republik (UAR) bestand nur drei Jahre (1958-61), was vor allem auf die Machtkonzentration in Ägypten und die nahezu bedingungslose Zustimmung Syriens zu dieser Union sowie auf verschiedene politische Faktoren zurückzuführen war, die den Rahmen dieses Artikels sprengen würden. Darüber hinaus stand die komplexe und äußerst heterogene Gesellschaft Syriens in starkem Kontrast zu der homogeneren Gesellschaftsstruktur Ägyptens, was die Union zusätzlich erschwerte. Diese Herausforderungen führten schließlich dazu, dass die UAR nur drei Jahre nach ihrer Gründung wieder aufgelöst wurde. Trotz ihrer kurzen Lebensdauer spielte die UAR-Ära jedoch eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der syrischen Wirtschaft und des syrischen Staates in den kommenden Jahren.
Während der Ära der Vereinigten Arabischen Republik (UAR) erfuhr Syrien bedeutende wirtschaftliche Veränderungen, darunter Verstaatlichung, eine Landreform und die von Nasser eingeführte Landverteilungspolitik. Viele dieser drastischen Reformen wurden auch nach der Machtübernahme durch die Baath-Partei beibehalten, da ihre Rückgängigmachung den Aufstieg einer wirtschaftlich mächtigen Klasse hätte ermöglichen können, welche die Autorität der Partei in Frage gestellt hätte. Außerdem trug die Beibehaltung dieser Politik dazu bei, die Unterstützung aus den ländlichen Gebieten zu sichern. Die damalige wirtschaftliche Unsicherheit veranlasste jedoch viele syrische Eliten, ihr Vermögen zu libanesischen Banken zu transferieren, angezogen von der liberalen Wirtschaft und dem strengen Bankgeheimnis des Libanon. Diese Kapitalflucht machte den Libanon zu einem wichtigen wirtschaftlichen Absatzmarkt für Syrien, ein Faktor, der später eine Rolle bei der langjährigen Intervention Syriens im Libanon spielte, welche um so entscheidender wurde, als die westlichen Sanktionen begannen, die syrische Wirtschaft zu belasten.
In den 1970er Jahren, nach dem Putsch von Hafez al-Assad gegen Salah Jadid, festigte Assad seine Macht durch eine Kombination aus Angst und rücksichtsloser Kontrolle durch seinen Sicherheitsapparat. Seine drei Jahrzehnte andauernde Herrschaft wurde auch durch pragmatische wirtschaftliche Zugeständnisse ermöglicht, wenn dies erforderlich war, wie auch durch das Fehlen eines starren ideologischen Rahmens, was ihm ermöglichte, die Wirtschaftspolitik zu manipulieren, um seinen autoritären Einfluss zu verstärken. In dieser Zeit erhielt Syrien erhebliche finanzielle Unterstützung aus den Golfstaaten, insbesondere nach dem Oktoberkrieg 1973, was die Wirtschaft vorübergehend wieder ankurbelte.
In den 1980er Jahren kam es jedoch zu einer schweren Wirtschaftskrise. Die Einstellung der Finanzhilfe aus den Golfstaaten, grassierende Korruption und das Versäumnis, eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung zu erlangen, schwächten die wirtschaftlichen Grundlagen Syriens. Das Regime beschränkte die wirtschaftliche Teilhabe auf eine ausgewählte Elite, die in kontrollierten Korruptionskreisen agierte und sorgte dafür, dass keine unabhängige wirtschaftliche Kraft als politische Bedrohung entstehen konnte. Dieser wirtschaftliche Niedergang fiel mit einem eskalierenden Konflikt gegen die Muslimbruderschaft zusammen und belastete die Stabilität des Landes zusätzlich.
Als sich die wirtschaftliche Not verschärfte, begannen Händler in wichtigen Städten wie Aleppo, Hama und Damaskus, Streiks zu planen. Die Reaktion des Regimes war in Hama besonders brutal, einer Hochburg der Muslimbruderschaft, wo es eines der schrecklichsten Massaker in der syrischen Geschichte verübte. Zehntausende von Einwohnern, darunter auch Zivilisten, die keine Verbindung zur Bruderschaft hatten, wurden wahllos getötet. Schätzungen gehen von 20.000 bis 40.000 Toten aus. Das Massaker hinterließ bei den Syrern einen bleibenden Eindruck und diente als deutliche Warnung vor der Reaktion des Regimes auf künftige Aufstände.
In den 1990er Jahren begann sich die syrische Wirtschaft aufgrund mehrerer Schlüsselfaktoren zu erholen. Die Entdeckung und Ausfuhr zusätzlicher Ölvorkommen sorgte für einen finanziellen Aufschwung, während Syriens Teilnahme am Golfkrieg an der Seite der US-geführten Koalition finanzielle Hilfe aus dem Westen und den Golfstaaten brachte. Zusätzlich beeinflussten die Spannungen mit dem Irak und der Zusammenbruch der Sowjetunion die Entscheidung Syriens, sich der internationalen Koalition anzuschließen und sich so wirtschaftliche und politische Vorteile zu sichern. Da die Kontrolle über den Libanon zu dieser Zeit fest etabliert war, sah sich das syrische Regime kaum veranlasst, strukturelle Wirtschaftsreformen durchzuführen.
Bis 1996 gingen die Öleinnahmen jedoch erheblich zurück, und als Bashar al-Assad nach dem Tod seines Vaters die Macht übernahm, leitete er einen Prozess der wirtschaftlichen Liberalisierung ein, der den öffentlichen Sektor schwächte. Staatliche Subventionen wurden gekürzt, und es entstand ein eng mit dem Regime verbundener Privatsektor, was zu steigender Arbeitslosigkeit und zur Erosion der ländlichen Unterstützungsbasis der Baath-Partei führte. Der Rückzug aus dem Libanon im Jahr 2005 verschlimmerte die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Syriens weiter.
Der Ausbruch der Revolution 2011 und die gewaltsame Unterdrückung der Proteste durch das Regime stürzten das Land in einen lang anhaltenden Krieg, der den wirtschaftlichen Niedergang beschleunigte. Massenvertreibungen, die steigenden Kriegskosten des Regimes und die wachsenden Schulden bei seinen Verbündeten destabilisierten Syrien weiter. Durch den Verlust der Kontrolle über die ölreiche Region im Nordosten des Landes verlor die Regierung zudem eine wichtige Einnahmequelle. Um dies zu kompensieren, wandte sich das Regime einer Kriegswirtschaft zu, die auf Schmuggel und Drogenhandel basierte. Da das Regime jedoch nicht in der Lage war, Korruptionsnetzwerke und kriminelle Unternehmen vollständig zu kontrollieren, war diese Strategie nur begrenzt wirksam.
Bei der Bewertung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten Syriens ist es wichtig, die Rolle der westlichen Sanktionen weder zu übertreiben noch herunterzuspielen. Im Gegensatz zu der fast vollständigen Wirtschaftsblockade, die in der Vergangenheit über den Irak verhängt wurde, konnte Syrien immer noch mit Ländern Handel treiben, die sich nicht an den Sanktionen beteiligten. Auch wenn die wirtschaftlichen Sanktionen zweifellos verheerende Auswirkungen hatten, so wäre es doch eine grobe Vereinfachung, den wirtschaftlichen Zusammenbruch Syriens ausschließlich auf diese Maßnahmen zurückzuführen, da es sich um eine viel umfassendere strukturelle Krise handelt. Das Verständnis der wirtschaftlichen Geschichte Syriens wirft eine wichtige Frage für die derzeitige Führung auf:
Was ist die langfristige Strategie für den Aufbau eines starken Staates mit einer nachhaltigen Wirtschaft, die durch eine moderne Infrastruktur gestützt wird, welche dauerhaften Wohlstand gewährleisten kann?
Die Antwort muss von sachkundigen Wirtschaftsplanern und politischen Entscheidungsträgern kommen – nicht von ungebildeten Dschihadisten, die leere Versprechungen machen, oder von kurzsichtigen Führern, die sich auf ausländische Hilfe verlassen, ohne einer umfassenden Strategie zur Bekämpfung der eigentlichen Ursachen der Krise.
Abschließend ist jedem klar, dass die Herausforderungen immens sind und der Weg, der vor uns liegt, alles andere als einfach ist. Die Verzögerung von Maßnahmen, der Mangel an echtem Engagement für eine gründliche Planung und die ständige Tendenz, die Schuld bei dem vom vorherigen Regime hinterlassenen Chaos zu suchen, werden jedoch nicht die Grundlagen für eine stabile Zukunft schaffen. Die anfängliche Geduld, die aus der Euphorie nach dem Ende des Regimes entstanden ist, wird nicht ewig anhalten. Wenn die neuen syrischen Behörden es weiterhin versäumen, klare Antworten zu geben und glaubwürdige, konkrete Arbeitspläne für alle Bereiche vorzulegen, könnte dies schwerwiegende Folgen haben – und die Syrer in eine Realität zurückbringen, die sie kurzzeitig für überwunden hielten.
Dieser Beitrag von Nour und Haya Kanj erschien zuerst auf Englisch – übersetzt von Michael Täuber