Die Tarifautonomie, abgeleitet aus Artikel 9 Abs. 3 Grundgesetz, hat in Deutschland Verfassungsrang. Tarifautonomie heißt, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände regeln durch Tarifverträge, unabhängig von staatlicher Einflussnahme, die Arbeitsbedingungen. Tarifliche Arbeitsbedingungen sind eigentlich immer – eine große Ausnahme bildet leider die Leiharbeit – besser als gesetzliche Mindeststandards: höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten, mehr Urlaubstage und Sonderzahlungen.
Ohne Tarifverträge gibt es keine gute Arbeit. Für die Beschäftigten bedeuten sie im Alltag aber auch erlebbare Demokratie. Arbeitsbedingungen und Löhne werden nicht einseitig von der Chefetage diktiert, sondern die Beschäftigten organisieren sich in Gewerkschaften und erkämpfen gemeinsam diese kollektiven Regelungen. Sie bestimmen also direkt mit, wie ihr Arbeitsalltag aussieht.
Tarifvertragssystem in der Krise
Die Tarifbindung befindet sich in freiem Fall. Zuletzt arbeiteten 2023 nur noch 51 Prozent der Beschäftigten in Westdeutschland und 44 Prozent der Beschäftigten in Ostdeutschland in einem Betrieb mit Tarifvertrag. Zum Vergleich: 1996 waren es im Westen noch 80 Prozent und im Osten 73 Prozent.1 Diese Erosion ist dramatisch angesichts der Bedeutung des Tarifsystems für die Arbeitsbedingungen, den Sozialstaat und die Demokratie.
Laut einer WSI-Studie arbeiten Vollzeitbeschäftigte in tariflosen Betrieben im Durchschnitt wöchentlich 53 Minuten länger und haben ein um 10 Prozent geringeres Einkommen.2 Aber auch den Betrieben fehlt der Schutz des Flächentarifvertrages, denn diese verhindern sogenannte Schmutzkonkurrenz und garantieren für alle Betriebe einer Branche die gleichen Bedingungen. Fehlt dieser Schutz, wird der Wettbewerb statt über Qualität und Innovation über Lohndumping ausgetragen und diejenigen, die ihre Beschäftigten am meisten ausbeuten, haben die Nase vorn.
Die Krise des Tarifvertragssystems ist nicht vom Himmel gefallen. Mit dem neoliberalen Umbau der Gesellschaft in den vergangenen 30 Jahren wurden Gewerkschaften systematisch geschwächt und der Arbeitsmarkt dereguliert. Der Niedriglohnsektor wurde, nicht zuletzt durch Hartz IV, ausgeweitet und prekäre Beschäftigung vorangetrieben. Die Liste dieser Arbeitsformen ist lang: Leiharbeit, Minijobs, Kettenbefristungen, sachgrundlose Befristungen, unfreiwillige Teilzeit. Mittlerweile sind sie der Alltag für Millionen Beschäftigte. Gleichzeitig wurden öffentliche Betriebe privatisiert und Tarifflucht der Arbeitgeber, z.B. durch Betriebsumwandlungen, Outsourcing oder OT-Mitgliedschaften3, ist salonfähig geworden.
Immer weniger Beschäftigte erleben Tarifverträge als eine Säule der Demokratie, sie erfahren vielmehr das Gegenteil: Sie werden in prekäre Arbeitsverhältnisse in nicht tarifgebundenen Betrieben gedrängt. Um den Druck zu erhöhen hat die Koalition sogar aktuell Sanktionen und Meldepflichten beim Bürgergeld wieder verschärft. Wir haben aber kein Problem mit fehlender Arbeitsbereitschaft, sondern mit zu niedrigen Löhnen und miesen Arbeitsbedingungen. Unsichere Beschäftigungsverhältnisse machen es für die Beschäftigten viel schwerer, sich zu organisieren und Tarifverträge zu erkämpfen. Das ist nicht Demokratie, das ist erlebte Ohnmacht.
Notwendigkeit politischen Handelns
Die Gewerkschaften allein werden den Niedergang des Tarifvertragssystems nicht mehr verhindern können, dafür ist ihr Organisationsgrad in den letzten Jahren zu stark gesunken. Es besteht daher politischer Handlungsbedarf. Der Gesetzgeber hat, wenn die Tarifautonomie gestört ist, nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, entsprechend tätig zu werden, um das ebenfalls grundrechtlich verankerte Sozialstaatsprinzip zu schützen.
Auch eine EU-Richtlinie schreibt vor, dass Mitgliedsstaaten, in denen die tarifvertragliche Abdeckung unterhalb von 80 Prozent liegt, bis November 2024 einen Aktionsplan mit konkreten Maßnahmen zu erstellen haben.4 Hier glänzt die Bundesregierung weiterhin durch Tatenlosigkeit. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung war angekündigt: „Wir wollen die Tarifautonomie, die Tarifpartner und die Tarifbindung stärken, damit faire Löhne in Deutschland bezahlt werden…“.5 Das geplante Bundestariftreuegesetz befindet sich seit Monaten in der Regierungsabstimmung. Es ist fraglich, ob es in der laufenden Legislaturperiode überhaupt noch umgesetzt wird.
Aktionsplan Tarifbindung
Die Gruppe Die Linke im Bundestag hat einen Antrag mit entsprechenden Vorschlägen für einen Aktionsplan zur Stärkung der Tarifbindung vorgelegt.6
Auch Die Linke fordert ein Bundestariftreuegesetz, das gesetzlich vorschreibt, dass bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen des Bundes nur tarifgebundene Firmen berücksichtigt werden. Damit wird verhindert, dass öffentliche Gelder bei Betrieben landen, die nicht nach Tarif zahlen und auf dem Rücken der Beschäftigten Lohndumping betreiben.
Ein weiteres wichtiges Instrument ist die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen. Der Staat kann unter bestimmten Voraussetzungen Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären, dann gelten sie für alle Beschäftigten einer Branche, egal ob sie tarifgebunden sind oder nicht. Um mehr Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären zu können, muss das Veto-Recht der Arbeitgeber, das sie als Blockade-Instrument nutzen, abgeschafft werden.
Nicht zuletzt müssen Schritte gegen die Tarifflucht von Arbeitgebern unternommen werden. Dafür ist es wichtig, die sogenannten OT-Mitgliedschaften zu verbieten. Wer Mitglied in einem Arbeitgeberverband ist, für den muss auch der Tarifvertrag gelten. Darüber hinaus muss bei Betriebsausgliederungen die Fortgeltung des Tarifvertrages zwingend sichergestellt werden, denn Unternehmen entziehen sich häufig durch Umstrukturierungen der Bindungswirkung von Tarifverträgen.
In vielen Punkten überschneiden sich die Vorschläge der Linken mit dem erst kürzlich veröffentlichten nationalen Aktionsplan zur Stärkung der Tarifbindung des DGB.7
Notwendig ist aber auch eine Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung, denn Betriebsräte stärken gewerkschaftliches Handeln im Betrieb und im Hinblick auf die Tarifbindung. Auch hier hat Die Linke Vorschläge in Form eines eigenen Konzepts „Ahoi Mitbestimmung“ erarbeitet.
Die Vorschläge liegen auf dem Tisch. Es ist Zeit, dass die Bundesregierung ihrer Verantwortung gerecht wird und durch eine Stärkung der Tarifbindung und der Mitbestimmung für gute Arbeitsbedingungen sorgt, statt permanent das Zerrbild des „faulen Arbeitslosen“ zu verbreiten und durch Sanktions- und Meldepflichtverschärfungen den Druck auf Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger zu erhöhen, um den Niedriglohnsektor zu nähren.
Ein funktionierendes Tarifvertragssystem und mehr betriebliche Mitbestimmung ist die Voraussetzung nicht nur für gute Arbeit, sondern auch für erlebbare Demokratie. Es braucht sich niemand in Sonntagsreden beschweren, dass Demokratie nicht funktioniert, wenn zuvor nicht alles getan wurde, um sie zu stärken.
Ein Beitrag von Susanne Ferschl, Gewerkschafts- und arbeitsmarktpolitische Sprecherin von Die Linke im Deutschen Bundestag
1 Vgl. IAB-Betriebspanel, 2023; Antwort auf schriftliche Frage Susanne Ferschl mit der Arbeitsnummer 297
2 Vgl. Lübker/Schulten, 2024: Tarifbindung in den Bundesländern, Entwicklungslinien und
Auswirkungen auf die Beschäftigten, WSI Tarifarchiv Nr. 103.
3 OT bedeutet „ohne Tarifbindung“, d.h. dass die Arbeitgeber zwar Mitglied im Verband sind, aber für sie kein Tarifvertrag gilt.
4 Vgl. Richtlinie (EU) 2022/2041 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Oktober 2022 über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union, Amtsblatt der EU, Artikel 4.
5 Vgl.: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf
6 Vgl. Bundestagsdrucksache 20/11426
7 Vgl. https://www.dgb.de/fileadmin/download_center/Positionen_und_Thesen/240725_nationaler_
Aktionsplan_St%C3%A4rkung_Tarifbindung_kurz.pdf
8 Vgl. https://www.dielinkebt.de/fileadmin/user_upload/2022_Ahoi_Mitbestimmung_komplett.pdf