Vom Wald in die Welt – Warum linke Politik sich auf ihre Wurzeln besinnen sollte

Schlamm klebt an den Schuhen, der Wind bläst kalt den feinen Regen ins Gesicht, die Kälte kriecht unter die Kleidung. Wir, mein Mitarbeiter Benjamin Beutler und ich, sind im Hambacher Forst. Hier besetzen seit fünf Jahren Menschen den Wald, kämpfen gegen die Rodungen durch RWE, die den Kohle-Abbau im rheinischen Braunkohlerevier vorantreiben wollen. Ein Kommentar von Lorenz Gösta Beutin in der Reihe „Meinungsstark – Die Kolumne aus dem Bundestag“.

Eigentlich wollte ich als „Parlamentarischer Beobachter“ anwesend sein, wenn die Polizei anrückt, um den Wald zu räumen, die Bagger ihr Zerstörungswerk am letzten Rest Natur vollenden. Doch gerade hat ein Gericht zum Glück einen Rodungsstopp verfügt. Daher wollen wir jetzt vor allem Gespräche führen, Kontakte knüpfen, und deutlich machen: Wir sind vor Ort, wenn die Waldbesetzer*innen unsere Unterstützung brauchen.

Solidarisches Miteinander unter widrigen Umständen

Noch ist unklar, wie lange der Rodungsstopp anhält. Jetzt heißt es, auf das nächste Urteil warten. Atem schöpfen. Die Ruhe vor dem Sturm. Eine eigene kleine Gemeinschaft haben sie sich aufgebaut. Ganze Dörfer aus Baumhäusern, nicht nur am Boden verankert, auch ganz hoch oben in den Baumwipfeln. Mit Namen wie „Oak Town“ oder „Gallien“. Mit Reparaturwerkstätten, Gemeinschaftsküchen, einer „town hall“. Der Versuch, unter widrigen Umständen ein solidarisches Miteinander zu leben. In diesem Kosmos gibt es die gleichen Konflikte wie in allen linken Projekten: Wie weit darf der Aktionismus gehen, wie halten wir es mit Gewalt, was verstehen wir überhaupt darunter? Wie gehen wir mit bürgerlichen und kirchlichen Gruppen um, mit den Anwohner*innen, die uns unterstützen? Berichtet wird von langen Debatten, vom Ringen um einen Konsens, der doch nicht immer gefunden wird.

System change, not climate change!

Beeindruckend ist das grundlegende Verständnis des eigenen Tuns: Da finden sich Transparente, Spruchbänder, Schilder, die auf antirassistische Praxis, auf Flüchtlingssolidarität verweisen, das Bewusstsein deutlich machen, Teil globaler, linker Kämpfe zu sein. Nicht allein um Klimagerechtigkeit, auch gegen Landnahme von Unternehmen, Ausbeutung, Unterdrückung. Queer-feministische Positionen, antifaschistische, antimilitaristische, antikapitalistische und anarchistische Positionen finden sich überall im Wald. Es ist der das Ringen um eine solidarische Gesellschaft, in die sich die widerständige Praxis im Hambacher Forst einfügt, der Sand, der das Räderwerk des Kapitalismus noch nicht zum Stillstand bringt, aber merklich knirschen lässt.

Als wir am zweiten Tag im Wald erfahren, dass die Klage eines peruanischen Bauern gegen RWE vor dem Oberlandesgericht in Hamm zugelassen worden ist, ist der Jubel nicht nur bei uns groß: Der Bauer hat den Großkonzern wegen der Folgen des Klimawandels verklagt, jetzt wird in die Beweisaufnahme eingestiegen. Dies ist ein bislang weltweit einmaliger Fall, dass eine Klage gegen einen Großkonzern wegen Verursachung der Klimaerwärmung überhaupt zugelassen wird. Die Beweiskette, die aufgespannt werden kann, wird exemplarisch die Folgen aufzeigen, die der ungehemmte Ressourcenverbrauch der Industriestaaten für den globalen Süden hat. Die Notwendigkeit dessen, was bei der Klimademo in Bonn anlässlich des Weltklimagipfels, bei den Aktionen von „Ende Gelände“ oder bei der Besetzung des Hambacher Forsts allerorten zu hören und lesen ist, wird hier greifbar: „System change, not climate change“. Ohne eine andere, solidarische Gesellschaft, ohne eine Abkehr vom Kapitalismus, wird es nichts mit der Bekämpfung des Klimawandels.

Lorenz Gösta Beutin, Abgeordneter für die Linkspartei im Bundestag

Über strategische Leerstellen

Liest man die Thesen zu den politischen Schwerpunkten der Linksfraktion von den beiden Vorsitzenden Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch, fällt gerade in dieser Frage eine Unkonkretheit auf, die den kommenden Herausforderungen nicht gerecht wird: Völlig unverbunden stehen da der Ruf nach neuen Industriearbeitsplätzen und das Bekenntnis, man setze sich „weiter für einen sozial-ökologischen Umbau ein“. Keine Aussage darüber, in welchen Bereichen unter dieser Bedingung denn die neuen Industriearbeitsplätze zu schaffen wären, wie die Industrie umzugestalten sei, um den Ansprüchen an einen sozial-ökologischen Umbau gerecht zu werden. Auch kein Wort über zentrale Fragen: Wie stellen wir uns eine ökologische Verkehrswende vor? Wie fördern wir solidarische und genossenschaftliche Produktionsweisen in der Energiewende? Wie kann der Kohleausstieg gelingen und welche sozialen Ausgleichsmaßnahmen sind für die betroffenen Regionen nötig? Wie können wir die Forderung nach Gerechtigkeit für den globalen Süden unterstützen, die auch auf dem letzten Weltklimagipfel wieder von den Industriestaaten zurückgewiesen wurde? An diesem Thema wird deutlich, was sich durch das gesamte „Strategiepapier“ zieht: Eine Ratlosigkeit angesichts kommender Herausforderungen, ein Rückschritt hinter unser Wahlprogramm. So werden Kernthemen der Linken wie der Kampf gegen Hartz IV gar nicht mehr erwähnt, friedenspolitische Positionen werden begrifflich geschliffen, wenn nicht mehr vom Abzug der Bundeswehr aus „Auslandseinsätzen“, sondern aus „Kampfeinsätzen“ die Rede ist. Man möge sich nur mal den Spaß machen, zu schauen, welche Einsätze die Bundesregierung überhaupt als Kampfeinsätze definiert. Der Einsatz in Afghanistan beispielsweise zählt nicht dazu.

Die Linke sollte sich auf ihre Wurzeln besinnen

Hier ist der konsequente Antimilitarismus der Waldleute weiter, der die Ablehnung jeglicher Rüstungsproduktion verbindet mit der Einsicht: „Krieg beginnt“ hier. Da ist klar, dass die Gier nach Profiten und Ressourcen ursächlich ist, dass diese Gesellschaft Kriege hervorbringt. Wenig erstaunlich ist die Position, die wir im Gespräch zu hören bekommen: Man würde ja die Linkspartei wählen, im Kern sei das ja richtig, habe auch schon überlegt, einzutreten, aber solange die Partei nicht klar beim Thema Antirassismus sei, komme das nicht in Frage. Da kann man selbst lange argumentieren: „Dann tretet doch ein und lasst uns in der Partei für klare Positionen streiten.“ Oder: „Das Programm und die Praxis der Linksfraktion zeigen doch, dass die Linke klare antirassistische Positionen vertritt.“ Die immer aufs Neue wiederholten Versuche von einigen Verantwortungsträger*innen aus Partei und Fraktion, ans rassistische Ressentiment anzuknüpfen und „Biodeutsche“ gegen Geflüchtete auszuspielen, Solidarität auf den nationalen Kontext zu begrenzen und so die Grundpositionen unseres Parteiprogramms öffentlich in Frage zu stellen, sprechen eine andere Sprache.

Wenn die Gesellschaft nach rechts rückt, wenn selbst die Grünen bereit sind, für Regierungsbeteiligungen „atmende Rahmen“ zu akzeptieren, wenn neonazistische Positionen, die noch inakzeptabel waren, als sie von der NPD kamen, mittlerweile ihren Platz in den allabendlichen Talkshows haben, ist es notwendig, dass sich die Linke im Parlament und in der Gesellschaft umso mehr positioniert als die Kraft, die um Perspektiven für eine ganz andere Gesellschaft ringt. Von den internationalen Kämpfen um Klimagerechtigkeit, vom Kleinbauern aus Peru genauso wie von „Ende Gelände“ oder den Menschen im Hambacher Forst können wir alle lernen, uns auf die Wurzeln linker Bewegung zu besinnen: Grenzenlose Solidarität, widerständige Praxis und das Bewusstsein, dass die Kämpfe gegen unterschiedliche Formen von Herrschaft, für eine Gesellschaft der Freien und Gleichen zusammengehören.

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