Frankreich: Noch nie waren soviele Unternehmer im Parlament – Im Gespräch mit Sebastian Chwala

In Frankreich hat der neoliberale Präsident Macron nach den Parlamentswahlen auch eine parlamentarische Mehrheit, dagegen ist die Sozialdemokratie am Boden und auch die Konservativen verloren. Die linken Kräfte sind dagegen neben Macron die großen Gewinner der Wahl, doch sind sie im Parlament gespalten. Wir haben mit dem Frankreichexperten und Buchautoren Sebastian Chwala über die Wahlen gesprochen.

Die Freiheitsliebe: Vor wenigen Wochen fanden in Frankreich Parlamentswahlen statt, wie beurteilst du das Ergebnis?

Sebastian Chwala: Ja, die Wahlen fanden am 11. und 18. Juni statt. Im Vorfeld hatten viele Menschen gehofft, dass es vielleicht keine Mehrheit für die Bewegung „La republique en Marche“von Präsident Emmanuel Macron geben könnte. Schließlich war die politische Organisation recht neu und das starre Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen, welches immer verlangt, eine absolute Stimmenmehrheit zu erreichen, nützten eigentlich den bekannten, lokal verankerten politischen Persönlichkeiten der großen Parteien. Außerdem war und ist Macron nicht sonderlich populär. Allerdings haben in den letzten Jahren neu gewählte Präsidenten immer eine Mehrheit bei den Wahlen zur „Volksvertretung“ bekommen. Aus dem einfachen Grund, weil die Anhänger der unterlegenen Kandidaten der Wahlurne fern blieben. So auch dieses Mal. Vor allen Dingen die Wählerinnen und Wähler von Mélenchon und Le Pen blieben zu Hause. Diese bescherte dem Wahlbündnis von Macron und seinen Verbündeten von der liberalen MODEM Partei über 350 von 577 Sitzen in der Nationalversammlung. Eine komfortable Mehrheit, um in Zukunft zu regieren. Die Opposition im Parlaments dürfte relativ machtlos sein, wenn es darum geht, Gesetzesvorhaben zu verhindern.

Die Freiheitsliebe: Welche Maßnahmen wird die neue Regierung durchsetzen und wie ist sie zusammengesetzt, welchen Charakter weißt „La Republique En marche“ (LREM) auf?

Sebastian Chwala: Durchgesetzt werden soll vor allen Dingen eine „Reform“ des Arbeitsrechtes. Dieses war in der Vergangenheit auf nationalstaatlicher Ebene geregelt und legte ziemlich genau fest,welche Rechte Arbeitnehmer und besaßen und welche Einschränkungen der unternehmerischen Freiheit gesetzt wurden. So ist der unbefristete Arbeitsvertrag in Frankreich derzeit noch gesetzlich festgelegter Standard und ökonomischen Entlassungen sind enge Grenzen gesetzt .In Zukunft soll ein Großteil dieser Fragen auf Betriebsebene verhandelt werden. Angefangen bei der Form der Arbeitsverträge, über die Festlegung von Kündigungsgründen, bis hin zur Regelung der Arbeitszeit.
Alles unter dem Vorwand, das die „Flexibilität“ gestärkt werden müsse, damit sich die Unternehmen individuell an Marktbedingungen anpassen können.
Des weiteren steht die Abschaffung der paritätisch finanzierten Arbeitslosenversicherung im Raum. Diese soll wahrscheinlich zu einer steuerfinanzierten Mindestsicherung werden, finanziert über Massensteuern, wie der Mehrwertsteuer, statt über Betragszahlungen. Eine klare Verlagerung hin zu indirekten Steuern, um die Kapitalseite vom Arbeiteranteil zu befreien und die Gewinnmargen zu erhöhen.
Zusätzlich plant man weitere Steuersenkungen für Vermögensbesitzer. Die Steuerausfälle sollen durch den Abbau von Beschäftigung im öffentlichen Dienst kompensiert werden und staatliche Unternehmensbeteiligungen sollen veräußert werden.
Alle diese Punkte sind natürlich nur einzelne Punkte aus dem Maßnahmenkatalog Macrons. Zeigen aber klar die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik auf, die angestrebt wird. Dies lässt sich natürlich dadurch erklären, dass Vertreter des Unternehmerverbandes MEDEF und Lobbygruppen der Wirtschaft zahlreich der Regierung angehören. Noch viel zahlreicher aber, füllen sie in Zukunft die Bänke der Nationalversammlung. Noch niemals gehörten so viele Unternehmern und „Topkader“ aus der Privatwirtschaft dem Parlament an. Diese für die Macronbewegung LREM gewählten Figuren, die Großteils auch noch den gesellschaftlichen Eliten angehören, haben natürlich ein Eigeninteresse an einer wirtschaftsliberalen Politik.

Die Freiheitsliebe: Die Sozialistische Partei hat bei den Wahlen deutlich verloren und danach sind auch noch Abgeordnete ausgetreten, was sind die Ursachen dafür?

Sebastian Chwala: Der bekannteste Abgang, den die PS zu verzeichnen hatte, war Manuel Valls Premierminister zwischen Frühjahr 2014 und 2016 und als Regierungschef formal für die Ausrufung des Ausnahmezustands und die erste große Arbeitsmarktreform im Frühjahr 2016 verantwortlich, die wochenlange Streiks und Proteste zur Folge, verantwortlich, der sich kürzlich auch der LREM-Fraktion an. Er war in der Linken nie sonderlich populär.
Nichts desto trotz verfügt die PS noch über knapp 29 Abgeordnete, die aber allesamt ohne Gegenkandidaten von LREM in ihren Wahlkreisen antraten, also faktisch als Unterstützer_innen von Macron gelten können. Nur zwei eher linke macronkritische Abgeordnete wurden wiedergewählt. Der Präsidentschaftsbewerber der Partei Benoît Hamon, der eher auf dem linken Flügel der Partei zu verorten ist, hat sein Mandat verloren.
Das die PS von über 260 Abgeordneten auf unter 30 Mandatsträger abgestürzt ist, liegt natürlich daran, dass die Parlamentsfraktion die desaströse Regierungspolitik der Jahre 2012 bis 2017 in der Regel unkritisch mittrug. Hatte François Hollande einst im Wahlkampf 2012 einst damit gepunktet, dass sein „Gegner das Finanzkapital“ sei, tat sich seine Administration ganz besonders damit hervor, Gesetze zu Gunsten der ökonomischen Eliten zu verabschieden. Bestand dies erst darin, die versprochenen „75-Prozent-Steuer“ auf große Vermögen zu einer simplen Abschlagssteuer für Spitzenverdiener zu verwässern, folgte bald das CICE- Programm, welches Unternehmen Steuerkredite gewährte und so dem Staat Einnahmeverluste in Höhe von 40 bis 60 Milliarden bescherte. Die Aktionäre freuten sich aber über „Sonderausschüttungen“, die Frankreich zum Topstandort für Dividenden machten. Neue Beschäftigung, die als Gegenleistung für Steuerentlastungen geschaffen werden sollte, entstanden aber kaum. Das die überlebenden Sozialdemokraten in der Nationalversammlung Macron in ihrer Mehrheit weiterhin unterstützen mochten, scheint klar. Schließlich führt er die Politik von Hollande fort.

Die Freiheitsliebe: Was bedeutet die Entwicklung für die SP, kann sie sich ohne neoliberalen Flügel erneuern?

Sebastian Chwala: Der neoliberale Flügel ist leider nicht verschwunden. Viele Minister und Funktionäre, die dem rechten Flügel der Partei nahestanden sind zwar schon frühzeitig zu LREM übergelaufen, in der Hoffnung von ihrer Unterstützung des Kurses von Hollande doch noch profitieren zu können, doch ist der Einfluss der „Rechten“ in der Parlamentsfraktion noch groß. Man konnte sich nicht einmal darauf einigen. Der von Premierminister Phillipe geführten Regierung, welche freilich den Segen des Staatspräsidenten braucht, das Misstrauen auszusprechen. Eine Erneuerung wird umso mehr erschwert, als die Niederlage bei den Parlamentswahlen mit einem millionenschweren Verlust an Mitteln durch die staatlichen Parteienfinanzierung einhergeht, was den Abbau von Personal und Infrastruktur in der Fläche zur Folge haben wird. Die Sichtbarkeit der PS wird sich verringern und auch Neumitglieder, die sich eventuell auch Karrierechancen im Apparat versprechen, werden ausbleiben. Außerdem ist der Nimbus, die führende Kraft der Linken zu sein dahin. Stimmte man in den letzten drei Jahrzehnten in wachsendem Masse „nützlich“ zu Gunsten der Sozialdemokratie ab, hat sich gezeigt, dass ein Kandidat Jean-Luc Mélenchon von France Insoumise mehr Wählerstimmen auf sich vereinigen konnte, als ein „Sozialist“. Dies ist ein neuerlicher Epochenumbruch innerhalb des „Linken Lagers“ im weiteren Sinne.

Die Freiheitsliebe: Als größter Gewinner neben EM gilt Melenchon und seine Bewegung France Insoumise (FI), was hat zu ihrem Erfolg beigetragen?

Sebastian Chwala: Ganz klar, die Absage sich im bestehende Parteiensystem zu verorten. Sein Versuch nicht als „Linkskandidat“ wahrgenommen zu werden, zielte darauf, sich aus der babylonischen Gefangenschaft der radikalen Linken bei der Sozialdemokratie zu befreien. „Links“ und „Rechts“ wird in Frankreich nicht unbedingt mir programmatischen Inhalten verbunden, sondern den Organisationen, die beide Lager repräsentieren. Mélenchon gelang es in seinem Wahlkampf dennoch die Anhänger der gesamten Linken zu vereinen, indem er glaubwürdig den grundsätzlichen Konflikt, der die europäischen Gesellschaften durchzieht, thematisierte. Nämlich die Entkoppelung einer kleinen, reichen Minderheit, die durch ihre ökonomischen Möglichkeiten, Politik in ihren Sinne gestalten kann, z.B. durch die Arbeit von Lobbyisten oder anhand von Parteienspenden.
Mélenchons moralische Kritik, die darin bestand die Trennung von ökonomischer und politischer Sphäre zu fordern, da nicht nur durch wachsende Armut der Gleichheitsgedanken des republikanischen Systems in Frage gestellt werde, sondern auch durch die Abhängigkeit von der Allmacht des Geldes, die geistige Freiheit in Gefahr sei, fand große Zustimmung unter den Anhänger der Linken. Obwohl das Ergebnis der Parlamentswahl deutlich unterhalb der 20 Prozent-Marke blieb, sind die aus dem Stand heraus gewonnenen 18 Mandate ein Erfolg. Schließlich verfügt die „FI – Bewegung“, die ausdrücklich keine Partei sein möchte, über kaum „politische Infrastruktur“.

Die Freiheitsliebe: Wäre der Erfolg noch deutlicher ausgefallen, wenn Kommunisten und France Insoumise gemeinsam angetreten wären?

Sebastian Chwala: Kaum. Roger Martelli, Historiker und einstiges PCF-Mitglied, welches heute Mélenchon nahe steht, und durch seinen profunden Wahlauswertungen besticht, spricht von drei sicheren Mandaten, die nicht gewonnen wurden und zwölf weiteren Wahlkreisen, in denen der Einzug in die Stichwahl verpasst wurde.

Die Freiheitsliebe: Beide Seiten sehen sich als Verantwortliche für die Spaltung der Linken, wie beurteilst du die Situation?

Sebastian Chwala: Diese Spaltungslinie, die nach der erfolgreichen Präsidentschaftskampagne, wieder sichtbar wurde, beruht auf einer unterschiedlichen Interessenlagen der beiden Formationen. Währen der PCF sich mit der V. Republik abgefunden hat und versucht in Bündnissen mit der Sozialdemokratie gerade auf der lokalpolitischen Ebene einen letzten Rest politische Einfluss zu bewahren, plädiert FI für einen Bruch mit den Strukturen der bestehenden Republik und will eine 6. Republik schaffen, welche freilich die Gesellschaft durch eine größeren Spielraum für basisdemokratische Elemente in ihrer Gesamtheit besser repräsentieren soll.

Die Freiheitsliebe: Nun werden auch im Parlament zwei linke Fraktionen sitzen, was bedeutet das für die französische Linke, was für den Widerstand gegen neoliberale Reformen?

Sebastian Chawala: Schwer zu sagen. Man will eine Arbeitsgruppe bilden, in welcher ausgelotet werden soll, in wie weit eine Zusammenarbeit in Zukunft möglich sein könnte. Allerdings ist es einfach so, dass die kommunistische Partei nicht bereit ist, sich der geforderten „Fraktionsdisziplin“ von FI zu unterwerfen. In der Kommunistischen Partei wird sehr viel von „Identität“ und der Bewahrung einer Orientierung auf „die Arbeiterklasse“ gesprochen. Man unterstellt FI Personenkult und Sektierertum. Ein Vorwurf, den traditionsbewusste Kommunistische Parteien gerne gegenüber linken Bewegungen äußern, deren andere Sprache und Interessenlage argumentativ nicht in die eigene Analyse eingebaut werden kann. Gleichzeitig hat der PCF natürlich Angst, politisch überflüssig gemacht zu werden, wenn man sich zu intensiv auf diese neue Formation einlässt. Schon jetzt ist das Ungleichgewicht deutlich. FI holte am 11. Juni knapp 11 Prozent, während der PCF 2,7 Prozent holte. Nur durch die ausgeprägten territorialen Hochburgen des PCF, mit der Partei noch auf niedrigem Niveau ihre Nichtpräsenz an anderen Orten auffangen kann, konnte die aktuelle Situation entstehen, dass die PCF- geführte Fraktion mit 16 Mitgliedern nur über zwei Abgeordnete weniger verfügt, als jene von FI.
Die zwei Fraktionen bieten aber auch Chancen. In den sozialen Auseinandersetzungen, die hoffentlich kommen werden, werden FI und PCF „Seit` an Seit`“ agieren, da man hier im Einklang mit den Gewerkschaften agiert. Schwieriger wird es aber in Fragen der Ökologie. Hier hängt der PCF nach wie vor einer sehr klassisch fordistischen Logik an, wenn man den Bau von Straßen, Flughäfen, und die Beibehaltung der Atomindustrie völlig unkritisch verteidigt. FI dagegen will ökologische Akzente setzten, durch den Ausbau der Windenergie, nachhaltiger landwirtschaftlicher Produktion,usw. Auch ist die FI- Fraktion jünger,weiblicher und fast paritätisch zusammengesetzt, was beim PCF bei weitem nicht der Fall ist. Ich könnte mir deshalb vorstellen, dass auf dem gesellschaftspolitischen Feld eine größere Offenheit bei FI herrschen könnte, mag das aber nicht abschließend beurteilen.

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