Dass inhaltliche Klärung immer auch ein bisschen personelle Klärung ist, zeigte sich in der vergangenen Woche in der Linkspartei. Wenige Tage nach dem Parteitag in Halle hatten führende Vertreter des Reformerflügels ihren Austritt aus der Linken verkündet.
Unter ihnen die ehemaligen Senatoren von Berlin, Klaus Lederer, Elke Breitenbach und Sebastian Scheel, der frühere Berliner Fraktionschef Carsten Schatz sowie der haushaltspolitische Sprecher der Fraktion im Abgeordnetenhaus, Sebastian Schlüsselburg. Zuvor hatten bereits Udo Wolf und Henriette Quade die Partei verlassen. Bei den genannten Ex-Genossen handelt es sich um langjährige Parlamentarier. Ihren Schritt als bloßen Streit in der Linkspartei abzutun, würde zu kurz greifen. Er muss vielmehr im Kontext sich zuspitzender gesellschaftlicher Entwicklungen betrachtet werden.
Erhobene Forderungen in den Austrittsschreiben
In den Austrittserklärungen wird vor allem eine Umzufriedenheit mit den außenpolitischen Positionen der Linken geäußert. Die Partei pflege einen „unterkomplexen Friedensbegriff“, heißt es beispielsweise bei Sebastian Schlüsselburg. Er begründet mit diesem Vorwurf seine positive Haltung zu Waffenlieferungen, denn ein „Stopp von Waffen- und Munitionslieferungen an die Ukraine“ würde „das Land und seine Bevölkerung dem Aggressor ausliefern“. Eine Position, die nicht Parteiposition ist. Dominierend ist zudem der Vorwurf, Die Linke habe keine konsequente Position gegen Antisemitismus. So schreibt Henriette Quade in ihrem Austrittsschreiben: Die Linke müsse „dem unerträglichen Antisemitismus in den eigenen Reihen mit Klarheit begegnen, mit Gegenwehr. Dazu muss sie das Schweigen der Vorstände und Parteistrukturen brechen, das Wegschauen, das Versagen im Kampf gegen Judenhass im eigenen Laden“.
Mitglieder zu verlieren, insbesondere nach einer langen Parteizugehörigkeit, ist immer auch eine kleine parteipolitische Niederlage. Wer aber genau hinschaut, dem dürfte auffallen, dass die Beschlusslage der Partei eine Kritik, wie sie von den ehemaligen Genossen vorgetragen wird, nicht im entferntesten hergibt. Die Linke wäre daher gut beraten, sie klar zurückzuweisen, denn die Partei ist keine antisemitische Partei. Den eigenen Genossen eine Täter-Opfer-Umkehr zu unterstellen, weil sie ein Ende der furchtbaren Bombardierungen auf Gaza und den Libanon fordern, wie Udo Wolf es in seinem Austrittsschreiben getan hat, wirft viele Fragen nach Wahrnehmungen und Gründen auf. Dass gilt umso mehr, wenn man weiß, dass es ausgerechnet Ferat Kocak war – in den letzten Jahren immer wieder Opfer faschistischer Anschläge auf sich und seine Familie – der den Kompromiss zum Nahostkonflikt mitausgehandelt hatte, während Lederer, Breitenbach und Nord dieser Verhandlungsgruppe bewusst ferngeblieben waren.
Der Beschluss ist als Kompromiss ein Zugeständnis an beide Seiten. Aber dennoch: Er macht die Partei in der Friedensfrage handlungsfähig. Er nimmt eine Positionsbestimmung vor und fordert eine Deeskalation und Frieden im Nahen Osten auf der Grundlage einer Zwei-Staaten-Lösung. Nicht nur der Vorwurf, es gebe Judenhass in den eigenen Reihen, auch die Behauptung, Vorstände und Parteistrukturen würden wegschauen, werden weder durch diese Beschlusslage noch durch den Verhandlungsprozess bestätigt. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall.
Keine parteiliche Auflösungserscheinung
Der Austritt der Genossen ist bei weitem keine parteiliche Auflösungserscheinung, wie manche Medienblätter bereits unkten. Er kann vielmehr eine echte Chance zur Erneuerung der Linken sein. Denn mit Lederer, Breitenbach und Co geht ein Teil der Partei, der in den Parteistreitigkeiten der letzten Jahre durch eine Vorliebe zur Polarisierung, eine ausgeprägte Unwilligkeit zum Kompromiss und beste Kontakte zur bürgerlichen Presse auffiel. Fast ein bisschen selbst entlarvend ist es, wenn es in der Austrittserklärung nun heißt, es sei immer weniger möglich gewesen, „uns in unserem Landesverband für unsere inhaltlichen Positionen und unsere strategischen Orientierungen einzusetzen“. Selbstentlarvend deshalb, weil das Eintreten für die eigenen Positionen nicht bedeutet, sie machtpolitisch durchzusetzen, sondern um ihre Mehrheitsfähigkeit zu ringen und für ihre Überzeugungs- und Strahlkraft zu streiten.
Das Agieren von Lederer und Breitenbach auf dem Berliner Landesparteitag vor gut zwei Wochen hatte hingegen deutlich gezeigt: Der Suche nach Kompromissen zugunsten gemeinsamer Interventionen in der Friedensbewegung stand einem Durchsetzungswunsch von Maximalforderungen gegenüber. Die Delegierten hatten sich dazu bereiterklärt, den Antrag von Lederer und anderen „Gegen jeden linken Antisemitismus“ nicht als Provokation zu betrachten, sondern ihn mit Änderungsanträgen und demokratischen Mehrheitsentscheidungen zu objektivieren. Als die Abstimmungen zuungunsten der Antragsteller ausgingen, verließen diese mit ausgestreckten Mittelfingern und wüsten Beschimpfungen den Parteitag.
Der autoritäre Reflex
Politik ist ein widersprüchliches Kräfteverhältnis. Mal gewinnt man, mal verliert man den inhaltlichen Streit. Das gilt ganz besonders in einer pluralen Partei. Von Wert ist Pluralismus nur dann, wenn es gelingt, diese unterschiedlichen Positionen miteinander zu diskutieren, gegeneinander abzuwägen und daraus eine gemeinsame politische Linie zu entwickeln, die die Partei in ihrer Gesamtheit handlungsfähig macht. Gelingt es nicht, diesen Prozess zu organisieren, wird Pluralität eher zum Klotz am Bein.
Ungeachtet dessen wie man zur heutigen BSW-Entwicklung steht, hatte sich bereits in der Auseinandersetzung mit dem Parteimitglied Sahra Wagenknecht ein autoritärer und personalisierter Umgang gezeigt. Der inhaltliche Streit wich abfälligen Etikettierungen. Von „Wagenknechten“ und „Porsche-Klaus“ war nicht einmal mehr hinter vorgehaltener Hand die Rede. Hinter den Stigmatisierungen verbarg sich zudem die programmatische Maximalforderung, die „friedliche Koexistenz mit dem Linkskonservatismus in der Partei“ aufzukündigen. So jedenfalls stand es in der im Frühjahr 2022 auf Anregung von Thomas Nord und Elke Breitenbach gegründeten Initiative Solidarische Linke.
Ein ähnliches Vorgehen konnte nun auch beim Thema Ukraine und Nahost beobachtet werden. Die Unfähigkeit zum Verständigungsprozess mündete in der Beschimpfung der eigenen Genossen als „Moskaus fünfte Kolonne“ oder „Antisemiten“. Zu einem derartigen „Alles oder nichts“-Verständnis passt es im übrigen auch, dass Sebastian Schlüsselburg in seiner Austrittserklärung Unvereinbarkeitsbeschlüsse mit „Palästina spricht“, „Sozialismus von unten“ oder „Marx 21“ fordert.
Der autoritäre Reflex in der Partei ist vor allem Ergebnis des strategischen Vakuums in der Folge von unterlassenen Klärungsprozessen. Lederer, Breitenbach und Co kritisieren diese Leerstelle völlig zu recht. Allerdings sind strategische Klärungsprozesse Folge von konstruktiv geführten Diskussionen auf Augenhöhe und weniger eine allein machtpolitisch durchgesetzte Positionsbestimmung. In der aktuellen komplexen Krisensituation braucht es reale politische Lageeinschätzungen und eine Diskussion darüber, wie die Partei darauf reagieren sollte. Formelkompromisse, die den Status Quo des bisherigen mutlosen Schweigens etwa in der Friedensfrage erhalten, lähmen die Partei. Stattdessen braucht es Kompromisse, die zu einer tatsächlichen Annäherung unterschiedlicher Einschätzungen führen und ein gemeinsames Intervenieren in die gesellschaftlichen Widersprüche möglich machen.
Ukrainekrieg rüttelt an linken Gewissheiten
Es wäre falsch, diese Unfähigkeit zur Kompromisssuche zu personalisieren und auf charakterliche Schwächen einzelner zurückzuführen. Sie sind vielmehr Ausdruck einer tiefen gesellschaftlichen Krisensituation, die mit großer Kraft an den politischen Gewissheiten der Partei rüttelt. Klassenverankerung gibt linken Parteien Halt, wenn die gesellschaftlichen Krisen-, Kriegs- und Katastrophenstürme über sie hinwegfegen. Und sie gibt ihnen die Möglichkeit, den Klassenkompass in diese unübersichtlichen Krisenentwicklungen zu halten, um sich zu vergewissern, welche Richtung die richtige ist.
Wenn der herrschende Diskurs Waffenlieferungen an die Ukraine mit dem Selbstverteidigungsrecht begründet und dabei auf den Kampf gegen den deutschen Faschismus verweist – um Hitler niederzuringen brauchte es die militärische Kraft der Alliierten -, dann schützt diese Klassenverankerung linke Parteien vor der Übernahme bürgerlicher Positionen. Denn mit dem Rückblick auf die eigene Geschichte kann Die Linke darauf verweisen, dass der Erste Weltkrieg nicht durch militärische Gewalt beendet werden musste, sondern durch die Verweigerung derselben endete. Es waren die 750.000 Arbeiterinnen in den Berliner Munitionsfabriken, die 1918 aus Protest gegen den Krieg ihre Arbeit niederlegten, während ihre Männer in den Schützengräben froren, hungerten und starben. Es waren die Kieler Matrosen, die ihre Gewehre umdrehten und sich weigerten, dieses sinnlose Treiben fortzusetzen und damit ein rätedemokratisches Lauffeuer unter Arbeiter und Soldaten entfachten. 1945 waren diese proletarischen Wurzeln der Friedensbewegung gekappt, weil die faschistischen Regime überall in Europa die Organisationen der Arbeiterbewegung zerschlagen hatten. Die Zustimmung der Arbeiterbewegung zum Krieg war durch die Zerstörung der großen Klassenorganisationen erzwungen worden.
Das Beispiel zeigt: Die Linke muss sich auf die Seite der arbeitenden Klassen stellen. Den Menschen in der Ukraine, die nun schon den dritten Kriegswinter durchstehen müssen oder den 12.000 ukrainischen Deserteuren, die man gegen ihren Willen an die Front prügelte, wäre mehr geholfen, wenn die diplomatische Initiativen gestärkt und die zerstörten Städte wieder aufgebaut werden würden, als das Sterben mit immer weiteren Waffenlieferungen immer weiter zu verlängern.
Der Begriff „Staatsräson“ verstärkt den autoritären Diskurs
Mit dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober wurde die Analysefähigkeit der Partei ein weiteres Mal herausgefordert. Wieder rüttelte das Weltgeschehen an linken Gewissheiten. Auch dieser Angriff, so furchtbar und verurteilenswert er ist, hat eine Vorgeschichte. Und der Hinweis darauf ist keine Relativierung des Massakers. Die Strategie der Bundesregierung, die Solidarität mit der ultrarechten Netanyahu-Regierung aus einer deutschen Staatsräson herzuleiten, blendet diese Vorgeschichte und die Widersprüche aus und soll die Zustimmung zu ihrer Politik alternativlos machen. Dabei erleben wir tagtäglich, dass sie nur schwer mit Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht in Einklang zu bringen ist. Linke Juristen sind sich einig: Der Begriff der Staatsräson ist kein juristischer Begriff, sondern eine rhetorische Floskel, die der Einschränkung des politischen Diskurses dient. Dass das Bildungsministerium mittels politischer Listen Hochschullehrer diszipliniert, zeigt zudem, wohin die Staatsräson in der Realität führt.
Aufgabe linker Parteien sollte es sein, diesen perfiden Versuch, die Meinungsfreiheit im Interesse einer „Quasi-Staatsmeinung“ einzuhegen, scharf zu kritisieren. Die Unterstellung, es gebe antisemitische Positionen in der eigenen Partei hingegen, führt zu einer Übernahme des herrschenden Diskurses. Dies etabliert einen autoritären Umgang in der Partei und verfestigt die Fronten in der notwendigen innerparteilichen Strategiedebatte.
Die neuen Mehrheitsverhältnisse im Berliner Landesverband und die Weigerung von Lederer, Breitenbach und Co auf dem Parteitag in Halle einen Kompromiss zu verhandeln, der die Partei mit all ihren Widersprüchen zu einem handlungsfähigen Akteur in der Friedensbewegung macht, zeigen, wie isoliert die Gruppe am Ende war. Ursache dieser Isolation war eine sich verändernde gesellschaftliche Stimmungslage angesichts der furchtbaren Bilder in Gaza. Dass die Kriegsparteien ihre Kriegshandlungen nicht einmal einstellen, damit die palästinensischen Kinder gegen Polio geimpft werden können, wirft ein Schlaglicht auf die ganze menschenverachtende Grausamkeit dieses Krieges. Umfragen zeigen: Auch in Deutschland sind mehr und mehr Menschen mit der Fortführung des Krieges und mit der Positionierung der Bundesregierung nicht einverstanden. Wer die sich verändernden Stimmungen nicht zum Anlass nimmt, die eigenen Positionen zu hinterfragen, riskiert am Ende politisch isoliert dazustehen.
Trotz alledem: Die Linke hat sich auf den Weg gemacht
Dass Lederer, Breitenbach und Co Die Linke aber nun ausgerechnet in einem Moment verlassen, indem die Chance auf eine Neuaufstellung der Partei da ist, unterstreicht ihre Unfähigkeit zum Kompromiss. Denn anders als von den Ex-Genossen suggeriert, war der Bundesparteitag ein großer Erfolg. Er hatte gezeigt: Die Partei kann trotz grundverschiedener Einschätzungen um gemeinsame Positionen ringen. Gleichzeitig ist ihr eine personelle Neuaufstellung gelungen, die Partei in die Lage versetzt, aus der bleiernden Selbstbeschäftigung der letzten Jahre auszubrechen. Mit Ines Schwerdtner und Jan van Aken ist frischer Wind ins Karl-Liebknecht-Haus eingezogen. Der Parteivorstand ist pluraler aufgestellt als bisher und hat damit eine echte Chance, zum strategischen Zentrum der Partei zu werden – einem Ort, an dem die unterschiedlichen Positionen und Einschätzungen einen Platz haben, diskutiert und gegeneinander abgewogen werden können und am Ende in eine gemeinsame Handlungsfähigkeit münden.
Gleichzeitig steigen die Mitgliederzahlen weiter. Die wachsende Zahl von Parteieintritten gegen den gesellschaftlichen Trend ist ein bisschen auch eine linke Trotzreaktion. Sie sollte uns Hoffnung geben, denn sie zeigt: Die Linke wird noch immer als Gegenpol zum politischen Mainstream gesehen. In Brandenburg meldete der Landesgeschäftsführer, die Mitgliederentwicklung sei trotz der Abspaltung vom BSW erstmals seit vielen Jahren stabil. Eine Entwicklung, die weit über die Landesgrenzen von Brandenburg hinaus zu beobachten ist. Die steigenden Mitgliederzahlen machen es um so wichtiger, dass Die Linke eine Diskussionskultur entwickelt, die ihrer Pluralität gerecht wird. Der Parteitag in Halle hat dafür den Grundstein gelegt. Der Austritt von Lederer, Breitenbach und Co sind bei Lichte betrachtet also konsequent und irgendwie auch folgerichtig.