Der in Gaza lebende Fotojournalist Mohammed Salem wurde mit dem World Press Photo Award des Jahres 2024 ausgezeichnet. Das Foto zeigt die unbeschreibliche Trauer des Krieges. In einer Leichenhalle des Nasser-Krankenhauses in Khan Younis umarmt die 36-jährige Inas Abu Maamar den Körper ihrer toten fünfjährigen Nichte Saly, der mit einem Leichentuch eingewickelt zu sehen ist.
Das Mädchen wurde mit vier Familienmitgliedern durch einen israelischen Luftangriff am 17. Oktober getötet. Deutsche Medien haben überwiegend wertfrei von der Auszeichnung berichtet. So beschreibt beispielsweise „die Tagesschau“ in ihrem Beitrag das Bild selbst, und gibt den Kontext zu den abgebildeten Personen und dem Fotografen wieder. Eine Beschreibung der Wettbewerbsjury zum Foto, die von einem „Einblick in unermessliches Leid“ sprach ist ebenso zu lesen. Sowohl die „Tagesschau“, „der Spiegel“, wie auch „Zeit Online“ geben die Ursache des Todes der fünfjährigen Saly, also den besagten israelischen Luftangriff, an. Die „Frankfurter Allgemeine“ hingegen schreibt lediglich, dass die Fünfjährige durch einen Luftschlag „starb“ und sieht davon ab den Verursacher des Angriffs anzuführen.
Die Echtheit des Fotos wird jedoch in der Regel nicht angezweifelt. Ganz anders verhält sich dies bei einem Ende April erschienen Meinungsartikel des Journalisten Thomas Schmid, der in der Zeitung „die Welt“ veröffentlicht wurde und die Überschrift „Etwas stimmt nicht bei diesem prämierten World-Press-Foto“ trägt. Für Schmid ist die Auszeichnung des Fotos ein Eklat. Er beteuert, dass kein Foto vom Hamas-Angriff des 07. Oktobers prämiert wurde, in dem über tausend Israelis und Israelinnen getötet wurden. „Diese Leerstelle“, so schreibt er, „ist ein Skandal“. Die Entscheidung der Jury kann man grundsätzlich natürlich kritisieren und man kann die Ästhetisierung von Leid im Rahmen solcher Wettbewerbe allgemein auch in Frage stellen. Liest man Schmids Text weiter, wird jedoch deutlich, dass es ihm gar nicht um die Opfer des Hamas-Angriffs geht, sondern vielmehr ist für ihn das eigentlich Skandalöse, dass das ausgezeichnete Foto Salems Empathie mit palästinensischen Opfern auslöst. Schmid zweifelt an der Echtheit des Fotos und schreibt, dass es sich hierbei um eine inszenierte Aufnahme handele, die „zu perfekt“ sei, um wahr zu sein. Man fragt sich beim Lesen des Textes, welchen Sinn es hätte dieses Foto zu inszenieren. Es gibt Tausende weitere Bilder, die tote und hungernde Kinder in Gaza zeigen. Wieso sollte sich der Fotograf unter diesen Umständen die Mühe machen, ein Foto zu fälschen. Schmid suggeriert, indem er die Echtheit des Bildes in Frage stellt, dass auch das Leid von PalästinenserInnen nicht echt sein kann bzw. nicht echt sein darf.
In diesem menschenverachtenden Meinungsartikel Schmids stellt er seine eigene Bildinterpretation als die Wahrheit schlechthin dar, denn seine Annahme, dass das Bild nicht echt sein könne, wird nicht mit Beweisen untermauert. Sein abwertender Kommentar zum Foto, das er unter anderem als „Kitsch“ betitelt, gründet einzig und allein auf Mutmaßungen. Dies sagt vielmehr über das Menschenbild des „Welt“-Journalisten aus als über das Foto selbst. Entlarvend ist hierbei vor allem sein Wording, wenn er etwa den Leichnamen des Mädchens als „längliches Etwas“ bezeichnet. Es wird deutlich, dass er PalästinenserInnen nicht als Menschen betrachtet, die Trauer und Leid erfahren, sondern als Objekte ohne Gefühle.
An einer anderen Stelle schreibt er: „Das Foto des Jahres heischt eindeutig Mitgefühl für die palästinensische Sache.“ Dies ist Schmids eigentliches Problem. Mitgefühl für PalästinenserInnen zu zeigen ist für ihn falsch, denn PalästinenserInnen verdienen seiner Meinung nach kein Mitgefühl. Allein ihre Perspektive einzunehmen sei ein Fehler. Aber das ist nicht alles. Schmid relativiert in seinem Text auch den Holocaust, indem er behauptet, dass man beim Holocaust (im Gegensatz zum Anschlag der Hamas) bemüht gewesen sei das Morden vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Es gibt eine Masse an Fotos, die zeigt, wie die Nazis ihre Opfer zur Schau stellten und vor ihnen posierten. Auch diese Behauptung ist demzufolge eine Fiktion und weit entfernt von Tatsachen, was nochmals unterstreicht, dass es Schmid auch nicht um jüdische bzw. israelische Opfer geht. Zwar handelt es sich bei dem Welt-Artikel um einen Meinungsartikel, doch dürfte man doch annehmen, dass ein Journalist seine Meinung durch Recherchen bildet. Hier ist jedoch das Gegenteil der Fall. Die Meinung ersetzt die Recherche. Eine kurze Google-Bilder-Suche hätte nämlich ausgereicht, um festzustellen, dass die Nazis ihre Verbrechen keineswegs versuchten zu verschleiern. Die Spitze des Eisbergs an Entmenschlichung ist jedoch der letzte Absatz seines Textes, wo er das ausgezeichnete Foto nochmals moralisch zu bewerten versucht:
„Es [d.h. das Foto] gibt Intimität vor, zeigt aber keine Menschen. Sondern zwei stoffumhüllte, fast puppenhafte Gestalten. Jede Individualität fehlt ihnen. Sie stehen, dem Anschein zum Trotz, nicht für sich. Sie werden vielmehr in den Dienst einer parteiischen Aussage genommen. Sie sind nur noch abstraktes Symbol. Mit Humanismus hat das ja wohl nichts zu tun.“
Nun möge man sich vorstellen, man hätte die Opfer des Hamas-Angriffs auf eine ähnlich entmenschlichende Weise beschrieben oder sie als „puppenhafte Gestalten“ betitelt, denen Individualität fehle. Schnell kommt man zu dem Schluss, dass Schmids Kommentar weit entfernt ist von einem Humanismus, dessen Abwesenheit er zu bedauern behauptet. Vielmehr handelt es sich hierbei um einen Text, der zu moralisieren versucht, dem gleichzeitig jedoch jegliche Moral fehlt, da er PalästinenserInnen entmenschlichen will.
Einen ähnlich entmenschlichenden Artikel verfasste Ingo Way, Chef vom Dienst bei Cicero Online, der schon zuvor auf der Plattform X (ehemals Twitter) zum Foto Salems schrieb: „Die Opfer vom 7. Oktober haben eben nicht so fotogen posiert.“ Er unterstellt dem Fotografen eine „höchst manipulative Absicht“. Auch Way hat ein Problem mit dem palästinensischen Narrativ, wie er in seinem Artikel zum Ausdruck bringt. Dabei dürfte man doch erwarten, dass es die Aufgabe von Journalisten ist, möglichst vielfältige Perspektiven heranzuziehen, israelische wie auch palästinensische, um diese kritisch zu hinterfragen. Stattdessen werden palästinensische Perspektiven kategorisch als unwahr abgestempelt, während Belege für diese Unterstellungen ausbleiben. Mit Journalismus hat das nichts zu tun.
Profit auf Kosten von palästinensischem Leid
Doch nicht nur „Die Welt“ verschweigt den Tod von PalästinenserInnen und leugnet palästinensisches Leid, sondern auch die „Bild“-Zeitung, wobei beide der Axel Springer SE angehören. Das Schweigen der „Bild“ hat Stefan Niggemeier von „Übermedien“ bereits im Dezember 2023 ausführlich nachgezeichnet. So schreibt er:
„Dass es überhaupt Tausende Todesopfer im Gaza-Streifen gibt, dass es riesiges Leid und Elend unter palästinensischen Zivilisten gab, war kein größeres Thema in „Bild“. Sie tauchen überhaupt zum ersten Mal im Zusammenhang mit der Frage auf, ob man mit ihnen oder ihren Angehörigen mitfühlen darf.“
Auch Monate nach der Veröffentlichung Niggemeiers Analyse hat sich hierzu nicht viel bei der „Bild“-Berichterstattung geändert. Es lässt sich dort auch nichts über die Dutzenden getöteten palästinensischen JournalistInnen und Medienschaffenden im Zuge des Krieges in Gaza finden.
Die Leerstellen der Zeitungsberichte und die Dehumanisierung von PalästinenserInnen passen hervorragend in die profitorientierten Interessen des Axel Springer Medienkonzerns. Eine Reportage des deutschen Journalisten Hanno Hauenstein auf der US-Nachrichtenseite „The Intercept“ zeigt wie der Springer-Konzern Geld an illegalen israelischen Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten verdient. So führt Hauenstein aus, dass die israelische Kleinanzeigen-Webseite „Yad2“ ebenfalls dem Konzern gehöre:
„Springer’s Israeli classified ads website Yad2 — the largest Craigslist-like classifieds site in the country — publishes real estate listings across Israel, including rental apartments and sales in Israeli settlements that are considered illegal under international law.“
Im selben “Intercept”-Artikel führt Hauenstein aus, dass Yad2 im Dezember mit einer Anzeige in einer israelischen Wirtschaftszeitung warb, die eine Karte Israels samt den palästinensischen Gebieten zeigt. Es sind zudem auf der Karte keine Grenzen zu sehen, die die palästinensischen Gebiete kenntlich machen würden. Neben der abgebildeten Landkarte ist auch der Schriftzug „From the river to the sea“ zu sehen. Suggeriert wird damit ein israelischer Staat, der vom Fluss bis zum Meer reicht. Im Februar betitelte die „Bild“ in einem Artikel zugleich den Spruch „Free Palestine – From the River to the Sea“ als „Anti-Israel-Spruch“ der dazu aufrufe Israel auszulöschen. Ähnlich wie im „Welt“-Artikel Schmids maßt sich das Blatt an mit dem moralischen Zeigefinger auf andere zu zeigen, während der Axel-Springer Konzern Geld auf Kosten des Leides von PalästinenserInnen macht.
Ein Beitrag von Elias Feroz
Eine Antwort
Die Entmenschlichung ist der Nährboden, auf dem faschistische Gesinnungen jeglicher Spielart gedeihen. Und diese Entmenschlichung ist längst Teil des politischen Mainstream. Es braucht da kein A******** vom Schlage Schmid in Bezug auf Gaza-Palästina. Mit der Debatte über Migration und Asyl ist die Mitte, inkl. Grüne und SPD, im Kerngebiet faschistischer Gesinnung angekommen.